Lob auf den untreuen Wähler

Von Karl Otto Hondrich |
Schon lange wissen die Wahlforscher: die Bindung der Wähler an ihre Partei ist schwächer geworden. Schwache und prekäre Bindungen - das klingt nach Instabilität. Aber der Eindruck täuscht. Was die Parteien verunsichert, sichert den demokratischen Prozess. Denn die Demokratie lebt von der Konkurrenz der Parteien und dem Wechsel der Regierungen.
Wie sollte es zum Regierungswechsel kommen, wenn nicht der Wähler die Partei wechselte? Dem untreuen Wähler als Grundpfeiler der Demokratie hat denn auch der klarsichtige Sebastian Haffner schon vor Jahren ein ehrendes Denkmal gesetzt. "Bekenntnisse eines Wechselwählers" heißt sein Buch.

Man mag den Wechselwähler heimatlos nennen, weil er sich bei einer Partei nicht oder nicht mehr zu Hause fühlt. Man kann aber auch sagen, dass er sich eine zweite Parteiheimat schafft. Die Pointe bei diesem Vorgang ist allerdings, dass der Wähler, indem er die Partei wechselt, vielleicht ohne es wahrzunehmen und ohne sich dabei wohl zu fühlen, eine dritte Heimat findet, nämlich die Demokratie als geregelten Machtwechsel. Wer demokratischen Machtwechsel nicht nur für generell sinnvoll hält, sondern, wie der Wechselwähler, manchmal unter Schmerzen, selbst betreibt, der ist in der Demokratie angekommen.

Das demokratische System ist kein Wert an sich und kein Selbstzweck. Es ist ein Lernsystem. Es lernt durch Versuch, Irrtum und Revision. Es sucht die Lösung für bestimmte Probleme, heutzutage besonders Arbeitslosigkeit. Den Lösungsversuch vertraut es, über den Wähler, einer Regierungspartei oder -koalition an. Misslingt der Versuch, sollte, über Wahlen und Regierungswechsel, ein alternativer Versuch zum Zuge kommen.

Demokratie als Versuchs-Irrtums-Lernen ist nicht nur eine theoretische Idee, sondern ein durch und durch volkstümliches Konzept: die einen haben ihre Chance gehabt, jetzt sollen es die andern versuchen! Dies ist die Grundstimmung, die die Opposition an die Regierung trägt. Nicht nur die Anhänger von CDU/CSU und FDP denken so. Im Grunde fühlen Linke, Grüne und Sozialdemokraten genauso, bis hinauf zum Kanzler

Der Wähler hat allerdings ein Problem: In dem, was die CDU/CSU anzubieten hat, kann er eine Alternative zur laufenden Schröderschen Politik kaum erkennen, allenfalls eine Fortsetzung des Hüh und Hott zwischen Sparen und Schulden, Steuersenkungen und Steuererhöhungen.

Das war nicht immer so. Im Lernsystem der alten Bonner Republik boten die großen Parteien dem Wähler eine deutliche Alternative zwischen zwei gegensätzlichen Gerechtigkeiten. Konservativ-liberale Regierungen, beginnend mit Adenauer und Erhard, räumten den Tüchtigen Freiheit der Märkte und Gewinne ein und bauten auf Leistungsgerechtigkeit. Sozialdemokratisch geführte Regierungen hielten im Namen von ausgleichender Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit dagegen.
Das System geriet aus den Fugen, als die Regierung Kohl, um den armen Osten zu integrieren, ein Übermaß an ausgleichender Gerechtigkeit aufbieten musste; wohingegen die Sozialdemokraten anschließend, entgegen ihrem Selbstverständnis, nicht umhin konnten, eine Politik der sozialen Härten zugunsten der Leistungstüchtigen einzuleiten. Da stehen wir heute. Nun präsentiert sich die SPD als Partei der Leistung und der ausgleichenden Gerechtigkeit. Die CDU/CSU ebenso. Beide Parteien wollen alles, und beide wollen dasselbe. Die Alternative liegt nicht mehr zwischen ihnen, sondern in jeder von ihnen drin. Deshalb bieten beide dasselbe Bild: unscharf, ohne klare Konturen, hin und her gezogen.

Dem Wähler geht es ähnlich. Er ist unschlüssig und ratlos. Aber heimatlos ist er nicht. Im Gegenteil, er hat zuviel Heimat. Er erkennt sich in beiden Parteien wieder. Auch er will ja alles: Leistungsgerechtigkeit und ausgleichende Gerechtigkeit in einem. Nur: alles geht nicht, und alles zugleich erst recht nicht.

Ein politisches Lernsystem mit starken Alternativen wird erst wieder funktionieren, wenn die Parteien erkennen und mutig genug sind, es zu sagen: Gesellschaftliche Werte liegen im Konflikt. Wachstum und Gleichheit lassen sich nicht zugleich verwirklichen, leistungs- und ausgleichende Gerechtigkeit auch nicht. Dies ist nicht die Stunde der sozialen Gerechtigkeit, sondern der Leistung. Der Wähler weiß es, zumindest ahnt er es. Er ist auf der Suche nach der Partei, die ihn aus der Lähmung des Sowohl Als Auch herausführt.

Karl Otto Hondrich, geboren 1937, lehrt Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main. Seine letzten Buchveröffentlichungen: "Solidarität in der modernen Gesellschaft" (mit Claudia Koch-Arzberger), "Lehrmeister Krieg", "Der Neue Mensch" und "Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft".