Lohndumping und Streikverbot in der Kirche

Philipp Gessler im Gespräch mit Friedhelm Hengsbach · 24.11.2012
Kirchenangestellte dürfen bei Lohnverhandlungen nicht streiken. Eine Kommission hat die Gespräche bisher übernommen. Dieser sogenannte Dritte Weg sei eine Sackgasse, sagt der katholische Sozialethiker Friedhelm Hengsbach. Ein Urteil des Bundesarbeitsgericht in Erfurt bestärkt ihn.
Kirsten Westhuis: Wer bei den Kirchen arbeitet, tut das nicht für Gottes Lohn. Die rund 1,3 Millionen Beschäftigten, die vor allem im Bereich der Pflege, Gesundheits- und Sozialdienstleistungen bei den Kirchen und ihren Häusern angestellt sind, werden nach einem gesonderten, kirchlichen Arbeitsrecht beschäftigt – und auch bezahlt. Bei dem sogenannten Dritten Weg wurden Löhne und Gehälter bislang in Kommissionen ausgehandelt, und die Gewerkschaften, zum Beispiel Verdi oder die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, hatten dabei nichts zu melden. Sie konnten ihre Mitglieder bei Kirchen auch nicht zum Streik aufrufen – denn im Dritten Weg ist kein Streikrecht vorgesehen. "Die Erfüllung des Auftrages unseres Herrn ist nicht bestreikbar" – sagte Caritas-Präsident Peter Neher dazu im Deutschlandradio Kultur. In dieser Woche hat nun also das Bundesarbeitsgericht in Erfurt ein Urteil zum Streikrecht in der Kirche und zum Dritten Weg gefällt. Kurz gesagt: Grundsätzlich ja, die Kirche darf einen eigenen Weg im Arbeitsrecht einschlagen, aber sie muss dabei die Gewerkschaften mit an Bord nehmen. Passiert das nicht, darf auch gestreikt werden. Für beide Seiten ist also etwas dabei in diesem Urteil, und mein Kollege Philipp Gessler hat darüber mit dem katholischen Sozialethiker und Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach gesprochen. Als Erstes wollte er wissen, wer denn nun eigentlich als Sieger aus diesem Urteil hervorgegangen ist: die Kirchen oder die Gewerkschaften?

Friedhelm Hengsbach: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, es gibt eindeutige Sieger und eindeutige Verlierer nicht. Die Kirchen haben auf der einen Seite Recht bekommen, dass sie auch ein Sonderarbeitsrecht einrichten dürfen aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechtes, aufgrund des Artikels 140, auf der anderen Seite ist die Klage, die sie eingereicht haben, die Revisionsklage, auch abgewiesen worden. Das heißt, insofern haben auch die Gewerkschaften recht, denn die Kirchen können ihren Sonderarbeitsrechtsweg nur dann aufrechterhalten, wenn sie die Gewerkschaften organisatorisch einbinden und wenn die Beschlüsse ihrer Kommissionen verbindlich sind und nicht durch irgendeinen Bischof oder durch ein Schiedsgericht dann noch mal schräg verbessert werden können oder verschlechtert werden können.

Philipp Gessler: Sie haben das ja angesprochen, beide Seiten stellen sich jetzt in der Öffentlichkeit als Sieger dar. Ist denn das beides eine Lüge oder ist das in gewisser Weise richtig?

Friedhelm Hengsbach: Es wird sicher auch schöngeredet. Ich habe eher den Verdacht, dass die Kirchen vor ganz herausragenden Forderungen stehen und auch damit konfrontiert sind. Die Kommissionsbeschlüsse sind ja gegenwärtig, jedenfalls bei der katholischen Kirche, nicht durch ein Verhandlungsgleichgewicht gekennzeichnet. Also, die Arbeitnehmerseite, wenn die Gewerkschaften organisatorisch nicht eingebunden sind – und das sind sie in der katholischen Kirche überhaupt nicht –, dann könnten beispielsweise Katholiken oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kindergärten oder auch in Krankenhäusern streiken. Auf der anderen Seite hat das Arbeitsgericht den Kirchen – beiden Kirchen – zugestanden, dass sie ein Sonderarbeitsrecht einrichten können aufgrund des Selbstbestimmungsrechtes, und das ist auf die Dauer sicher höchst fragwürdig.

Philipp Gessler: Warum ist das denn fragwürdig?

Friedhelm Hengsbach: Fragwürdig ist, dass sie ein individuelles Grundrecht auf Koalitionsfreiheit und natürlich auch, das den Streik einschließt, vergleichen und abwägen mit einem institutionellen Grundrecht auf der einen Seite. Und zum anderen, wer sagt denn überhaupt, dass in diesem Artikel aus der Weimarer Reichsverfassung, da es ja auch Streikrecht im Bereich der Kirchen gab, wer sagt, dass aus diesem institutionellen Grundrecht aus der Weimarer Reichsverfassung ein Sonderarbeitsrecht folgt? Das heißt es nur, dass die Kirchen das Recht haben, ihre Angelegenheiten selbstständig zu regeln. Wer sagt denn, dass wenn die Kirchen sich des allgemeinen Arbeitsrechtes bedienen, des individuellen Arbeitsrechtes, und das kollektive ausschließen, dass sie dann nicht auch unter dem allgemeinen Arbeitsrecht doch stehen. Das hat das Gericht auch gesagt, das ist kein rechtsfreier Raum, die Kirchen müssen die Gewerkschaften organisatorisch einbinden, und ihre Beschlüsse müssen wirklich wie Tarifverträge verbindlich sein.

Philipp Gessler: Ist denn dieser dritte Weg der Kirchen im Arbeitsrecht, also die Sozialpartnerschaft ohne den großen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, noch zeitgemäß? Wir leben doch in einer Zeit, in der anders als früher nur noch ein winziger Prozentsatz der Tätigen in diesen Einrichtungen einen klar kirchlichen Hintergrund haben, zum Beispiel Diakonissinnen oder Nonnen sind.

Friedhelm Hengsbach: Ich halte die Inanspruchnahme eines Sonderarbeitsrechtes im Bereich der Kirchen als für völlig überdehnt, weil da wird einfach die religiöse Dimension vermischt mit der arbeitsrechtlichen, und das geht auch nach theologischem und weltanschaulichem Verständnis überhaupt nicht. Man muss unterscheiden, was ist der Bischof als Leiter einer Glaubensgemeinschaft und was sind die Einrichtungen als Teile der Kirche mit einem Sendungsauftrag und was ist die arbeitsrechtliche Regelung, und das darf nicht vermischt werden. Wenn man das vermischt, dann ist das Ideologie oder ist so ein antigewerkschaftlicher Affekt einer bürgerlichen Kirche.

Philipp Gessler: Das Streikrecht, wenn ich das richtig verstehe, ist ja zumindest in der katholischen Kirche und ihrer Soziallehre auch als Menschenrecht anerkannt.

Friedhelm Hengsbach: Als Menschenrecht nicht. Es ist das Recht der abhängig Beschäftigten, und das ist immer das, was die Kirchen so vertuschen und vor allen Dingen auch die katholische Kirche vertuscht. Sie redet von einer Dienstgemeinschaft, dass wir alle in einem Boot sitzen, und erkennt nicht den Interessengegensatz, den es auf der einen Seite zwischen demjenigen, der über den Arbeitsplatz verfügt, das heißt über die Produktionsmittel verfügt, das sind die Dienstgeber, und den anderen, die praktisch nur ihr Arbeitsvermögen zur Verfügung stellen, also die abhängig Beschäftigten. Dass es zwischen denen einen Interessengegensatz gibt, das wird immer vertuscht. Und der ist da, dieser Interessengegensatz, und der drückt sich auch aus, dass zumindest in den Verhandlungen eine gleichgewichtige Verhandlungslage da ist. Wenn die nicht da ist, sind diese Kommissionsbeschlüsse im Grunde das Ergebnis kollektiven Bettelns.

Philipp Gessler: Ist denn der Dritte Weg dann, wie Sie das jetzt beschreiben, nicht für viele kirchliche Einrichtungen einfach ein Trick, billiger an Personal ranzukommen?

Friedhelm Hengsbach: Also es ist eher der Trick, dass man so eine religiöse und weltanschauliche Dimension in eine arbeitsrechtliche Form pressen will und damit natürlich auch die Möglichkeiten an, gleichsam an das Herz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heranzukommen und sie bei ihrer religiösen Motivation zu packen, dass sie eben auch Arbeitsbedingungen dulden, die in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst so nicht möglich sind.

Philipp Gessler: Manche Kirchen waren ja da besonders oder manche Unternehmen waren ja besonders dreist und haben ausgehandelte Tarife beiseite gelassen und hinterher einfach sich für günstigere Kirchentarife entschieden. Das zeugt nicht gerade von dieser christlichen Dienstgemeinschaft, an die man sich ja eigentlich gebunden fühlt.

Friedhelm Hengsbach: Also die Kirchen, beide, und auch die Caritas und Diakonie stehen natürlich unter dem Druck, dass der frühere Sozialstaat immer mehr zum Wettbewerbsstaat geworden ist. Er hat die Wohlfahrtsverbände in einen zum Teil gnadenlosen Wettbewerb untereinander getrieben. Beispielsweise hat die Caritas an die Diakonie soziale Einrichtungen verkauft, und die Diakonie hat sofort erst mal die Löhne für alle etwa zehn Prozent gesenkt. Also Wettbewerb untereinander und dann noch mal Wettbewerb der gemeinnützigen Einrichtungen mit den privaten Einrichtungen, die natürlich dann noch einmal andere Tarife anbieten können und so also Lohndumping betreiben können, was dann wieder die gemeinnützigen Wohlfahrtsverbände unter diesen entsprechenden Wettbewerbsdruck setzt. Ich halte es für verantwortungslos, dass die Kirchen gerade ihre Bündnispartner, die infrage kommen könnten, um gegen diesen Sozialstaat, diesen entarteten Sozialstaat eine Gegenmacht aufzubauen, nämlich die Gewerkschaften, dass sich derer Bündnisfähigkeit gleichsam verweigern. Das halte ich für verantwortungslos. Sie könnten eigentlich, wenn sie alle zusammenstehen würden und auch mit den Gewerkschaften gegen diese Politik der Vermarktung oder Kommerzialisierung der sozialen Einrichtungen Stellung beziehen würden, dann könnten sie auch wahrscheinlich ganz andere Arbeitsbedingungen zulassen.

Philipp Gessler: Wie lange wird denn die Kirche den Dritten Weg noch für sich beanspruchen können, denn die Mitgliederzahl bröckelt seit Jahren immer weiter, und recht bald werden die Christen in dieser Gesellschaft ja nicht mehr in der Mehrheit sein?

Friedhelm Hengsbach: Der Druck kommt von außen. Das sieht man ja jetzt, dass zum Beispiel das Bundesarbeitsgericht den Kirchen Bedingungen auferlegen kann, wie sie ihr Sonderarbeitsrecht gestalten müssen. Und dieser Druck wird zunehmen. Der wird von Europa aus zunehmen, und er wird möglicherweise auch aus der Politik heraus zunehmen, dass also diese Sonderarbeitsregelungen nicht ohne Weiteres mehr zugelassen werden und noch viel schärfer mit Bedingungen erfüllt werden.

Philipp Gessler: Wie erleben – das haben Sie ja angedeutet – derzeit in der Bundesrepublik ja fast periodisch eine Diskussion um die Vorrechte der Kirchen und Religionsgemeinschaften, also Stichwort Religionsunterricht, Beschneidungen und jetzt das Arbeitsrecht der Kirchen. Bedeutet das, dass es einen Säkularisierungsschub gibt, der kaum mehr aufzuhalten ist?

Friedhelm Hengsbach: Ich würde das so sehen. Ich würde den Säkularisierungsschub natürlich jetzt nicht als eine Bedrohung der Kirchen ansehen, sondern als eine Freisetzung der Kirchen. Es ist ja so, dass diese Dienstgemeinschaft und diese Aussperrung der Gewerkschaften aus den kirchlichen Einrichtungen ja wirklich eine deutsche, fast könnte man sagen germanische Eigentümlichkeit ist. Das gibt es in der ganzen Welt nicht. Selbst der Vatikan und andere Kirchen auf der Welt schließen, wenn sie solche Einrichtungen haben, natürlich mit den Gewerkschaften entsprechende Tarifverträge ab. Also, diese Sonder-, ich würde sagen -privilegien, die so im Laufe der Zeit, in der Nachkriegszeit und mit wohlwollenden Gerichtsurteilen eben halt auch unterfüttert worden sind, die lassen sich auf die Dauer nicht aufrechterhalten, und ich denke, der Dritte Weg ist eine Sackgasse.

Philipp Gessler: Vielleicht zum Abschluss: Wie bei diesem Streitfall hat man manchmal den Eindruck, als klammerten sich gerade die katholischen Bischöfe noch an ein Kirchenbild aus den 50er-Jahren, als eine scheinbar heile katholische Welt da war, die doch eigentlich längst vergangen ist. Ist das auch Ihr Eindruck?

Friedhelm Hengsbach: Also, ich finde, wenn man den Demokratisierungsprozess sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche wirklich ernst nehmen würde, dann könnte man sich also ganz offen auch auf die in der Gesellschaft üblichen Verfahrensweisen einlassen, ohne dass man da praktisch an innerem Gewicht verliert. Die Gewerkschaften werden immer als Feind betrachtet, man spricht immer von kirchenfremden Gewerkschaften – dabei sind Tarifverträge … natürlich lassen sich Tarifverträge nicht ohne Druck der von Haus aus unterlegenen Seite durchführen. Tarifverträge sind Formen der friedlichen Konfliktregelung, und diese friedliche Konfliktregelung auf gleicher Augenhöhe, das ist beispielsweise für die katholische Kirche etwas, was so im Verständnis der Bischöfe, aber auch im Verständnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihrer Vertretungen, also der Mitarbeitervertretungen, eher gefürchtet wird.

Philipp Gessler: Das heißt, im Grunde fehlt es der katholischen Kirche auch in dieser Hinsicht an Demut?

Friedhelm Hengsbach: An Offenheit gegenüber dem, was in der Gesellschaft an langjährigen Lernprozessen sich positiv herausentwickelt hat. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde ja gesagt, dass die Kirche eigentlich dankbar ist auch für die Veränderungen, die positiven Veränderungen, die sich in der Gesellschaft ergeben haben – Demokratisierung beispielsweise, Gleichberechtigung der Frauen, Abbau von Hierarchien. Aber hier in der deutschen Kirche hat man eher Angst, dass man sich auf solche Wege der offenen Gesellschaft als offene Kirche auch einlässt.


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