Lüpertz: Ich fange gerade erst mal an

Markus Lüpertz im Gespräch mit Frank Meyer · 09.10.2009
Die Bonner Kunst- und Ausstellungshalle gibt mit der Schau "Hauptwege, Nebenwege" einen Rückblick auf das mehr als 40-jährige Werk des Malers Markus Lüpertz. Ihn interessiere vor allem die Vollendung, sagt der Künstler im Gespräch.
Frank Meyer: Seit heute ist in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn eine große Markus-Lüpertz-Retrospektive zu sehen. "Hauptwege und Nebenwege – Bilder und Skulpturen von 1963 bis 2009" heißt diese Ausstellung. Ich habe vor der Sendung mit dem Maler und Bildhauer Markus Lüpertz gesprochen und ihn zuerst gefragt: Eine Retrospektive, ein Rückblick auf 46 Jahre Malerei und Bildhauerei von Ihnen, was löst denn diese Ausstellung in Ihnen aus – die reine Freude oder auch etwas Melancholie, weil das doch schon nach abgeschlossenem Lebenswerk klingt?

Markus Lüpertz: Deswegen habe ich ja auch immer ein bisschen Probleme mit dem Begriff Retrospektive, und deswegen heißt die Ausstellung für mich "Hauptwege, Nebenwege". Das ist ja auch ein Zeitbegriff, wenn Sie so wollen. Und in diesem Zeitbegriff fühle ich mich eigentlich zu Hause wie in einem großen Irrgarten, der mir aber heutig – oder wie soll ich sagen – gegenwärtig ist. Ich habe nicht das Gefühl, dass mit den Bildern Zeit vergangen ist, oder ich will auch nicht in meine Vergangenheit gehen, über meine Bilder, die ich früher gemalt habe, sondern ich habe eigentlich kein Problem damit, Vergangenheit überhaupt in irgendeiner Weise zu leben, sondern ich existiere viel mehr in der Gegenwart. Und diese Dinge gehören genauso in meine Gegenwart wie ein Bild, was ich heute gemalt habe. Also ich hasse diesen Begriff von Frühwerk, Mittelwerk, Alterswerk. Ich finde, das ist aktuell, wenn es mich anturnt, wenn es für mich interessant ist. Und ich sehe diese Bilder und sie gefallen mir – die könnten auch heute gemalt sein, für mich. Verstehen Sie? Also ich sehe da keinen Zeitbezug drin, außer dass ich lebe.

Meyer: Aber um Sie herum, Herr Lüpertz, verändert sich ja vieles. Als Sie damals angefangen haben ...

Lüpertz: Das mag ja sein, aber wissen Sie, als Künstler darf man ja Arkadien leben. Ich bin ja nicht gehalten, mich an die Realität zu halten. Das ist nun etwas, was der Künstler nicht unbedingt braucht.

Meyer: Also Sie leben in einer ewigen Gegenwart?

Lüpertz: So, ich versuche also mit meiner Kunst oder mit meinem Sein und mit meinem Leben, halt die Zeit einfach anzuhalten, und möglichst an dem bunten Kleid des Kuckucks und mir also die Zeit, die mir bleibt, ewig vorzustellen und sie kurzweilig zu gestalten.

Meyer: Man sieht ja aber auch in Ihrem Werk, dass da Themen beginnen und auch wieder aufhören, wenn man mal auf die frühen 70er-Jahre schaut, da haben Sie sich sehr viel mit Deutschland auseinandergesetzt, mit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Was hat das damals ausgelöst, diese Phase bei Ihnen? Wie sind Sie auf dieses Thema Deutschland damals gekommen?

Lüpertz: Also erst mal ist das ein – wie immer alle diese Dinge bei mir, wenn Sie auf Themen zu sprechen kommen – Zufall. Gegenwart. Das sind Dinge, die mir passiert sind. Da habe ich einen Helm gefunden. Ich hab mal einen amerikanischen Film gesehen, wo Leute immer hinter einem Hügel hervorgeguckt haben, die hatten dann deutsche Helme auf. Dann diese Helmform, diese Kopfform, das hat mich abstrakt interessiert. Dann habe ich den Helm gemalt. Der Helm hat natürlich seine eigene Geschichte. Nicht ich erzähle mit dem Helm etwas, sondern der Helm erzählt Ihnen etwas. Und ich und Sie, ich bin der Protagonist, der es gemacht hat, und Sie sind der, der es liest – aber nicht, was ich sage, sondern was Ihnen der Helm erzählt. Verstehen Sie? Ich habe das lediglich ins Leben gerufen. Das heißt nicht, dass ich eine Zeit oder eine Geschichte versucht habe zu illustrieren über den Helm. Der Helm hat seine Geschichte.

Meyer: Diese verschiedenen Phasen, die in Ihrem Werk auftauchen – die Ausstellung trägt ja auch diesen Titel "Hauptwege, Nebenwege", um verschiedene Momente auch in Ihrer Entwicklung hervorzuheben – gibt es trotz allem, was Sie uns erklärt haben, eine die, wo Sie sagen, das ist für mich eine ganz entscheidende gewesen, das war für mich eine Entdeckung von etwas Neuem, ein Durchbruch?

Lüpertz: Jede Serie oder jedes neue Bild oder jedes Bild, was ich male, empfinde ich in dem Moment, wo ich's mache, als Durchbruch oder als wichtig. Ich kann ja nicht hingehen und in meinen Bildern, das ja Haupt- und Nebenwege sind, jetzt anfangen zu werten: Das ist besser gelungen, das ist schlechter gelungen – das wäre Betrug am Käufer. Ich fühle mich immer als ein Maler, der gerade erst mal anfängt. Ich hab gar nicht das Gefühl oder das Bedürfnis, dass ich jetzt unheimlich schon was auf die Beine gestellt habe. Ich will, dass das kommend ist, das muss noch kommen. Gut, ich hab ein großes Werk, ich habe viel gearbeitet in meinem ganzen Leben, ich hab große Skulpturen, Zeichnungen, Hunderte, Tausende, das ist nicht das Problem, es geht um was anderes. Es geht darum, dass es also wichtig ist, dass ich am nächsten Tag wieder was mache.

Meyer: Anfang ist ein gutes Stichwort, Herr Lüpertz. Sie haben in diesem Jahr der Zeitschrift "Weltkunst" ein Interview gegeben, und da haben Sie über die jungen Künstler gesprochen, die Sie an der Kunstakademie Düsseldorf zum Beispiel erleben, und Sie haben über die jungen Künstler gesagt: "Ich sehe die Leere in ihren Augen, sie kennen die Werte nicht, auf denen die Kunst in Wahrheit gründet." Was vermissen Sie denn da an ihren jüngeren Kollegen?

Lüpertz: Nein, die sind also in die anderen Disziplinen abgerutscht. Sie sind zu den Fotografen und selbst wenn sie malen, schauen mit den Augen der Fotografen. Sie sind in die Installationen abgerutscht, sie sind in Avantgardismus abgerutscht, sie haben sich im Avantgardismus verloren. Und der Avantgardismus ist eine wunderbare, großartige Kunsterscheinung, aber sie ist temporal, sie ist zeitbegrenzt. Wenn Avantgardismus anfängt, sich zu etablieren, wenn er gelehrt wird, wenn das also, dann wird es Unsinn, dann wird es nachher irgendwie, wie soll ich sagen, kreativer Blödsinn. Und das sehen Sie ja, die Museen sind ja voll mit diesem Zeug. Von Einzelnen. Aber Kunst hat mit Einzelnen nichts zu tun, Kunst ist eine Disziplin, die sich selbst bespiegelt, die sich aus sich selbst entwickelt. Nehmen Sie die Renaissance, das war also die Bespiegelung der Antike. Nehmen Sie den Klassizismus, war eine Bespiegelung der Renaissance. Also sie hat immer was ... Um heutig, um Gegenwart, um Zukunft in der Malerei festzustellen, müssen Sie die Vergangenheit benutzen als Vokabular und dann neu formulieren.

Meyer: Und was ist für Sie, Herr Lüpertz, das Gegenbild zum Avantgardismus? Ist das der große Einzelne, das große Künstlerindividuum?

Lüpertz: Ich bin ein großer Fan des Avantgardismus, ich liebe den Avantgardismus, aber Avantgardismus ist eine Zeiterscheinung, und viele Künstler, die dem Avantgardismus zugehört haben und dort Großartiges geleistet haben, sind eben zeitgebunden und zeitlich und temporär begreifbar. Ich bin ein Maler, der sich um Vollendung kümmert, irgendwann, als Sehnsucht zumindest. Und das ist die Antwort auf den Avantgardismus: Vollendung. Und Avantgardismus hat nur Sinn, wenn daraus sich eine neue Idee von Vollendung artikuliert.

Meyer: Und was heißt Vollendung in Ihrem Sinn?

Lüpertz: Vollendung ist eine Sache, die ist mir, glaube ich, außer bei den Griechen in der Antike bei den Skulpturen selten begegnet oder bei so einem wunderschönen Bild wie Jan Vermeers "Mädchen mit der Perle". Da habe ich dann solche Erinnerungen. Da gibt es dann ein paar wunderschöne Bilder, das "Las Meninas" von Velázquez ist oder "Guernica" von Picasso. Es gibt immer wieder mal, wo man das Gefühl hat, da bist du an eine Vollendung herangekommen, trotz aller Unruhe, trotz aller Revolution, wie es bei Picasso war, so ist es doch ein Bild, was also der Vollendung oder meiner Idee von Vollendung sehr nahe kommt. Und das sind eben die Sehnsüchte. Es heißt ja nicht, dass man das also schafft, aber man will's schaffen, und auf diesem Weg passieren eben viele Konflikte und Defekte, die unter Umständen diese Idee Vollendung aber in sich beinhalten und dann vielleicht später gesehen und gelesen werden.

Meyer: Und in Ihrem eigenen Werk, gibt es da Arbeiten, wo Sie sagen, da bin ich der Idee der Vollendung relativ nahe gekommen?

Lüpertz: Ja, gibt es.

Meyer: Welche?

Lüpertz: Das werde ich nicht sagen. Das müssen Sie rausfinden.

Meyer: Herr Lüpertz, Sie haben sich ja – wir haben gerade über den Nachwuchs geredet – Sie haben sich als Professor und Rektor der Kunsthochschule Düsseldorf über 20 Jahre lang um den Nachwuchs, um Kunststudenten gekümmert. Jetzt gründen Sie eine eigene private ...

Lüpertz: 38 Jahre.

Meyer: 38 Jahre lang ... Jetzt gründen Sie eine eigene private Kunstakademie, die "Akademie Souci Markus Lüpertz" in Potsdam, im kommenden Jahr soll die eröffnet werden. Was für eine Art Akademie soll das werden?

Lüpertz: Ja, sie ist erst mal, also in erster Linie ein großes Sprachrohr für Malerei und Bildhauerei. Das steht im Vordergrund. Die Malerei und Bildhauerei hat im Moment keine gesellschaftliche Bedeutung und keine gesellschaftlichen Sprecher. Und dass das einfach ins Bewusstsein der Gesellschaft eindringt, dass es eben Malerei und Bildhauerei gibt, dafür braucht es ein Haus, dazu bedarf es einer Begegnungsstätte, da müssen sich Leute treffen können, die unter dieser Prämisse oder dieser Idee Malerei und Bildhauerei zusammenfinden. Das hat was mit Sammlern zu tun, mit Künstlern zu tun, mit Dichtern zu tun, mit Musikern zu tun – also eine Art der Akademie im schönsten Sinne, unter dieser Vorstellung, dass eben Malerei eine aktuelle, eine wichtige, eine heutige und sensationelle Veranstaltung ist.

Meyer: Aber es gibt doch andere Kunstakademien, die sich auch um Malerei kümmern.

Lüpertz: Nein, kenne ich keine. Außer der Düsseldorfer Akademie unter meiner Ägide hat es das seit Langem nicht mehr gegeben.

Meyer: Und Leipzig zum Beispiel, die ...

Lüpertz: Leipzig ist ein Zufall, und das ist eine Entwicklung gewesen. Das ist ja aus einer Werkschule sich entwickelnde Geschichte der Gestaltung und des Designs, und daraus hat sich eine Malerei als Protest gegen das, was dort gelehrt ist, entwickelt. Und das ist eine Methode und das ist auch zu begrüßen, dass das passiert. Aber in dem Vergleich zu Düsseldorf, wo also wirklich die größten Maler unserer Epoche gelehrt haben, ist das also noch – wie soll ich sagen – in den Anfängen. Aber es beweist nur, dass es das gibt und dass ich da auf dem richtigen Wege bin.

Meyer: Ich muss noch ein Zitat ansprechen, das ich von Ihnen gefunden habe, Herr Lüpertz, weil Sie an Ihrer Akademie in Zukunft ja auch Schüler ausbilden wollen. Sie haben mal dazu gesagt, zum Verhältnis von Lehrern und Schülern: "Meine Schüler müssen mir die Tür aufhalten, müssen mir in den Mantel helfen, und wenn ich rauchen würde, müssten sie mir Zigaretten holen." Also Ihre Schüler, die müssen sich dann schon aufs Dienen einstellen?

Lüpertz: Ja, ich meine, sagen wir mal so: Dienen ist vielleicht das falsche Wort, weil es sich anhört wie Zwang. Nein, sie müssen einfach den Meister verehren, denn nur über die Verehrung lernt man in der Kunst, über die Bewunderung. Und wenn Sie das nicht mehr erzeugen können bei den Schülern, wie auch immer, das sind ja nur Phrasen, wenn ich so was sage. Was dahintersteckt, ist, dass der Schüler dich in der Zeit zumindest, und wenn sie nur kurz ist, vorbehaltlos bewundern muss, damit er das glaubt, was du machst als Lehrer, dass er das übernimmt, dass er die Atmosphäre begreift, dass er das Vorbild, was du lebst als Künstler, nachvollzieht. Und das ist eine Form der Verehrung, und die muss er dann auch leben. Und dagegen ist ja nichts zu sagen.

Meyer: Die Bonner Retrospektive jetzt oder wie Sie sagen "Hauptwege, Nebenwege", die Ausstellung, die kündigt Sie an als einen Künstler, der immer auch mit der Pose des Enfant terrible und des Malerfürsten gespielt habe. Und wenn man irgendwo etwas über Sie liest, Herr Lüpertz, dann geht es auch immer um diese Inszenierung als Malerfürst, manchmal mehr um diese Pose als um Ihre Bilder. Welchen Sinn hat denn für Sie diese Selbstinszenierung als Fürst?

Lüpertz: Ja gut, das ist ein Zeitphänomen, dass also ein gut gekleideter älterer Herr gleich als Fürst bezeichnet wird, nur weil er sich gut anzieht und einen großen Mund hat, das ist also etwas, das ist einfach schlechte Presse. Und das hat auch viele Sachen immer verstellt und mich eigentlich auch meistens immer etwas verärgert, weil das eigentlich für mich was ganz Selbstverständliches ist, dass ich, wenn ich mich bei der Arbeit dreckig mache, abends gut anziehe. Dass daraus gleich was Fürstliches abgeleitet wird, das mag ja sein. Dass ich so ein Mann bin, der also polarisiert, der also auch die Auseinandersetzung sucht verbal, der also ... um überhaupt über seine Dinge nachzudenken, brauche ich das Gespräch, ich brauche die Auseinandersetzung. Und dass sie dann unter Umständen von Leuten, die der Sache nicht folgen können, mit einer gewissen Gleichgültigkeit oder mit Stereotypen wiederholt wird, das ist dann eben mangelnde Umfeldintelligenz, könnte man sagen.

Meyer: Und Sie sehen sich selbst nicht als Malerfürsten?

Lüpertz: Ich sehe mich als großer Maler, das reicht doch nun wirklich. Das ist doch fürstlich genug, oder meinen Sie nicht?

Meyer: Das meine ich in der Tat. Markus Lüpertz, "Hauptwege und Nebenwege", die Ausstellung ist jetzt in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle zu sehen bis zum 17. Januar 2010. Herr Lüpertz, vielen Dank für das Gespräch!

Lüpertz: Bitte sehr, tschüss Herr Meyer!