Loveparade-Katastrophe 2010

Das Trauma von Duisburg

12:29 Minuten
Auf dem Gelände des Loveparade-Unglücks erinnern Menschenumrisse an der Wand an die Vorfälle.
Auf dem Gelände des Loveparade-Unglücks in Duisburg erinnern schemenhafte Zeichnungen von Menschen an das Unglück am 24. Juli 2010. © laif/ Dominik Asbach
Von Moritz Küpper · 23.07.2020
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21 Menschen starben bei der Loveparade im Juli 2010, mindestens 650 wurden verletzt. Opfern und Angehörigen wurde vielfach Mitgefühl ausgesprochen. Aber wenn es um die Aufarbeitung geht, ist oft die Rede von der Katastrophe nach der Katastrophe.
Der Landtag von Nordrhein-Westfalen, Ende Juni. Hannelore Kraft, sieben Jahre lang SPD-Ministerpräsidentin an Rhein und Ruhr, steht erstmals seit ihrer Abwahl im Mai 2017 am Rednerpult: "Die Loveparade-Katastrophe ist eine offene Wunde am Herzen der Stadt und des Landes." Sie spricht über jenen 24. Juli 2010 in Duisburg, an dem sie selbst erst zehn Tage im Amt war.
"Diese Wunde hat sich nicht geschlossen und schmerzt weiter – auch fast zehn Jahre nach dem Unglück." Kraft konnte damals auch ihren eigenen Sohn nicht erreichen. Ihm passierte nichts. "21 junge Menschen, die fröhlich feiern wollten verloren ihr Leben. Ich möchte ihre Namen nochmal verlesen: Anne, damals 25, Benedikt-Emmanuel, 21, …"

Einstellung des Verfahrens, kein Urteil

Krafts Stimme wackelt, der Landtag, in dem es – auch bei Reden – immer ein Grundrauschen von Gesprächen oder Zwischenrufen gibt, ist mucksmäuschenstill.
Bei der zentralen Trauerfeier in der Duisburger Salvatorkirche hielt Kraft damals eine berührende Rede – aus der sie nun zitiert: "Ihnen allen und nicht zuletzt uns selbst sind wir es schuldig, das Geschehene und Unfassbare lückenlos aufzuklären. Wie konnte das geschehen? Wer trägt Schuld? Wer ist verantwortlich? Auf diese Fragen müssen und werden wir eine Antwort finden. Ich war damals fest davon überzeugt, dass die Fehler ermittelt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Ich habe nicht Recht behalten. Das Strafverfahren ist eingestellt worden. Es sind keine Urteile gesprochen worden."
Gabi Müller verlor 2010 ihren 25-jährigen Sohn Christian. Nachdem sie am 4. Mai dieses Jahres von der Entscheidung des Landgerichts Duisburg erfahren hat, sagte sie. "Ich habe da, glaube ich, alles ausgeschaltet und so was lässt man auch gar nicht an sich ran, gefühlsmäßig."
Müller steht da an der Rolltreppe in der Düsseldorfer Messe, wohin der Prozess aufgrund der Größe verlagerte wurde. Einstellung des Verfahrens. Kein Urteil, keine Schuldigen. Vor ihr stehen – mit Corona-bedingtem Abstand – die Journalisten. "Was soll ich machen? Ich muss das jetzt so akzeptieren", sagt Gabi Müller damals.

Langer Kampf um Aufklärung

All die Jahre kämpfte sie um Aufklärung. Nach dem das Landgericht Duisburg die Eröffnung des Strafprozesses nach jahrelangen Ermittlungen zunächst abgelehnt hatte, sammelte sie mehr als 362.000 Unterschriften. Ein Prozess fand dann doch statt, gegen zehn Angeklagte – denen jedoch keine direkte, strafrechtliche Schuld nachgewiesen werden konnte. Auch und gerade, weil die Zeit drängte
Die Nebenklägerin Gabi Müller sitzt in der Mitte des Bildes, rechts vor ihr steht eine weitere Frau. Müller, blonde Haare und Brillenträgerin, spricht mit dieser Frau.
Gabi Müller spricht beim Beginn des Loveparade-Prozesses am 8. Dezember 2017 mit einer weiteren Nebenklägerin. © picture alliance / dpa / Ina Fassbender
"Wenn da einer verurteilt wird, da gibt es keine gerechte Strafe für. Und es geht mir mit Sicherheit nicht besser, wenn ich jetzt weiß, der und der geht ins Gefängnis", sagt sie. "Deshalb geht es mir gefühlsmäßig nicht besser. Und ich weiß auch, dass es da ganz viele Verantwortliche gibt, für dieses Unglück. Aber meiner Meinung nach haben welche gefehlt. Und das kann ich nur immer wieder wiederholen. Da lass ich mich auch nicht von abbringen."
Die Katastrophe nach der Katastrophe. So werden diese zehn Jahre nach dem 24. Juli 2010 oft genannt, die durch die zehnjährige Verjährungsfrist eben auch eine Art Zäsur darstellen. Keiner der Politiker, wie beispielsweise Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland, CDU, der später per Misstrauensvotum aus dem Amt gewählt wurde, oder auch Loveparade-Organisator Rainer Schaller, übernahmen Verantwortung.

Wer trug die Verantwortung?

Auch in der Landespolitik begann ein Schwarzer-Peter-Spiel, wie Hannelore Kraft im Landtag fast zehn Jahre später einräumt: "Es mag daran liegen, dass Verantwortungsträger, egal wo sie tätig sind, ob in Behörden, Unternehmen oder im politischen Raum, zu oft Verantwortung und juristische Schuldeingeständnisse gleichsetzen und daher vor einer juristischen Aufarbeitung nicht die Verantwortung übernehmen. Wohl auch im Hinblick auf juristische Haftungsansprüche."
So war es auch in diesem Fall. Denn: Nicht nur verzichtete die damalige Ministerpräsidentin Kraft darauf, einen Sonderermittler einzusetzen, wie das in anderen Katastrophen der Fall war, beispielsweise beim verheerenden Großbrand im Düsseldorfer Flughafen im Jahr 1996.
Auch für einen Loveparade-Untersuchungsausschuss gab es im Landtag keine Mehrheit: Die damals neue, rot-grüne Landesregierung wollte die umstrittene Rolle der Polizei nicht thematisieren, die CDU hatte kein Interesse daran, den Scheinwerfer auf den Planungsprozess zu werfen. Und letztendlich hieß es – bei allen Parteien –, man wolle den Ermittlungen der Duisburger Staatsanwaltschaft nicht vorgreifen.

"Katastrophe ohne Bösewicht"

"Loveparade – Die Verhandlung", heißt eine herausragende Arte-Film-Dokumentation über jene 184 Verhandlungstage, die präzise eine der komplexesten Hauptverhandlungen der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte nachzeichnet: "Die Ursachen für die Katastrophe sind vielschichtig. Wir haben ein multikausales Geschehen mit einer Vielzahl von Ursachen. Die Angeklagten handelten nicht sorglos, vielmehr haben sie sich intensiv bemüht, eine sichere Veranstaltung durchzuführen. Das ist – muss man natürlich sagen – letztendlich nicht ausreichend gelungen."
Es sei eine Katastrophe ohne Bösewicht, so hatte es Richter Mario Plein noch gesagt. Von einer "organisierten Verantwortungslosigkeit" bei der Vorbereitung der Loveparade, spricht die Staatsanwaltschaft. Aber: Ist die Einstellung des Verfahrens eine Niederlage des Rechtsstaats?
Regisseur Dominik Wessely drückt sich nicht um eine Antwort: "Also, zu sagen, dieses Verfahren war eine Katastrophe oder ein Dokument des Scheiterns des Rechtsstaats oder ein Versagen des Rechtsstaates, das halte ich für unangebracht, nur weil das Ergebnis sozusagen unbefriedigend ist."
Es gebe einen Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung, so Wessely: "Das auseinanderzunehmen und zu sagen: Ein Gericht hat wirklich zu allererst die Aufgabe, die Frage der möglichen Schuld der Angeklagten zu klären und es ist nicht dazu da, die Frage einer politischen Verantwortung zu klären. Das war ein Lernprozess, das musste ich auch erst für mich verstehen. Und das ist natürlich, glaube ich auch – das was in der Vermittlung des Ausgangs dieses Verfahrens als Ergebnis schwer verdaulich für viele Menschen ist."

Ursachenforschung brachte Ergebnisse

Im 44-seitigen Einstellungsbeschluss steht, dass Ordner und Polizeibeamte, auch aufgrund von Kommunikationsstörungen, Personenströme unkoordiniert steuerten – und dass das Unglück durch einen rechtzeitig gesperrten Zugang zum Festivalgelände noch hätte verhindert werden können.
"Ich würde auch sagen, dass die Frage der Ursachenforschung – wie ist es zu dieser Katastrophe gekommen? – abschließend beantwortet ist", sagt Wessely.
Auch der amtierende Ministerpräsident von NRW, Armin Laschet von der CDU, sagt: "Der Prozess war nicht vergeblich. Denn in dem Strafverfahren hat es viele neue Erkenntnisse gebracht, was denn dort schiefgelaufen ist. Und exakt die wollen wir jetzt aufgreifen, die wollen wir analysieren, die wollen wir dazu nutzen, dass so etwas nie wieder geschieht."
Neben dem Einsetzen einer Kommission entschloss sich das Parlament, den Opfern noch einmal eine einmalige Geldleistung zukommen zu lassen: Der bereits bestehende Fonds "Soforthilfe Loveparade" wurde um fünf Millionen Euro aufgestockt, auch wenn Laschet sagt: "Das finanzielle Signal, das der Landtag heute setzt, ist nur ein Symbol."
Zeitnah, so hieß es in der Landesregierung gegenüber diesem Sender, werde darüber gesprochen, welche Höhe der Leistungsumfang haben, welche Stelle die Zahlungen vornehmen soll und wie dieses Verfahren insgesamt rechtssicher ausgestaltet werden kann.
Unter den Opfern bleibt Skepsis, per E-Mail bittet man Journalisten, den Prozess kritisch zu hinterfragen.
Es ist viel kaputtgegangen, das greift auch Hannelore Kraft in ihrer Landtagsrede auf: "Dies kann man aber später nicht mehr heilen. Weder die Begründung des Gerichts noch die Entscheidung heute des Landtags können den Verlust ungeschehen machen. Es werden Wunden bleiben. Auch Enttäuschung. Auch Wut."

"Klärt endlich mal auf!"

Nun also, nach all den Jahren, eine Kommission. "Da kommt es natürlich entscheidend darauf an, was sie für einen Auftrag hat", sagt Wolfgang Seibel, Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz.
"Wenn das nur so ein Placebo ist, damit die Landesregierung sagen kann: Naja, wir haben doch da diese Kommission – so wie man eben vorher gesagt hat: Naja, wir haben doch da diesen Strafprozess – das wäre neuerlich, fast könnte man sagen, fatal", sagt er. "Also, die muss einen glasklaren Auftrag haben und der Auftrag, der kann nur lauten: Klärt endlich mal auf, wie sich das alles zugetragen hat."
Prof. Dr. Wolfgang Seibel posiert für ein Foto.
Wolfgang Seibel erforscht an der Universität Konstanz Verwaltungshandeln.© Uni Konstanz / Wolfgang Seibel
Seibel erforscht seit Jahren Verwaltungsdesaster: Er hat sich in einem Buch mit dem Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall im Jahr 2006 beschäftigt, mit dem Versagen der Hamburger Jugendbehörden bei der tödlichen Misshandlung eines Kindes 2013, mit dem Unvermögen der Polizei bei der Fahndung nach den NSU-Mördern in den Jahren 2000 bis 2007 -und eben mit der Loveparade-Katastrophe.
"Wenn das Gericht davon gesprochen hat, dass es hier ein sogenanntes multikausales Geschehen gegeben hat, was der Grund dafür ist, dass es einzelnen Persönlichkeiten nicht zurechenbar war, dann ist das natürlich erst recht ein Hinweis darauf, dass genau diese Multikausalität ja aufgeklärt werden muss", verdeutlicht der Wissenschaftler seine Überzeugung. "Und wenn die Justiz auf Basis des Strafrechts das nicht kann, dann, spätestens dann, muss es die öffentliche Hand tun. Und wenn das dann noch immer nicht passiert, dann haben wir wirklich Anlass zur Sorge, weil das dann bedeutet, dass der Staat, der das ja letzten Endes zu verantworten hat, sich auch noch weigert, selbst umfassende Aufklärung zu betreiben."

Bitte um Vergebung

Seibels Begründung ist einfach: "Prävention kann ich immer nur betreiben, wenn ich – bei dem was schiefgelaufen ist – gucke, warum ist es schiefgelaufen. Wenn ich frage: Welche grundsätzlichen Lehren, welche Konsequenzen kann man daraus ziehen? Und wenn das alles nicht passiert, dann handele ich erneut fahrlässig. Und das ist genau der Punkt. Es ist einfach fortgesetzte Fahrlässigkeit, wenn man diese Aufklärung und vor allem auch die verwaltungsmäßige Aufklärung nicht betreibt. Das kann ein Strafgericht nicht leisten. Und deswegen ist auch der Verweis auf den Strafprozess völlig abwegig."
Im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Ende Mai, beendet Hannelore Kraft, eine der zentralen Figuren dieses Jahrzehnts, ja, mittlerweile der nordrhein-westfälischen Landesgeschichte, ihre Rede jedenfalls mit bittenden, fast flehentlichen Worten: "Wir können als die gewählten Volksvertreter an die Betroffenen eine Geste richten, die von Herzen kommt: Wir bitten Sie um Vergebung."
Ob all diesen Worten der Politik nun echte Taten, echte Aufarbeitung folgt, muss sich nun zeigen. Der kräftige Applaus, den das Parlament nach diesen Worten spendet, er könnte sonst ziemlich hohl klingen.
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