Loblied der Naivität

Von Julia Friedrichs |
Mit dem neuen Jahr ist auch die Zeit für gute Vorsätze gekommen. Und die sind in der Regel ziemlich pragmatisch. Kein Wunder, denn der Wunsch nach weniger Hüftspeck mag ja noch halbwegs realistisch sein. Der Wunsch nach einer besseren Welt dagegen ist ziemlich naiv, sagt Julia Friedrichs.
Was sind wir doch für Egoisten. Auf den Listen der guten Vorsätze für 2012 stehen laut Umfragen folgende Punkte ganz oben: Stress vermeiden. Mehr Zeit mit Freunden und der Familie verbringen. Mehr bewegen. Gesünder ernähren. Abnehmen. Wir wollen uns selbst optimieren. Unser eigenes kleines tolles Ich soll noch besser, noch schöner werden. Als wäre das das dringendste Problem.

Aber so ist er nun einmal, der modernde Mensch. Er kämpft, sagt der Soziologe Klaus Hurrelmann, eher für ein besseres Ich als für eine bessere Welt.

Die amerikanische Familie Salwen, sie Unternehmensberaterin, er Journalist, waren diesem selbstoptimierten Traum schon ziemlich nahe. Zwei Kinder, ein Traumhaus in Atlanta, viel Geld, dass sie für Fitness, Freunde und eine tolle Ernährung ausgeben konnten. Aber dann trat an einer roten Ampel die Naivität in ihr Leben.

Hannah, die 14-jährige Tochter der Salwens, erblickte einen Obdachlosen an der Ampel. Auf der anderen Seite hielt ein schwarzer Mercedes. "Wenn der Mann in dem Mercedes nicht so ein schönes Auto hätte, könnte der Obdachlose etwas zu essen haben", sagte sie. Ihr Vater korrigierte sie: "Wenn wir kein so schönes Auto hätten, könnte der was zu essen haben." Ein Jahr später verkauften die Salwens ihr Traumhaus und zogen in ein bescheideneres Heim. Mit der Differenz, 600 000 Euro, unterstützen sie 30 000 Ghanaer mit Mikrokrediten, damit die sich ein Leben ohne Armut aufbauen könnten. Natürlich fanden das viele Leute bewundernswert. Aber vor allem provozierte das Verhalten der Salwens Häme und Verachtung. Sie waren nun naive Gutmenschen. Und die, so scheint es, mag niemand.

Dutzende Autoren haben in den letzten Jahren Hunderttausende Bücher verkauft, in denen es vor allem darum ging, mit scharfen verbalen Geschützen auf naive Gutmenschen wie die Salwens zu schießen. Die Gesellschaft für deutsche Sprache schreibt: Seit dem Ende der 90er-Jahre werde der Begriff "Gutmensch" inflationär gebraucht und zwar durchweg distanziert und kritisch, ja abschätzig und polemisch, als Diffamierung des moralischen Arguments. Warum eigentlich? Um unser eigenes schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen? Damit wir uns nicht eingestehen müssen, dass wir uns anders, besser verhalten sollten?

Egal, warum - die Naivität, das Kerncharakteristikum des Gutmenschen, gilt als einfältige Haltung, nicht mehr angemessen in einer immer komplexer werdenden Welt. Das Lexikon umschreibt "naiv" mit den Worten unbefangen, kindlich, arglos. Eigentlich keine per se schlechten Eigenschaften. Und so gab es eine Zeit, in der das hohe Lied der Naivität gesungen wurde. Kant pries den Naiven als ursprünglich, natürlich Aufrichtigen und Schiller lobte den Naiven, weil es ihm gelänge, "aus eigener schöner Menschlichkeit" zu vergessen, dass er es mit einer verdorbenen Welt zu tun hätte.

Warum geben wir nicht mehr ab, obwohl wir so reich sind? Warum achten wir nicht darauf, was wir kaufen? Nur vier Prozent der verkauften Lebensmittel sind "bio". Nicht mehr als acht Prozent der Haushalte beziehen Ökostrom. Obwohl uns das alles doch angeblich so wichtig ist. Ich weiß, diese Fragen sind naiv. Aber vielleicht irren wir uns. Vielleicht ist es auch in einer so komplexen Welt nicht anders als vor 200 Jahren. Vielleicht sind die wesentlichen, die wichtigen Fragen immer naiv.

Was wäre also, wenn wir aus "eigener schöner Menschlichkeit" eine ernsthafte Liste der guten Vorsätze anfertigen würden? Wenn wir schrieben: Ich will spenden, einen Teil meines Wohlstands abgeben. Ich will dafür Sorge tragen, dass meinetwegen nicht mehr so viele Tiere in Agrarfabriken gequält werden. Ich will meinen Konsum einschränken, damit nicht mehr so viel produziert und weggeworfen wird. Und ich stelle auf Ökostrom um - nicht irgendwann 2012, sondern heute.

Das wäre doch keine schlechte Art, das neue Jahr zu beginnen. In der naiven Hoffnung, dass sich der ein oder andere anschließt.

Julia Friedrichs, Jahrgang 1979, arbeitet seit ihrem Journalistik-Studium als freie Autorin von Fernsehreportagen und Magazinbeiträgen. Im Jahr 2007 wurde sie für eine Sozialreportage mit dem Axel-Springer-Preis für junge Journalisten und dem Ludwig-Erhard-Förderpreis ausgezeichnet. Bisherige Buchveröffentlichungen: "Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen" (2008), "Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht" (mit Eva Müller und Boris Baumholt, 2009), "Ideale. Auf der Suche nach dem, was zählt" (2011).


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Die Journalistin Julia Friedrich
Julia Friedrichs.© Gerrit Hahn / Hoffmann & Campe