Ludwig Marcuse

Der Mut zu denken

Ein schwarz-weiß Porträt von Ludwig Marcuse.
Der Philosoph, Kulturkritiker und Publizist Ludwig Marcuse 1969: Welche Realität ist real? © picture alliance / dpa / Gerhard Rauchwetter
Von Renate Eichmeier · 31.07.2021
Im Leben des Philosophen Ludwig Marcuse spiegeln sich alle Höhen und schrecklichen Tiefen des 20. Jahrhunderts. Als streitbarer Publizist kämpfte er nach dem Zweiten Weltkrieg gegen den Nazimief. Viele seiner Texte sind auch heute noch hochaktuell.
Der Philosoph Ludwig Marcuse ließ sich den Mut, selbst zu denken, nicht nehmen, nicht von Freunden oder Feinden, nicht von Ideologien und Religionen, nicht von gesellschaftlichen Konventionen, dem sogenannten Zeitgeist oder politischen Notwendigkeiten. So sind spannende Werke voller provokanter Erkenntnisse und brillanter Aphorismen entstanden.
"Was wird man, wenn man nicht gelernt hat zu parieren? Freier Schriftsteller!" Ludwig Marcuse schrieb Theaterkritiken und Essays, philosophische Bücher über Glück und Unglück, Porträts, Polemiken, Biografien über Heinrich Heine, Ignatius von Loyola, Richard Wagner und Ludwig Börne - und auch zwei Autobiografien: Erstaunlich ehrlich behandelt er seine Stoffe inklusive sich selbst, eigensinnig im besten Sinne des Wortes.

Flucht vor den Nazis

1933 floh er vor den Nazis in die USA und kam erst 1962 nach Deutschland zurück. Als streitbarer Publizist etablierte sich Marcuse bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit, schrieb für die renommierte "Zeit" und den Bayerischen Rundfunk, provozierte mit Themen wie "Das Obszöne in der Literatur" und griff den Nazimief an, der noch vielerorts herrschte. Mit seiner 1960 erschienen Autobiografie "Mein zwanzigstes Jahrhundert" lieferte er einen Bestseller.
Porträt des Schriftstellers Ludwig Marcuse, Foto um 1970.
Ludwig Marcuse, ca. 1970© picture alliance / akg images
Dann fegten die studentenbewegten 1960er-Jahre über die verstaubte Bundesrepublik. Als Philosoph der Frankfurter Schule avancierte Ludwig Marcuses Namensvetter Herbert Marcuse zum intellektuellen Guru der aufbegehrenden Studenten.
Ludwig Marcuse hingegen war als bekennender Individualist skeptisch gegenüber allen politischen und sonstigen Bewegungen und befand sich schnell auf Kriegsfuß mit den jungen Linken. Er fühlte sich falsch verstanden und zitiert und zog sich gekränkt zurück: "Heutzutage sind nicht nur die Dramatiker politisch engagiert, sondern auch die Berichterstatter. Sie dichten Berichte. Man ist so engagiert, dass man falsch hört."

Zerstörtes Kindheitsidyll

Das spannungsreiche Leben von Ludwig Marcuse spiegelt das 20. Jahrhundert in Europa wider - mit all seinen Höhenflügen, Brüchen und Brutalitäten. Ludwig Marcuse wurde Ende des 19. Jahrhunderts in das Berliner Großbürgertum geboren und verlebte in der selbstverliebten Welt des Wilhelminismus eine unbeschwerte Kindheit, umgeben von einer jüdischen Großfamilie, als einziger Sohn eines Fabrikanten "maßlos verwöhnt", ein eigenwilliger "Kronprinz", der große Freiheiten genoss und sich kaisertreu und kriegseuphorisch gab wie die ganze wilhelminische Welt im Vorfeld des Ersten Weltkrieges.
Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zerstörten das Kindheitsidyll nachhaltig. Nach dem Ersten Weltkrieg starb der Vater, das Vermögen verschwand in den Krisen der 1920er-Jahre. 1933 floh Marcuse vor den Nazis zunächst nach Frankreich und dann weiter in die USA, wo er in Los Angeles eine neue Heimat fand - wie viele seiner Freunde: Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Thomas Mann, die Sängerin Fritzi Massary.
Nicht ganz freiwillig siedelte er 1962 wieder nach Deutschland über, nach Bad Wiessee, in ein Reihenhaus am Ende einer Sackgasse. Ein einsamer Zurückgekehrter. 1971 starb er und hinterließ Bücher, deren Frische und Aktualität ungebrochen ist. Höchste Zeit, ihn wiederzuentdecken.

Ludwig Marcuse - Zitate
"Welche Realität ist real? Es gibt mehr Realitäten, als die Realisten ahnen."
"Liebe macht blind, aber nur die Blinden, nie die Sehenden."
"Ich glaube an die Macht des Vorbildes, an den beispielgebenden Einzelnen, der zur Selbständigkeit erzieht, zum Mut, zu denken, was man denkt, zu fühlen, was man fühlt, zu wollen, was man will. Der beste Weg zum Selbst ist die Faszination durch ein anderes Selbst."
"Mit vielem rechnen Gescheite nicht, weil sie sich ein solches Maß an Dummheit nicht vorstellen können."
"Nur wer im Wohlstand lebt, schimpft auf ihn."
"Denken ist eine Anstrengung, Glauben ein Komfort."

Die Sendung ist eine Wiederholung vom 8. Februar 2014.
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