Lohnende Wiederentdeckung

Gesehen von Boris Michael Gruhl |
In der erzgebirgischen Stadt Annaberg befindet sich eines der kleinsten Theater Deutschlands: das Eduard-von-Winterstein-Theater. Dort erinnert das Ensemble an den Komponisten Rudolf Wagner-Régeny. Seine Oper "Der Günstling" wurde dort begeistert aufgenommen.
"Der Günstling" war Wagner-Régenys erste große Oper, die Dresdner Uraufführung 1935 unter Karl Böhm ein Erfolg. Caspar Neher, der den Text nach einem Drama Victor Hugos schrieb, sich dazu auch an revolutionären Texten von Georg Büchner orientierte, schuf das Bühnenbild. Über 100 Bühnen spielten die Oper nach.

Für die Nazis war das Werk nicht genehm. Geht es doch darum, dass eine verblendete Königin, Maria Tudor, die Blutige, einen kriminellen Schmarotzer aushält, der sich ihre erotische Abhängigkeit zunutze macht.

In seltener Einheit von Obrigkeit in Gestalt eines Ministers und Untertanen, in Gestalt eines Arbeiters, kann der "Günstling" gegen den Willen der obersten Frau im Staat vernichtet werden.

Das Werk ist ein mitreißender Gang durch die Geschichte des Musiktheaters vom Barock bis in die Zwölftontechnik. Die Musik ist kraftvoll, hat Dramatik, ist dem Fluss der Erzählung verpflichtet, erinnert auch an Brecht und Weill. Es gilt, durch Rückbesinnung auf Formen der Vorklassik den Klangkaskaden in der Wagner-Nachfolge und bei Richard Strauss Klarheit entgegenzusetzen.

Genau das schließt, wie gerade in der Annaberger Premiere zu erleben war, die Emotion nicht aus. Im Gegenteil. Gekonnt eingesetzte und vorgetragene veristische Elemente, Bravourstücke wie Arien und Duette, ein bewegendes Klagegebet, jazzige-tänzerische Passagen wurden spontan mit Szenenbeifall belohnt.

Das Annaberger Theater und die Philharmonie Aue unter der Leitung von Naoshi Takahashi wagen viel. Der Gewinn ist hoch. Das gilt vor allem für die musikalische Wiedergabe. Der Spannungsbogen von den ersten dunklen Streichertönen mit aufsteigenden Klagegesängen des Herrenchores bis zum hymnischen Jubel des trügerischen Schlusses hält. Das Ensemble wirft sich mit hohem Einsatz in das ganz und gar nicht leicht zu bewältigende Klanggeschehen. Es überzeugt in allen Partien mit individuellen, vor allem authentischen Leistungen.

Unbedingt zu nennen ist der junge Bariton Werner Kraus in der Partie des Arbeiters Gil.

Das szenische Geschehen in der Regie von Paul Flieder, auch als Dokumentarfilmer, Buchautor und Kriegsberichterstatter für ORF und Spiegel hervorgetreten, überzeugt weniger. Flieder beschränkt sich auf die Organisation der Abläufe. Der Schriftzug "Wir sind das Volk" auf dem Vorhang und der Chor zum Finale in der Alltagskleidung aller Klassen, das sind nicht mehr als plakative Hinweise auf sonst eher vage ausgeführte Aktualisierungsabsichten. Und da sind einige Chancen vertan.

Die von der Musikalität ausgehende Wirkung bleibt gänzlich unbeeinträchtigt und lässt das begeisterte Publikum jubeln.

Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg
Der Günstling
oder
Die letzten Tage des großen Herrn Fabiano
Oper in drei Akten von Rudolf Wagner-Régeny
Text von Caspar Neher
Musikalische Leitung: GMD Naoshi Takahashi
Inszenierung: Paul Flieder
Ausstattung: Wolfgang Clausnitzer
Chöre: Uwe Hanke
Premiere: 31.01.2010