Luc Perceval plädiert für Einheit Belgiens
Der flämische Theater-Regisseur Luc Perceval fände es bedauerlich, wenn sein Heimatland Belgien im Zuge der andauernden Regierungskrise in zwei Teile zerfallen würde. Trotz der sprachlichen Barrieren zwischen Wallonen und Flamen verstünden sich die einzelnen Bevölkerungsgruppen gut im Gegensatz zu Katalanen und Spaniern, sagte Perceval.
Tom Grote: Seit fünf Monaten wird in Belgien über eine neue Regierung verhandelt, bislang ohne jeglichen Erfolg. Streitpunkte gibt es viele, die Aufteilung eines Wahlbezirkes, Streit über die Sprache oder Streit über mehr Unabhängigkeit für die Regionen in der Haushaltspolitik. Die französisch sprechenden Wallonen lehnen diese größere Unabhängigkeit ab. Sie befürchten, dass damit weniger Geld aus dem wohlhabenden Flamen in die ärmere Wallonie fließen würde. Mittlerweile ist von einer Staatskrise die Rede und auch immer öfter von einem möglichen Auseinanderbrechen des Landes.
Im Studio ist jetzt der flämische Theaterregisseur Luc Perceval, er ist Hausregisseur der Berliner Schaubühne. Guten Morgen, Herr Perceval.
Luc Perceval: Guten Morgen.
Grote: Sie kommen aus Flamen. Sind Sie auch Belgier?
Perceval: Ich komme aus Antwerpen. Ich habe 30 Jahre in Antwerpen gelebt, gewohnt, gearbeitet. Ich bin Flame. Ob ich unbedingt Belgier bin – eigentlich steht das auf meinem Passport, aber ich glaube, dass jeder Belgier sagen würde, dass er sich nicht unbedingt als Belgier fühlt. Und das hat nicht so sehr mit Fanatismus oder Nationalismus zu tun, das hat vielmehr damit zu tun, dass wir in solch unterschiedlichen Sprachkulturen leben. Also Belgien sind eigentlich vier Sprachgebiete, könnte man sagen. Es gibt ein kleines deutschsprachiges Gebiet. Dann gibt es den wallonischen Teil, wo man französisch spricht, und dann gibt es den flämischen Teil, wo man eigentlich Niederländisch, Holländisch, wie man will, Flämisch spricht, das sind eigentlich alles ähnliche Sprachen. Viele Deutsche fragen mich immer, ist dann Flämisch das gleiche wie Holländisch, und da sage ich immer, ja, das verhält sich immer so wie Irisch zu Englisch zum Beispiel. Aber es ist eigentlich die gleiche Sprache, es hat einen anderen Akzent. Ob wir uns alle jetzt in diesem Land, was eigentlich artifiziell entstanden ist irgendwann, ich weiß auch nicht mehr wo, Anfang des 18. Jahrhunderts – das glaube ich nicht, weil letztendlich, Flandern hat eine Geschichte, die sehr lang verbunden war als Provinz mit Holland. Wallonien war sehr lange ein Teil von Nordfrankreich. Und der deutschsprachige Teil war ein Teil von Deutschland. Und wir sind irgendwie artifiziell durch einen politischen Vertrag zusammengekommen, und so hat man eigentlich Belgien gegründet.
Grote: Also würden Sie gar nicht sagen, dass es so etwas wie das belgische Nationalgefühl gibt.
Perceval: Ach, das belgische Nationalgefühl gibt es natürlich schon. Es gibt auch einen gewissen Stolz, wenn die Nationalmannschaft in Mexiko in den 80er Jahren glaube ich ...
Grote: Ist schon eine Weile her, dass die gut gespielt haben.
Perceval: Es ist schon eine Weile her. Seitdem spielen wir keinen guten Fußball mehr. Wenn die das Halbfinale erreicht haben damals, dann auf einmal stand in allen Zeitungen, König, Sir, es gibt wieder Belgier. Also wir waren damals stolz, aber das ist lange her.
Grote: Wie schwer macht es einem der belgische Staat, sich als Belgier zu fühlen?
Perceval: Ach, ich würde den belgischen Staat nicht beschuldigen, dass die es uns schwierig machen, uns als Belgier zu fühlen. Das ist halt Teil ...
Grote: Aber ist nicht genau das, was gerade passiert, ein Problem der Politiker und der nicht Leute, die in Belgien wohnen?
Perceval: Ja, das schon. Eigentlich ist das, was jetzt passiert in Belgien, völlig absurd. Um mal ganz ehrlich zu sagen, ich verstehe es auch nicht zu 100 Prozent, weil es ist so spezifisch, eine politische Debatte. Um Ihnen ein Beispiel zu geben, ständig fragen mich Leute, ich versuche das zu verfolgen, ich habe gestern bis zwei Uhr morgens auf den Nachrichtenwebseiten Belgiens fünf Professoren gehört, die versucht haben, die Krise zu erklären. Und ich weiß es nach fünf Professoren noch immer nicht, was genau das Problem ist. Man kann es eigentlich reduzieren, wenn ich es gut kapiere, auf ein Hin und Her über zehn wählbare Sitze im Parlament in Brüssel, wo jetzt scheinbar die Franzosen bevorzugt sind und die Flamen eigentlich sagen, aber wir liefern das Geld, wir sind inzwischen der wirtschaftliche Schwerpunkt des Landes, also wir brauchen mehr Ansprüche auf Macht. Aber um ganz ehrlich zu sein, auf der gleichen Website habe ich dann auch gelesen, dass zwei Drittel der Belgier überhaupt nicht weiß, worum es geht. Also die Leute, die in Belgien Leben und die miteinander Leben und die tagtäglich miteinander Geschäfte machen – an die flämische Küste kommen mehr französischsprachige Belgier und Deutsche und Ausländer als Flamen letztendlich. In die wallonische Ardenne kommen ganz viele Holländer und Flamen, haben da ihre Ferien. Also da gibt es überhaupt kein Problem.
Grote: Gibt es keine Vorurteile zwischen Wallonen und Flamen?
Perceval: Die gibt es eigentlich nicht mehr. Ich würde sagen, die Spannung zwischen Flamen und Wallonen, die hat es gegeben bis zum Ersten Weltkrieg. Weil da war es der flämische Teil von Belgien, der eigentlich dominiert wurde, in dem die ganze Gesellschaft von den Franzosen, weil die auf allen führenden Stellen saßen. Auch während des Erste Weltkriegs zum Beispiel, weil alle Frankophonen saßen in Paris mit Generalstitel und weiß ich was, Offizierstiteln. Und die Flamen, das Bauernvolk, wurde eigentlich benutzt als Kanonenfutter. Da ist eigentlich ein großes Gefühl von Unrecht entstanden, und haben die Flamen gesagt, das darf nicht mehr passieren, das hat passiert war in dem Krieg mit Napoleon. Das war in dem Ersten Weltkrieg so, die großen Opfer sind gefallen auf der Seite der Flamen. Und dann ist natürlich eine Art von Emanzipierungsstreit entstanden. Aber inzwischen ist es so, dass die Flamen, die haben Universitäten, die haben ihre Theater, die haben ihre Schulen bekommen. Also inzwischen ist es auch so, dass eigentlich Flandern in Belgien die dynamische Macht ist auch. Wir haben einen der großen Welthäfen in Antwerpen. Flandern ist, sagt man oft, das wirtschaftliche Herz von Belgien. Und es gibt da wenig Grund frustriert zu sein.
Grote: Herr Perceval, was hält Belgien denn überhaupt zusammen?
Perceval: Ich glaube, was Belgien zusammenhält ist eine Art von Solidarität, die ich eigentlich auch richtig finde. Man hat letztendlich dieses Land zur Verfügung bekommen, um zusammenzuleben. Warum würde man es dann auch nicht aushalten und durchhalten? Vieles spricht dafür, das zu trennen, zu sagen, okay. lass uns diese ganze ... Weil das kostet natürlich wahnsinnig viel Geld, wenn man sieht, man hat nicht nur eine flämische Regierung, man hat auch eine deutschsprachige Regierung, man hat auch eine französisch, wallonische Regierung und man hat eine nationale Regierung in Belgien.
Grote: Und jeder hat Außenminister und Innenminister und ähnliches.
Perceval: Alles. Also man hat für ein so kleines Land mit elf Millionen Einwohnern vier Regierungen. Können Sie sich vorstellen, was das kostet an Aufwand? Und natürlich ist da viel dafür zu sagen, lass uns das einfach trennen und das ist für jeden billiger. Andererseits ist es auch so, dass das auch für ein Stück Belgien ist, Belgien würde ich sagen, würde kulturell verarmen, weil letztendlich ist Belgien eines der wenigen Ländern, wo dieses Zuammenlebensmodell auch funktioniert. Ich meine, wir haben nicht das Problem wie die Katalanen mit Spanien und das im Balkan unter den Jugoslawen zum Beispiel, wo das wirklich zu Kriegskonflikten kommt und eigentlich unmöglich ist, zusammenzuleben. Das schaffen die Belgier schon. Das wäre schade, dass das scheitern würde, weil letztendlich ist es auch eine Beispielfunktion, die man haben könnte.
Grote: Früher gab es in ganz Belgien ganz bekannte und bewunderte Personen, der Zeichner Hergé, der Radprofi Eddy Merckx, der Chansonsänger Jacques Brel. Wo sind diese belgischen Symbolfiguren heute?
Perceval: Ja, das ist typisch eigentlich auch für Belgien, dass alle Belgier, die man kennt, die haben alle Karriere gemacht im Ausland. Und das ist auch ein Spruch in Belgien, dass wenn man ein berühmter Belgier werden will, dann muss man ins Ausland.
Moderator: Also die Kultur als verbindenden Faktor funktioniert nicht.
Perceval: Nein, die funktioniert eigentlich nicht. Belgien als Land selber hat natürlich zu wenig Ausstrahlung, was an sich auch merkwürdig ist, weil letztendlich ist Brüssel die Hauptstadt Europas. Und da ist auch das Europäische Parlament, und es ist auch der Hauptsitz von der NATO. Also Belgien hat schon ein paar sehr wichtige Symbolfunktionen, aber trotzdem ist es nicht so, dass ich zum Beispiel als flämischer Regisseur in Brüssel in das frankophone wallonische Theater gegangen bin. Nie. Nicht weil ich da inhaltliche Probleme habe und die Sprache widerlich finde, im Gegenteil. Ich bin zweisprachig in der Schule erzogen. Und nicht auf Deutsch, wie sie hören.
Grote: Aber Sie sprechen ziemlich gut.
Perceval: Na ja, aber es ist halt so, dass Flämisch eigentlich eine germanische Sprache ist. Also aus der Natur der Sprache ist eigentlich eine Art von Theaterkultur entstanden, die viel mehr Verbindung hat mit der deutschen Theaterkultur, mit der holländischen Theaterkultur und sogar mit der englischen Theaterkultur als mit der romanischen, französischen Theaterkultur. Und das ist auch eine völlig andere Theaterkultur. Das ist nicht, dass wir da prinzipiell sagen, igitt, nee, nicht die Franzosen, weil das sind schlechte Menschen. Im Gegenteil, ich habe ganz viele Freunde, die in Wallonien wohnen, und ich bewundere zum Beispiel sehr die französische oder die wallonische Filmszene in Belgien, die sehr stark ist und sehr beispielhaft ist mit den Gebrüder Dardenne. Aber es gibt halt diese Sprachbarriere. Meine Kinder zum Beispiel, die haben gar nicht mehr die Verpflichtung, Französisch auf der Schule zu lernen, weil inzwischen Englisch viel wichtiger ist als wirtschaftliche Sprache, als kulturelle Sprache, um sich über die Grenze zu bewegen, als das französische. In der Generation meiner Kinder ist die Trennung noch größer, würde ich sagen.
Grote: Und doch gibt es eine Liste von Künstlern, die das einheitliche Belgien wollen. Wollen Sie das auch?
Perceval: Wie gesagt, ich würde das auch bevorzugen. Andererseits muss man nie für ein Land kämpfen. Ich finde das immer absurd. Wenn es so ist, dass das Land auseinander fällt, dann ist das auch eine natürlich Tatsache.
Grote: Wird es dazu kommen? Was glauben Sie?
Perceval: Jetzt höre ich, dass sie endlich nach 140 Tagen zu einer Notregierung gekommen sind, wobei dieses, was man in Belgien nennt, dieses kommunitäre Problem, nämlich die Macht zwischen den Wallonen und den Flamen einfach mal gefrieren, weil letztendlich kann man das nicht so eins, zwei, drei entscheiden. Das muss durch vier, fünf Kommissionen jetzt, unter anderem der König muss da sagen, was er will, um das Land zu reformieren. Also es wird nicht so schnell passieren. Aber ich selber denke immer, gut, was passieren soll, wird passieren. Ich habe da ehrlich gesagt keine Präferenz. Ich würde es schade finden, weil wie gesagt, ich finde bis jetzt haben wir das eigentlich ziemlich gut gemacht. Wir haben einen relativen Frieden in Belgien und ab und zu absurdes Theater, was dazu gehört.
Im Studio ist jetzt der flämische Theaterregisseur Luc Perceval, er ist Hausregisseur der Berliner Schaubühne. Guten Morgen, Herr Perceval.
Luc Perceval: Guten Morgen.
Grote: Sie kommen aus Flamen. Sind Sie auch Belgier?
Perceval: Ich komme aus Antwerpen. Ich habe 30 Jahre in Antwerpen gelebt, gewohnt, gearbeitet. Ich bin Flame. Ob ich unbedingt Belgier bin – eigentlich steht das auf meinem Passport, aber ich glaube, dass jeder Belgier sagen würde, dass er sich nicht unbedingt als Belgier fühlt. Und das hat nicht so sehr mit Fanatismus oder Nationalismus zu tun, das hat vielmehr damit zu tun, dass wir in solch unterschiedlichen Sprachkulturen leben. Also Belgien sind eigentlich vier Sprachgebiete, könnte man sagen. Es gibt ein kleines deutschsprachiges Gebiet. Dann gibt es den wallonischen Teil, wo man französisch spricht, und dann gibt es den flämischen Teil, wo man eigentlich Niederländisch, Holländisch, wie man will, Flämisch spricht, das sind eigentlich alles ähnliche Sprachen. Viele Deutsche fragen mich immer, ist dann Flämisch das gleiche wie Holländisch, und da sage ich immer, ja, das verhält sich immer so wie Irisch zu Englisch zum Beispiel. Aber es ist eigentlich die gleiche Sprache, es hat einen anderen Akzent. Ob wir uns alle jetzt in diesem Land, was eigentlich artifiziell entstanden ist irgendwann, ich weiß auch nicht mehr wo, Anfang des 18. Jahrhunderts – das glaube ich nicht, weil letztendlich, Flandern hat eine Geschichte, die sehr lang verbunden war als Provinz mit Holland. Wallonien war sehr lange ein Teil von Nordfrankreich. Und der deutschsprachige Teil war ein Teil von Deutschland. Und wir sind irgendwie artifiziell durch einen politischen Vertrag zusammengekommen, und so hat man eigentlich Belgien gegründet.
Grote: Also würden Sie gar nicht sagen, dass es so etwas wie das belgische Nationalgefühl gibt.
Perceval: Ach, das belgische Nationalgefühl gibt es natürlich schon. Es gibt auch einen gewissen Stolz, wenn die Nationalmannschaft in Mexiko in den 80er Jahren glaube ich ...
Grote: Ist schon eine Weile her, dass die gut gespielt haben.
Perceval: Es ist schon eine Weile her. Seitdem spielen wir keinen guten Fußball mehr. Wenn die das Halbfinale erreicht haben damals, dann auf einmal stand in allen Zeitungen, König, Sir, es gibt wieder Belgier. Also wir waren damals stolz, aber das ist lange her.
Grote: Wie schwer macht es einem der belgische Staat, sich als Belgier zu fühlen?
Perceval: Ach, ich würde den belgischen Staat nicht beschuldigen, dass die es uns schwierig machen, uns als Belgier zu fühlen. Das ist halt Teil ...
Grote: Aber ist nicht genau das, was gerade passiert, ein Problem der Politiker und der nicht Leute, die in Belgien wohnen?
Perceval: Ja, das schon. Eigentlich ist das, was jetzt passiert in Belgien, völlig absurd. Um mal ganz ehrlich zu sagen, ich verstehe es auch nicht zu 100 Prozent, weil es ist so spezifisch, eine politische Debatte. Um Ihnen ein Beispiel zu geben, ständig fragen mich Leute, ich versuche das zu verfolgen, ich habe gestern bis zwei Uhr morgens auf den Nachrichtenwebseiten Belgiens fünf Professoren gehört, die versucht haben, die Krise zu erklären. Und ich weiß es nach fünf Professoren noch immer nicht, was genau das Problem ist. Man kann es eigentlich reduzieren, wenn ich es gut kapiere, auf ein Hin und Her über zehn wählbare Sitze im Parlament in Brüssel, wo jetzt scheinbar die Franzosen bevorzugt sind und die Flamen eigentlich sagen, aber wir liefern das Geld, wir sind inzwischen der wirtschaftliche Schwerpunkt des Landes, also wir brauchen mehr Ansprüche auf Macht. Aber um ganz ehrlich zu sein, auf der gleichen Website habe ich dann auch gelesen, dass zwei Drittel der Belgier überhaupt nicht weiß, worum es geht. Also die Leute, die in Belgien Leben und die miteinander Leben und die tagtäglich miteinander Geschäfte machen – an die flämische Küste kommen mehr französischsprachige Belgier und Deutsche und Ausländer als Flamen letztendlich. In die wallonische Ardenne kommen ganz viele Holländer und Flamen, haben da ihre Ferien. Also da gibt es überhaupt kein Problem.
Grote: Gibt es keine Vorurteile zwischen Wallonen und Flamen?
Perceval: Die gibt es eigentlich nicht mehr. Ich würde sagen, die Spannung zwischen Flamen und Wallonen, die hat es gegeben bis zum Ersten Weltkrieg. Weil da war es der flämische Teil von Belgien, der eigentlich dominiert wurde, in dem die ganze Gesellschaft von den Franzosen, weil die auf allen führenden Stellen saßen. Auch während des Erste Weltkriegs zum Beispiel, weil alle Frankophonen saßen in Paris mit Generalstitel und weiß ich was, Offizierstiteln. Und die Flamen, das Bauernvolk, wurde eigentlich benutzt als Kanonenfutter. Da ist eigentlich ein großes Gefühl von Unrecht entstanden, und haben die Flamen gesagt, das darf nicht mehr passieren, das hat passiert war in dem Krieg mit Napoleon. Das war in dem Ersten Weltkrieg so, die großen Opfer sind gefallen auf der Seite der Flamen. Und dann ist natürlich eine Art von Emanzipierungsstreit entstanden. Aber inzwischen ist es so, dass die Flamen, die haben Universitäten, die haben ihre Theater, die haben ihre Schulen bekommen. Also inzwischen ist es auch so, dass eigentlich Flandern in Belgien die dynamische Macht ist auch. Wir haben einen der großen Welthäfen in Antwerpen. Flandern ist, sagt man oft, das wirtschaftliche Herz von Belgien. Und es gibt da wenig Grund frustriert zu sein.
Grote: Herr Perceval, was hält Belgien denn überhaupt zusammen?
Perceval: Ich glaube, was Belgien zusammenhält ist eine Art von Solidarität, die ich eigentlich auch richtig finde. Man hat letztendlich dieses Land zur Verfügung bekommen, um zusammenzuleben. Warum würde man es dann auch nicht aushalten und durchhalten? Vieles spricht dafür, das zu trennen, zu sagen, okay. lass uns diese ganze ... Weil das kostet natürlich wahnsinnig viel Geld, wenn man sieht, man hat nicht nur eine flämische Regierung, man hat auch eine deutschsprachige Regierung, man hat auch eine französisch, wallonische Regierung und man hat eine nationale Regierung in Belgien.
Grote: Und jeder hat Außenminister und Innenminister und ähnliches.
Perceval: Alles. Also man hat für ein so kleines Land mit elf Millionen Einwohnern vier Regierungen. Können Sie sich vorstellen, was das kostet an Aufwand? Und natürlich ist da viel dafür zu sagen, lass uns das einfach trennen und das ist für jeden billiger. Andererseits ist es auch so, dass das auch für ein Stück Belgien ist, Belgien würde ich sagen, würde kulturell verarmen, weil letztendlich ist Belgien eines der wenigen Ländern, wo dieses Zuammenlebensmodell auch funktioniert. Ich meine, wir haben nicht das Problem wie die Katalanen mit Spanien und das im Balkan unter den Jugoslawen zum Beispiel, wo das wirklich zu Kriegskonflikten kommt und eigentlich unmöglich ist, zusammenzuleben. Das schaffen die Belgier schon. Das wäre schade, dass das scheitern würde, weil letztendlich ist es auch eine Beispielfunktion, die man haben könnte.
Grote: Früher gab es in ganz Belgien ganz bekannte und bewunderte Personen, der Zeichner Hergé, der Radprofi Eddy Merckx, der Chansonsänger Jacques Brel. Wo sind diese belgischen Symbolfiguren heute?
Perceval: Ja, das ist typisch eigentlich auch für Belgien, dass alle Belgier, die man kennt, die haben alle Karriere gemacht im Ausland. Und das ist auch ein Spruch in Belgien, dass wenn man ein berühmter Belgier werden will, dann muss man ins Ausland.
Moderator: Also die Kultur als verbindenden Faktor funktioniert nicht.
Perceval: Nein, die funktioniert eigentlich nicht. Belgien als Land selber hat natürlich zu wenig Ausstrahlung, was an sich auch merkwürdig ist, weil letztendlich ist Brüssel die Hauptstadt Europas. Und da ist auch das Europäische Parlament, und es ist auch der Hauptsitz von der NATO. Also Belgien hat schon ein paar sehr wichtige Symbolfunktionen, aber trotzdem ist es nicht so, dass ich zum Beispiel als flämischer Regisseur in Brüssel in das frankophone wallonische Theater gegangen bin. Nie. Nicht weil ich da inhaltliche Probleme habe und die Sprache widerlich finde, im Gegenteil. Ich bin zweisprachig in der Schule erzogen. Und nicht auf Deutsch, wie sie hören.
Grote: Aber Sie sprechen ziemlich gut.
Perceval: Na ja, aber es ist halt so, dass Flämisch eigentlich eine germanische Sprache ist. Also aus der Natur der Sprache ist eigentlich eine Art von Theaterkultur entstanden, die viel mehr Verbindung hat mit der deutschen Theaterkultur, mit der holländischen Theaterkultur und sogar mit der englischen Theaterkultur als mit der romanischen, französischen Theaterkultur. Und das ist auch eine völlig andere Theaterkultur. Das ist nicht, dass wir da prinzipiell sagen, igitt, nee, nicht die Franzosen, weil das sind schlechte Menschen. Im Gegenteil, ich habe ganz viele Freunde, die in Wallonien wohnen, und ich bewundere zum Beispiel sehr die französische oder die wallonische Filmszene in Belgien, die sehr stark ist und sehr beispielhaft ist mit den Gebrüder Dardenne. Aber es gibt halt diese Sprachbarriere. Meine Kinder zum Beispiel, die haben gar nicht mehr die Verpflichtung, Französisch auf der Schule zu lernen, weil inzwischen Englisch viel wichtiger ist als wirtschaftliche Sprache, als kulturelle Sprache, um sich über die Grenze zu bewegen, als das französische. In der Generation meiner Kinder ist die Trennung noch größer, würde ich sagen.
Grote: Und doch gibt es eine Liste von Künstlern, die das einheitliche Belgien wollen. Wollen Sie das auch?
Perceval: Wie gesagt, ich würde das auch bevorzugen. Andererseits muss man nie für ein Land kämpfen. Ich finde das immer absurd. Wenn es so ist, dass das Land auseinander fällt, dann ist das auch eine natürlich Tatsache.
Grote: Wird es dazu kommen? Was glauben Sie?
Perceval: Jetzt höre ich, dass sie endlich nach 140 Tagen zu einer Notregierung gekommen sind, wobei dieses, was man in Belgien nennt, dieses kommunitäre Problem, nämlich die Macht zwischen den Wallonen und den Flamen einfach mal gefrieren, weil letztendlich kann man das nicht so eins, zwei, drei entscheiden. Das muss durch vier, fünf Kommissionen jetzt, unter anderem der König muss da sagen, was er will, um das Land zu reformieren. Also es wird nicht so schnell passieren. Aber ich selber denke immer, gut, was passieren soll, wird passieren. Ich habe da ehrlich gesagt keine Präferenz. Ich würde es schade finden, weil wie gesagt, ich finde bis jetzt haben wir das eigentlich ziemlich gut gemacht. Wir haben einen relativen Frieden in Belgien und ab und zu absurdes Theater, was dazu gehört.