Lügen als Lebenstaktik
Sie sind laut und aufgekratzt - auf dem Klassentreffen will jeder zeigen, wie toll und glücklich er ist. Alle zehn Jahre treffen sich zwei Frauen und vier Männer. Zwischen 1983 und 2033 beobachtet Jan Neumann sie in seinem Stück "Hochstapeln".
Sie sind laut, aufgekratzt, reden wild durcheinander. Auf dem Klassentreffen will jeder zeigen, wie toll und glücklich er ist, dass er sein Leben im Griff hat. Die eine prahlt mit wundervollen Kindern, der andere mit Geschäftserfolgen, ein dritter ist Landtagsabgeordneter geworden und weiter auf dem Weg nach oben. Alle zehn Jahre treffen sich die beiden Frauen und die vier Männer. Zwischen 1983 und 2033 beobachtet sie Jan Neumann in seinem Stück "Hochstapeln" und blendet zwischendurch ausführlicher zurück auf das Leben der einzelnen Charaktere.
Diese Episoden inszeniert Regisseur und Autor Neumann als live gedrehte Filme. In einer offenen Garderobe stülpen sich die Schauspieler Perücken auf, ziehen sich um, schminken sich neu. Der Zuschauer kann sich auf Bildschirmen und als Projektion auf helle Stoffbahnen die inszenierten Bilder anschauen oder direkt zusehen, wie sie entstehen. Für das Theater wie das Kino ist Hochstapelei ein elementarer Bestandteil. Jan Neumann spielt damit auf witzige Weise und lässt die satirischen Szenen oft ins Tragische und Verzweifelte kippen. Das ist sehr unterhaltsam, allerdings etwas zu lang geraten. Gegen Ende des pausenlosen, zweieinviertel Stunden langen Abends fehlt das Überraschungspotenzial.
Neumann praktiziert eine spezielle Form der Stückentwicklung. Am Anfang der Probenzeit gibt es keinen Text, auch kein Bühnenbild. Er improvisiert und assoziiert mit den Schauspielern über bestimmte Begriffe, recherchiert, lädt Experten ein. So entstehen Szenen und Figuren, die wie auch schon in seiner dringlicheren Stuttgarter Arbeit "Fundament" die Nähe zum Kabarett nicht scheuen. Positiv an dieser Theaterform ist, dass die Schauspieler die Rollen als ihre eigenen annehmen und sich mit einer Riesenenergie in den Abend werfen. Die Gefahr liegt in Glätte und Selbstverliebtheit. Manche Szenen wie der Abfall eines Priesters von seinem Glauben dauern zu lang, weil der Schauspieler immer noch einen draufsetzt, der Text aber inhaltlich auf der Stelle tritt.
Trotz mancher Schwächen ist "Hochstapeln" ein sehr unterhaltsamer und anregender Abend. Die sechs Schauspieler tragen fiese, fleischfarbene Unterwäsche, was zunächst jeder Angeberei – mit Ausnahme eines fulminanten Push-up-BHs - im Weg zu stehen scheint. Die Kostüme machen den Weg frei für pures Spiel, schnell sind sie eine ganz normale Grundierung des Abends. Wenn das Ensemble sich zum Klassentreffen an den Tisch auf einer knarzenden Drehbühne setzt, sind die Texte improvisiert und nur inhaltlich festgelegt. In den Rückblenden, also den Einzelgeschichten, finden sich witzige Loriot-Zitate – ein garstig ineinander verhasstes Ehepaar – und überraschende Wendungen. Ein konservativer Vorzeigepolitiker wird durch die Medien als schwul geoutet und entscheidet sich in einer Talkshow zu absoluter Wahrhaftigkeit. Was den Moderator völlig verwirrt und an seinem Weltbild zweifeln lässt. "Die Wahrheit von gestern ist die Lüge von heute", philosophiert der Politiker. Ob es wirklich immer richtig ist, alles zu sagen, behandelt die letzte Szene. Der Ehemann einer Frau aus dem Klassentreffenskreis ist an Krebs erkrankt. Sie will es ihm nicht sagen, aber ihr Sohn besteht darauf.
So beeindruckend es ist, dass Jan Neumanns Methode an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Schauspielern zu greifen scheint, so kritisch muss er sich doch hinterfragen, ob er in der engen Zusammenarbeit mit den Schauspielern wirklich das Optimum herausholt. Die Bochumer Uraufführung hätte durch Straffen und mehr Mut zu Schmerpunkten gewinnen können. Das Potenzial des "Hochstapelns" ist groß.
Zum Thema:
Homepage des Bochumer Schauspielhauses
Diese Episoden inszeniert Regisseur und Autor Neumann als live gedrehte Filme. In einer offenen Garderobe stülpen sich die Schauspieler Perücken auf, ziehen sich um, schminken sich neu. Der Zuschauer kann sich auf Bildschirmen und als Projektion auf helle Stoffbahnen die inszenierten Bilder anschauen oder direkt zusehen, wie sie entstehen. Für das Theater wie das Kino ist Hochstapelei ein elementarer Bestandteil. Jan Neumann spielt damit auf witzige Weise und lässt die satirischen Szenen oft ins Tragische und Verzweifelte kippen. Das ist sehr unterhaltsam, allerdings etwas zu lang geraten. Gegen Ende des pausenlosen, zweieinviertel Stunden langen Abends fehlt das Überraschungspotenzial.
Neumann praktiziert eine spezielle Form der Stückentwicklung. Am Anfang der Probenzeit gibt es keinen Text, auch kein Bühnenbild. Er improvisiert und assoziiert mit den Schauspielern über bestimmte Begriffe, recherchiert, lädt Experten ein. So entstehen Szenen und Figuren, die wie auch schon in seiner dringlicheren Stuttgarter Arbeit "Fundament" die Nähe zum Kabarett nicht scheuen. Positiv an dieser Theaterform ist, dass die Schauspieler die Rollen als ihre eigenen annehmen und sich mit einer Riesenenergie in den Abend werfen. Die Gefahr liegt in Glätte und Selbstverliebtheit. Manche Szenen wie der Abfall eines Priesters von seinem Glauben dauern zu lang, weil der Schauspieler immer noch einen draufsetzt, der Text aber inhaltlich auf der Stelle tritt.
Trotz mancher Schwächen ist "Hochstapeln" ein sehr unterhaltsamer und anregender Abend. Die sechs Schauspieler tragen fiese, fleischfarbene Unterwäsche, was zunächst jeder Angeberei – mit Ausnahme eines fulminanten Push-up-BHs - im Weg zu stehen scheint. Die Kostüme machen den Weg frei für pures Spiel, schnell sind sie eine ganz normale Grundierung des Abends. Wenn das Ensemble sich zum Klassentreffen an den Tisch auf einer knarzenden Drehbühne setzt, sind die Texte improvisiert und nur inhaltlich festgelegt. In den Rückblenden, also den Einzelgeschichten, finden sich witzige Loriot-Zitate – ein garstig ineinander verhasstes Ehepaar – und überraschende Wendungen. Ein konservativer Vorzeigepolitiker wird durch die Medien als schwul geoutet und entscheidet sich in einer Talkshow zu absoluter Wahrhaftigkeit. Was den Moderator völlig verwirrt und an seinem Weltbild zweifeln lässt. "Die Wahrheit von gestern ist die Lüge von heute", philosophiert der Politiker. Ob es wirklich immer richtig ist, alles zu sagen, behandelt die letzte Szene. Der Ehemann einer Frau aus dem Klassentreffenskreis ist an Krebs erkrankt. Sie will es ihm nicht sagen, aber ihr Sohn besteht darauf.
So beeindruckend es ist, dass Jan Neumanns Methode an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Schauspielern zu greifen scheint, so kritisch muss er sich doch hinterfragen, ob er in der engen Zusammenarbeit mit den Schauspielern wirklich das Optimum herausholt. Die Bochumer Uraufführung hätte durch Straffen und mehr Mut zu Schmerpunkten gewinnen können. Das Potenzial des "Hochstapelns" ist groß.
Zum Thema:
Homepage des Bochumer Schauspielhauses