"Luise Rinser hat gelogen"

José Sánches de Murillo im Gespräch mit Joachim Scholl |
Der Philosoph und Theologe José Sánchez de Murillo lernte die Bestsellerautorin Luise Rinser 1994 kennen und erlebte sie als Frau, "die in einer Weise verdrängen konnte, dass sie am Ende selber glaubte, was sie sagte".
Joachim Scholl: José Sánchez de Murillo ist Jahrgang 1943 geboren, im spanischen Ronda. Der Philosoph und Psychologe ist aber auch ein ordentlicher deutscher Professor, er hat sich in Augsburg habilitiert, an vielen Universitäten gelehrt, auch in München, wo die Schriftstellerin Luise Rinser lange Zeit lebte. José Sánches de Murillo hat die Dichterin kennengelernt, wurde in ihren letzten Lebensjahren ein enger Freund, jetzt erscheint seine Biografie über Luise Rinser. José Sánches de Murillo ist uns jetzt aus Malaga zugeschaltet, guten Tag, Herr Murillo!

José Sánchez de Murillo: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Es war 1995, als Sie Luise Rinser erstmals trafen, sie war damals schon 84 Jahre alt. Was für einer Frau sind Sie begegnet?

Sánchez de Murillo: Ich habe eine sehr niedergeschlagene Frau getroffen, weil ihr Sohn gerade gestorben war, Stephan … Und sie war auf der anderen Seite sehr vital, über 80 zwar, aber dann hat sie sich immer mehr wie ein junges Mädchen eigentlich, also war sehr lebendig. Beide Seiten habe ich sofort bei ihr miterlebt. Eine ganz große Lebenskraft in dem Augenblick, aber eher eine depressive Person.

Scholl: Luise Rinser war damals eine der bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen, Herr Murillo, Bestsellerautorin, ungeheuer populär auch. Zugleich wusste man damals schon von etlichen Ungereimtheiten in ihrer Biografie, von ihrer Verstrickung im Nationalsozialismus, Tatsachen, die die Dichterin selbst vehement bestritt. Konnten, haben Sie mit ihr darüber gesprochen?

Sánchez de Murillo: Nein. Ich habe mit Luise Rinser über alles gesprochen, mehr inhaltlich, sehr viel über Philosophie, über Theologie, über ihr Leben mit ihren Männern, mit Rahner, mit Orff, dann auch über ihre Probleme mit Stephan, der ja kein eheliches Kind war. Das wusste man auch nicht, das hat sie mir anvertraut. Über ihre Vergangenheit in der Nazizeit hat sie mir nie etwas gesagt.

Scholl: Jetzt in Ihrer Biografie, Herr Murillo, nennen Sie die Dinge unverblümt beim Namen. Also Sie schildern, welche glühende Nazi-Anhängerin die junge Luise Rinser war, welche wichtige Funktion sie im BDM, dem Bund Deutscher Mädchen, ausfüllte. Sie selbst hat sich aber vor allem in ihren autobiografischen Schriften dagegen so als heimliche Renegatin, gar als Widerstandskämpferin dargestellt. Waren Sie nicht auch schockiert, als Sie, ja der ihr Freund war, diese Wahrheiten recherchierten?

Sánchez de Murillo: Ja, sehr. Was sie in ihrer sogenannten Autobiografie schreibt und beschreibt, also in "Den Wolf umarmen", ist historisch unwahr. Ich möchte … Ich habe es geschrieben und gezeigt an gewissen Stellen konkret: Sie hat viele Dinge einfach umgedreht. Also ich habe die Fakten offengelegt, so wie es war, wie Sie gesagt haben, hat sie eine sehr wichtige Rolle in der Nazi-Zeit gespielt.

Sie war nicht nur … Sie war nie aber Nationalsozialistin in dem Sinne, dass sie niemals Parteimitglied war, sie war später aber auch nicht sozial … SPD-Mitglied war sie auch nicht. Also sie war nie offiziell Mitglied. Aber sie hat nicht nur mitgemacht, sondern – das war ihre Natur – mit Begeisterung die ganze neue Bewegung aufgenommen. Dafür muss man aber auch heute Verständnis aufbringen. Es war sehr eng in Deutschland, da kam diese neue Bewegung und die Menschen haben geglaubt, es tut sich etwas Neues.

Scholl: Sie sprechen im Nachwort Ihres Buches von der Rinserschen Tragödie. Was wäre das für eine Tragödie, Herr Murillo, so die alte deutsche Tragödie des Verschweigens und Schönredens nach 1945?

Sánchez de Murillo: Ich möchte vielleicht drei Dimensionen ganz kurz unterscheiden. Erstens: Den Ausdruck Rinsersche Tragödie beziehe ich eher auf den Fall Stephan. Luise Rinser hat nie den Mut gehabt, die Kraft auch nie gehabt, auch ihrem Sohn Christoph zu gestehen, dass Stephan nur Halbbruder war. Das war für sie das Schlimmste in ihrem Leben. Sie ist mit diesem Problem nie fertig geworden. Das können wir heute kaum verstehen, weil das ist eigentlich keine so ungewöhnliche Sache. Das ist die eine Sache, die persönliche.

Die zweite Dimension wäre die politische: Die Rinsersche Tragödie besteht darin, niemals den Mut aufgebracht zu haben zu gestehen, zu ihrer Vergangenheit zu stehen. Und die dritte Dimension wäre, dass die deutsche Öffentlichkeit, wie ich meine, auch mit solchen Phänomenen nicht so richtig fertig wird.

Scholl: Bleiben wir mal bei der zweiten Dimension, Herr Murillo, welche Erklärung haben sie denn für das Verhalten von Luise Rinser, warum konnte sie nie dazu stehen oder sich dazu bekennen und darüber sprechen?

Sánchez de Murillo: Auch da zwei Seiten: Die eine persönliche, das war ihre Natur, Ehrgeiz. Also sie wollte, sie musste immer die Beste sein. Darum habe ich großen Wert ihrer Kindheit beigemessen, ich habe da beschrieben, wie ihr Zuhause war, ihr Vater, ihre Mutter. Sie musste immer die Beste sein. Also konnte sie später, nach dem Krieg, nicht zugeben, dass sie sich geirrt hatte.

Das ist die eine Seite, die zweite Dimension hat mit der Öffentlichkeit zu tun: Sie wurde in eine solche Rolle hineingezwungen, ich spreche von der Öffentlichkeit, von uns allen, sie musste die Beste sein, sie war ein Vorbild so wie Jeanne d’Arc in Frankreich, und sie konnte nicht mehr zurück. Sie konnte, sie hatte Angst vor der Öffentlichkeit, dass das geschieht, was gerade geschieht! Wenn sie heute leben würde, stellen Sie sich vor, wie sie das … Sie wäre dem nicht gewachsen.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit José Sánchez de Murillo, der Philosoph und Theologe hat eine Biografie über Luise Rinser geschrieben. Das wohl bekannteste und auch erfolgreichste und jetzt eben auch hoch umstrittene Buch von Luise Rinser ist die Autobiografie "Den Wolf umarmen", Sie haben den Titel vorhin schon erwähnt, Herr Murillo. In diesem Buch schreibt Luise Rinser eben über ihre Jugend und die Nazi-Zeit und verdreht eben vielfach die Tatsachen. Sie, Herr Murillo, sagen aber nun, man habe dieses Buch auch immer falsch gelesen, man müsse es eher als epische Selbstbeschreibung sehen, das heißt, auch als Literatur. Das sieht ja wie ein Rettungsversuch aus, oder nicht?

Sánchez de Murillo: Ja. Also ich verstehe heute immer noch nicht, wieso man ein solches Buch historisch nennt. Das stimmt doch alles nicht, und manchmal ist es offensichtlich. Also von ihrer Seite, das habe ich schon gesagt, war das Ehrgeiz. Also sie hat sich geschämt, sie hat nicht die Kraft gehabt, zu ihrer Vergangenheit zu stehen. Aber die andere Seite ist, sie hat gespürt oder sie ist gezwungen in die Rolle der deutschen Heldin, die die ganze Nation rettet. Darum habe ich da von Epos gesprochen. Ich glaube, das hat bei ihr eine Rolle mitgespielt, dass sie irgendwie aus Liebe zu ihrem Volk so eine Sage erfunden hat.

Ob wir heute das so einschätzen, das ist noch zu nah alles. Vielleicht wird man in 100 Jahren dankbar sein, dass sie so was gemacht hat. Das ist ein Versuch, sich selbst und uns alle zu retten, würde ich sagen. Also die Würde des Menschen. Es waren nicht alle so schlimm, ist auf einen Satz reduziert, der ganze Inhalt des Buches ist: Wir waren nicht alle Nazis, nicht alle so schlimm.

Scholl: Aber Herr Murillo, bleiben wir noch mal bei dem Genre: Ich meine, es ist als Autobiografie herausgegeben, es ist kein Roman, es ist auch keine Beschreibung in irgendeiner Weise, wo das Dichterische im Vordergrund stehen sollte. Wenn ein Dichter seine Autobiografie veröffentlicht, dann erwarten wir, dass er sagt, wie es war in seinem Leben. Und jetzt sind es offensichtliche Lügen. Das kann man doch schlecht mit dichterischer Imagination relativieren und erklären, oder?

Sánchez de Murillo: Ja, wenn Sie sie gekannt hätten, würden Sie es verstehen. Es war ihre Art – und ich meine, das ist auch ein Phänomen, das wir auch bei anderen Menschen kennen –, es kommt eine Dimension oder ein Punkt im Leben oder bei gewissen Arbeiten, wo man dann die Wirklichkeit und die Fantasie nicht mehr unterscheidet oder beide zusammenschmelzen.

Fakt ist, also die Fakten von "Den Wolf umarmen" stimmen nicht. Insofern kann man sagen, Luise Rinser hat gelogen, hat uns alle angelogen. Auf der anderen Seite, das war ein großes Problem: Was machen wir mit dieser Tragödie des deutschen Volkes? Ist das deutsche Volk oder waren nur einige so? – Dass die Substanz des Volkes hier, vorgestellt oder repräsentiert durch Luise Rinser, gut war. Also in dieser Form versuche ich selber, das Buch zu retten.

Scholl: In Deutschland ist man nun aber gerade sehr sensibel, gerade bei Schriftstellern, Herr Murillo, wenn es um Widersprüche zwischen Leben und Werk geht. Wir erinnern uns alle an die gewaltige Kontroverse um die ja doch sehr kurzzeitige SS-Mitgliedschaft von Günter Grass.

Sánchez de Murillo: Ja.

Scholl: Ihr Buch nun, Herr Murillo, wird viele Kritiker und Verächter auch von Luise Rinsers Werk eigentlich bestätigen. Hat sie durch ihr Verhalten nicht auch ihr literarisches Werk sehr beschädigt, was glauben Sie?

Sánchez de Murillo: Ja, kann man so sagen, ich glaube das auch. Aber ich möchte auch vielleicht einen Satz dazu sagen: Wäre es auch nicht an der Zeit, dass man das Problem anders anpackt? Also nicht, dass man jedes Mal sich empört oder eine nationale Tragödie macht mit einem Mensch, so wie Günter Grass? Es können auch noch andere dazukommen, das versichere ich Ihnen. Es ist nicht zu Ende. Aber sollte es nicht zu Ende sein, dass wir uns jedes Mal so eine Tragödie inszenieren, wenn wir vorne, aha, der … wir haben gemeint oder der hat immer behauptet, dagegen gewesen zu sein, aber er war mittendrin!

Scholl: Sie schildern Luise Rinser an einer Stelle als – Zitat – "literarisch hoch begabt, leidenschaftlich am Leben interessiert, schwärmerisch, anerkennungsbedürftig, großzügig, doch auch autoritär, jähzornig, geltungssüchtig, opportunistisch". Sind das die Züge, wie Sie Luise Rinser auch als Ihre Freundin in Erinnerung behalten?

Sánchez de Murillo: Ja und nein. Also da habe ich nicht nur das, was ich erzähle, persönlich erlebt habe, dazu genommen, also als Quelle meiner Aussagen, sondern was ich von anderen gehört habe. Ich persönlich habe – das klingt vielleicht für die Menschen, die sie gekannt haben, seltsam –, aber ich habe Luise Rinser nie zornig erlebt. Also bei mir war sie ein Lamm.

Und das hat mir gezeigt, dass sie mehrere Persönlichkeiten hat, wie alle, aber bei ihr war das so stark, dass sie die eigene Persönlichkeit - das eigene Ich - völlig vergessen konnte, wenn sie in eine andere Rolle hineinging. Und so stelle ich mir vor ihre Geschichte mit der Nazizeit und auch mit anderen Problemen ihres Lebens, so wie ihre Männer oder mit dem Problem Stephan, dass sie in einer Weise verdrängen konnte, dass sie am Ende selber glaubte, was sie sagte.

Scholl: José Sánchez de Murillo, der spanische Philosoph und Theologe, hat eine Biografie über Luise Rinser geschrieben. "Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen" heißt das Buch, das jetzt im S. Fischer-Verlag erschienen ist. Es hat 464 Seiten, kostet 22,95 Euro. Herr Murillo, einen Gruß nach Malaga …

Sánchez de Murillo: … danke, einen Gruß nach Berlin …

Scholl: … und herzlichen Dank für das Gespräch!

Sánchez de Murillo: Es war sehr schön, vielen Dank, Herr Scholl!
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