Lüneburger Auschwitz-Prozess

Vergeben als psychologische Geste

Die Auschwitz-Überlebende Eva Kor sitzt am 21.04.2015 im Gerichtssaal in Lüneburg (Niedersachsen)
Die Auschwitz-Überlebende Eva Kor hat dem Angeklagten und früheren SS-Mann Otto Gröning vergeben © picture alliance / Julian Stratenschulte
Micha Brumlik im Gespräch mit Anke Schaefer und Christopher Ricke · 28.04.2015
Darf es nach Auschwitz überhaupt ein Verzeihen geben? Darüber wird nach der öffentlichen Geste der Überlebenden Eva Kor im Prozess gegen den SS-Mann Otto Gröning diskutiert. Der Publizist Micha Brumlik warnt davor, von außen Urteile über die Handlungen der Opfer abzugeben.
Die öffentliche Vergebung der Auschwitz-Überlebenden Eva Kor im Prozess gegen den früheren SS-Mann Otto Gröning hat eine heftige Diskussion ausgelöst. Kor hatte ihm am zweiten Verhandlungstag dafür gedankt, dass er seine moralische Mitschuld eingestanden und den Holocaust nicht geleugnet habe.
Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler, Publizist und langjähriger Leiter des Fritz Bauer Instituts, bewertet die Geste Eva Kors vor allem als psychologische Handlung:
"Wenn es dieser alten Dame das Leben und Weiterleben erleichtert, zu vergeben, dann gibt es dagegen überhaupt nichts einzuwenden."
Es bestünden allerdings Zweifel daran, ob der Täter tatsächlich aufrichtig bereut und sein Verbrechen eingesehen habe, so Brumlik:
"Wenn man sich die Begriffswahl ansieht, mit der er darüber gesprochen hat, wie die sterblichen Überreste der Ermordeten verbrannt wurden – wenn er davon geredet hat, dass diese 'entsorgt' wurden – dann lässt das nicht auf besonderes Feingefühl schließen."
Gröning hatte "gute Gründe" für sein Schuldeingeständnis
Ein "etwas ausführlicheres Bekenntnis" des Angeklagten wäre seiner Auffassung nach sinnvoll gewesen, meinte Brumlik. Man dürfe nicht vergessen, dass Gröning gute Gründe gehabt habe, im Prozess auf diese Weise aufzutreten:
"Immerhin drohen ihm ja in seinem hohen Alter noch drei Jahre Gefängnis. Und in diesem Fall ist jeder gut beraten, wenn er vor Gericht seine Schuld eingesteht. Über die Authentizität dessen können wir nicht urteilen."
Das Leid der Nebenkläger
Für die Nebenkläger sei es wichtig, dass das ihnen widerfahrene Leid in diesem Prozess auch offiziell als "moralisch verurteilungswürdig und abscheulich" festgehalten werden, sagte Brumlik:
"Menschen reagieren auf erlittenes Unrecht unterschiedlich. Die einen wollen Gerechtigkeit, die anderen wollen sich von der Last des erlittenen Unrechts befreien. Ich glaube nicht, dass es gleichsam von außen möglich ist, hier Urteile abzugeben. Jedenfalls nicht über die Opfer."

Programmtipp
Erinnern - vergeben - und vergessen? Mit dem Historiker Christian Meier spricht morgen in "Studio" ab 7.40 Uhr Dieter Kassel im Interview.

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