Lob der Skizze

Von Siegfried Forster · 06.11.2008
Eine Kunstausstellung macht den Auftakt für eine Pierre-Boulez-Hommage der besonderen Art. Der weltberühmte Komponist ist drei Monate lang Ehrengast im größten Museum der Welt. Gezeigt werden im Pariser Louvre-Museum seine graphischen und kunsthistorischen Einflüsse. Im Louvre-Auditorium führt er zehn seiner Werke auf, er hält einen Vortrag und nimmt an einem internationalen Kolloquium zum Thema "Moderne und Unvollendetheit" teil.
Wie sehr der Reiz des Unvollendeten zu seinem Lebenswerk gehört, zeigt er in der von ihm mit konzipierten Kunstausstellung: "Pierre Boulez. Oeuvre : fragment" – Werk : Fragment", in der nicht nur seine Lieblingsmaler Paul Klee und Alberto Giacometti zu sehen sind.
Siegfried Forster:

Revidieren, neu bearbeiten, erweitern – "Sur Incises" - Boulez komplexes Werk für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuger weist uns den Weg in sein grafisches Universum. Ein winziger Ausschnitt aus diesem Werk erschallt im Hintergrund. Musik und Malerei: innere Harmonie und äußere Form. An den Wänden hängen minimalistische Zeichnungen: von Delacroix, Cézanne, Kandinsky bis Picasso - dirigiert von Boulez. Was erfahren wir hier Neues über Sie, Monsieur Boulez?

"Nichts Neues. Das ist mein Universum, meine Welt, seit Jahren und Jahren und Jahren. Ich bin immer von der Malerei sehr beeindruckt. Ich finde, manchmal man findet die Lösung seiner eigenen Probleme in der Musik, man findet, wenn man sieht irgendjemand hat diese selben Probleme, diese Art von Problemen gelöst in seinem Feld, eben der Malerei."

Im Louvre hängen Boulez’ Lieblingsmaler nicht als Museumsstücke, sondern als sichtbares Faible für den Schaffensakt, eine Hymne auf "work in progress". Das Unvollendete, das Unerwartete, das im Umsturz die Tradition Bewahrende als absolutes Meisterwerk: Jedes Oeuvre an der Wand hat Boulez als Teil seiner künstlerischen Vision abgesegnet: Beim Romantiker Delacroix beginnt das Eigenleben künstlerischer Bruchstücke, die anschließend immer größeres Ansehen genießen. Beuys Selbstporträt als Bleistiftzeichung, Brancusis grandiose Aktstudie aus einem halben Dutzend Strichen, Kupka liefert eine Schwarz-Weiß-Interpretation der Abstraktion. Für Boulez entspricht die Mosaik-Form einer Paul-Klee-Malerei der Spiral-Form innerhalb seiner Musik:

"Die Spirale ist immer perfekt. Also man fängt an eine Spirale, man hört auf. Gut, das ist eine Form. Man geht weiter in der Spirale, ein oder zwei Mal, man stoppt wieder. Das ist auch eine perfekte Form."

Das Werk von Paul Klee, das jeden Bilderrahmen sprengte, hatte Pierre Boulez 1947 in einer Ausstellung entdeckt. Bezeichnenderweise waren es kleinformatige, intime Werke, die damals seine Gefühle und seinen Blick in Beschlag nahmen. Boulez sieht Bruchstücke und Teile des künstlerischen Schaffensprozesses immer als Teil des Ganzen und Größten. Deshalb hat er Degas’ unkonventionelle Faltenwurf-Skizze ausgewählt. Sie weist über die Endfassung hinaus, gewinnt ein abstraktes und universelles Eigenleben. Den Hang zur Perfektion und Maßlosigkeit hat Pierre Boulez mit Größen wie Ingres, dem Meister des Strichs, oder Picasso, dem Meister der Moderne, gemeinsam, bekräftigt Kuratorin Marcella Lista:

"Beide praktizieren eine gewisse Maßlosigkeit, sie wollen Werke, die absolute Meisterwerke sind. Picasso bezieht sich auf Balzacs Erzählung 'Das unbekannte Meisterwerk', in der ein Maler versucht ein absolutes Meisterwerk zu machen und letztlich durch seine Perfektionssucht wieder zerstört. Dieses unmögliche Streben nach Perfektion ist auch bei Picassos Werk 'Les Demoiselles d’Avignon' am Werke, er wischt Sachen weg, malt sie neu, schafft Bruchstücke und bringt mehrere Malstile in einem Werk zum Ausdruck und hinterlässt schließlich sein Werk unvollendet."

Ingres Vorstudie zu seinem unvollendeten Meisterwerk "Das Goldene Zeitalter" ist ebenfalls eine Hommage an die Perfektion des nicht Endgültigen. Zehn Jahre lang hat Ingres an "L’Age d’or" gearbeitet und paradoxerweise nicht in seinem Hauptwerk, sondern in seinen Skizzen sämtliche Entwicklungen der Moderne vorweggenommen. Ein versteckter Hinweis darauf, dass auch Boulez in seinen ersten Partiturentwürfen noch avantgardistische Klänge versteckt hat?

"Nicht ganz. Weil zum Beispiel die Skizze einer Musik kann man nicht spielen. Aber die Skizze einer Malerei, das kann man zeigen. Auch wenn das nicht fertig ist, man kann sehen das als einen Moment der Erfindung. In der Musik – wenn es beispielsweise eine erste Fassung und eine zweite Fassung gibt, die man spielt, das kann man vergleichen. Aber nur Skizzen, das ist unmöglich, weil die Musik spielt mit der Zeit und die Malerei spielt nicht mit der Zeit. Deshalb kann man Skizzen sehen, weil die Zeit ist die selbe wie für eine große Malerei. In der Musik, das spielt eine ganz andere Rolle."

Räumlich und zeitlich auf einer Ebene wie die Zeichnungen befinden sich die Partituren, die nicht hängend an der Wand, sondern liegend in Glaskästen präsentiert werden. Bei "Eclat" nimmt Boulez sich ähnlich wie Ligeti die Freiheit farbiger Anmerkungen, begnügt sich aber bei seiner Notenschrift mit kleinstem Raum, während Strawinskys "Sacre du printemps"-Noten sich brutal Platz verschaffen. Sind Partituren als Zeichnungen oder Gemälde zu verstehen? Hat Pierre Boulez jemals zuerst zum Pinsel gegriffen bevor er Musik komponierte?

"Nein, also ich komponiere immer mit dem Material. Und ohne Material kann ich nicht komponieren. Also abstrakt denke ich natürlich am Anfang. Aber ansonsten, wenn ich mich engagiere in einer Komposition, dann muss ich mich mit dem Material engagieren, weil das Material gibt mir die Ideen."