Liveticker im Web

"Ein Puzzleteil in Großaufnahme"

Auf der Website eines E-Mail-Providers wird am 20.12.2012 in Frankfurt am Main (Hessen) auf den "Weltuntergang im Live-Ticker" hingewiesen, der mit einem Klick zu erreichen ist.
Vom Fußballspiel über die Krim-Krise bis zum von den Maya angekündigten Weltuntergang: Newsticker im Web gibt es zu allem. © dpa / picture alliance / Frank Rumpenhorst
Moderation: Dieter Kassel · 07.03.2014
Newsticker haben sich nicht nur im Sport, sondern auch bei politischen Ereignissen wie der Krim-Krise durchgesetzt. Der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler findet das in Ordnung - solange die Deutung der Meldungen nicht vergessen wird.
Dieter Kassel: Das große Problem vieler Zeitungen ist, dass immer weniger Menschen Lust haben, morgens zu lesen, was einen Tag vorher passiert ist. Das wissen die Anbieter von Informationsseiten im Internet ganz genau und belassen es längst nicht dabei, über das zu berichten, was vielleicht vor ein paar Stunden erst passiert ist. Mit sogenannten "Newstickern" ist man live dabei, erfährt scheinbar alles in dem Moment, in dem es auch passiert.
In unserem Studio in Bremen begrüße ich jetzt den Medienwissenschaftler Bernd Gäbler. Schönen guten Morgen, Herr Gäbler.
Bernd Gäbler: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Ist es das richtige Wort? Kann man das berichten nennen, was in Livetickern passiert?
Gäbler: Ja, es ist schon ein Bericht. Es ist eine mediale Vermittlung von Ereignissen. Das ist ja das Wesen des Mediums, das es sich in die Mitte schiebt zwischen einer Realität und einem Rezipienten angesiedelt ist. Die Idee ist natürlich – und das gilt für das Bestreben vieler Medien -, den Abstand zwischen Ereignis und Bericht über das Ereignis zu minimieren, also, wenn man so will, die Illusion zu schaffen des Dabeiseins. Es gab mal einen Sportsender, der hatte den schönen Slogan "mitten drin statt nur dabei". Dieses mitten drin sein wird versucht, das heißt, den Eindruck zu erwecken, man sei live dabei.
Dieses Live-Erlebnis ist ursprünglich natürlich angesiedelt bei elektronischen Medien, die unmittelbar etwas in Bild oder Ton übertragen. Das wird jetzt transportiert in die Gestaltung Schrift/Sprache und das wirkt ein bisschen paradox oft, weil es eigentlich eine gestaltete Form ist, die aber so tut, als sei sie unmittelbar, also nicht gestaltet, die authentisch sein will, direkt sein will, fragmentarisch, emotional. Darum kann es Fassetten einer Wirklichkeit übertragen, man darf nur nie glauben, dass es Deutung überflüssig macht.
Kassel: Sie haben jetzt gesagt, es wird der Eindruck erweckt, es könnte sein. Das heißt, ein bisschen Gaukelei ist auch dabei?
Wenn Ticker widersprüchliche Aussagen liefern
Gäbler: Nicht Gaukelei, sondern man muss sich vergewissern und man braucht die Kompetenz zu sagen, was ist da, was ausgesagt wird, und es ist immer eine fragmentarische unmittelbare Erfahrung, die in Sprache ausgedrückt wird. Man könnte auch sagen, wir gucken ein Puzzleteil in Großaufnahme an. Damit wissen wir noch nicht sehr viel über das Puzzle, aber vielleicht über dieses Teil.
Zum Beispiel das, was Sie ja auch in dem Vorsetzer erwähnt haben: Was war da genau los mit dem OSZE-Beauftragten auf der Krim? Da gab es in den vielen Newstickern sehr unterschiedliche und sich widersprechende Aussagen. Manche haben gesagt, der wird verfolgt, andere haben gesagt, der hat sich ins Café zurückgezogen, dann haben welche gesagt, der hat sich ins Hotel zurückgezogen. Das ist unklar. Aber durch diese fragmentarischen Eindrücke haben wir dann dennoch insgesamt irgendwie ein Gefühl für die Lage.
Die Frage ist ja, dass oft die deutende Erzählung, die natürlich wichtig ist, wenn Sie so wollen, die Gestaltung der Nachricht, die Skulptur schöner ist, kompletter wirkt, aber vielleicht auch Erfahrungen reduziert. Hier sehen wir sozusagen nicht das Kunstwerk, die Skulptur, sondern gleichzeitig wird Stein, Hammer und Meißel vorgezeigt.
Kassel: Mir geht es aber manchmal so, als ist es noch mehr als das. Wenn wir jetzt gerade schon bei Vergleichen sind, Sie haben Stein, Hammer und Meißel zum Schluss erwähnt. Ich habe das Gefühl, es ist manchmal aber auch so, als ob ein Koch anstatt mir ein Essen zu kochen mir einfach die Zutaten auf den Tisch legt.
Gäbler: So ist es! – So ist es!
Kassel: Dann würde ich dem Koch aber sagen, Sie haben Ihren Job noch nicht zu Ende gemacht.
Gäbler: Genau. Darum lesen Sie ja auch, wenn Sie Ihren Nachrichtenblock haben, den wir eben gehört haben, nicht die Tickermeldungen vor, sondern gestalten das, versuchen, Zusammenhänge aufzuzeigen, versuchen, Prioritäten aufzuzeigen. Wenn man weiß, dass das was Unterschiedliches ist, kann aber der Erfahrungsbericht auch bereichernd sein. Ich glaube, der Durchbruch für diese Idee, auch mit Sprache und Schrift live dabei zu sein, war eigentlich der 11. September. Wir haben da sehr viel Entsetzen, sehr viel Unmittelbarkeit an uns ranlassen müssen, die dann nach ein, zwei Tagen doch sehr schnell sozusagen verschüttet worden ist zu Gunsten einer sehr patriotischen politischen Erzählung über den 11. September, wo die Unmittelbarkeit nicht mehr so deutlich wurde.
Und man muss eben hier wissen, was wie erzählt wird. Das Fragment ist interessant, aber ist eben ein Fragment. Oder anders gesagt, Sie haben da sehr richtig drauf hingewiesen: Vieles kommt aus der Sportberichterstattung. Wenn man dann einen Pay-TV-Sender meinetwegen nicht hatte und auf "Spiegel Online" den Liveticker anguckte, dann las man Sätze, die eigentlich sinnlos sind: Schweinsteiger von links zieht ab übers Tor – Schade. Das ist eigentlich eine komische sprachliche Gestaltung, kein richtig sinnvoller Satz. Man weiß aber, was gemeint ist.
Kassel: Nun ist aber ja der Unterschied – Sie haben es zurecht gesagt: Beim Sport habe ich theoretisch die Möglichkeit, mir das anzugucken. Rein theoretisch kann ich jetzt auch zur Krim fahren. Aber abgesehen davon, dass ich da auch kein komplettes Bild kriegen werde, ist das auch für die meisten Menschen eine sehr theoretische Möglichkeit. Insofern: Für was ist dann der Liveticker der Ersatz? Ist es nicht ein bisschen gefährlich, wenn man sagt, der Liveticker ist der Ersatz für die komplette journalistische Berichterstattung?
Gäbler: Absolut! – Absolut! Wie gesagt: Es ist ein Fragment, man muss es als Fragment sehen. Ich halte noch etwas anderes für sehr viel problematischer bei dem Vergleich Sport und Politik. Was ist die entscheidende Frage beim Sport? – Die entscheidende Frage ist: Wer gewinnt. – Bei der Politik ist es in der Regel so, dass man schon froh sein kann, wenn ein Kompromiss herauskommt. Also die einfache Frage, wer gewinnt, Klitschko oder Putin, ist sozusagen eine Reduktion eines komplexen Sachverhalts in sportliche Kategorien, die sicher der politischen Lage nicht gerecht werden. Insofern ist eine solche Vereinfachung dann sicher falsch, aber viele Leute werden in diese Richtung des Dabeiseins, der Direktübertragung erzogen und so auch Politik wahrzunehmen. Das halte ich für wirklich eine völlig falsche Parallelisierung.
Kassel: Mal sehr praktisch gefragt: Wir wissen, dass immer mehr Zeitungen, zum Teil auch Hörfunk- und Fernsehsender sich kaum noch Auslandskorrespondenten leisten können. Das kostet Geld, man braucht auch Leute, die Fähigkeiten haben, die einfach nicht jeder Journalist hat, gerade auch wenn man aus Krisenländern berichtet. Wenn nun aber ohnehin der Eindruck erweckt wird – und der wird für mich teilweise erweckt mit diesen Livetickern -, das brauchen wir ja auch nicht, wir haben ja Blogger, die vor Ort sind, wir haben Twitter-Meldungen, wir haben YouTube-Videos, das könnte natürlich ein Argument sein zu sagen, relativ gesehen finden wir jetzt Auslandskorrespondenten noch teurer, weil sie kosten Geld und sind eigentlich gar nicht mehr nötig. Kann man denn das so sagen?
Es gibt eine "Notwendigkeit, Abstand zu gewinnen"
Gäbler: Nein, das ist natürlich völliger Quatsch. Ich glaube, gerade dieser Trend der Medien, alles live zu haben, die Differenz zum Ereignis reduzieren zu wollen, führt auf der anderen Seite unbedingt zu dem Bedürfnis, ja der Notwendigkeit, Abstand zu gewinnen, Gesamtschauen zu haben, Deutungen zu haben, Interpretationen zu haben, nicht nur von unmittelbarer Erfahrung zu leben, sondern von Einordnung und so weiter. Darum gibt es uns ja, darum gibt es das Prinzip Redaktion, darum gibt es Ihren Sender. Das bleibt nach wie vor unbedingt wichtig und der Nachrichtenticker taugt auch nur dann was, wenn man seine relative Bedeutung, seinen Fragmentcharakter, wenn er einem wirklich immer präsent ist und man es nicht nimmt an Stelle der eigentlichen Nachricht. Das ist, glaube ich, sehr wichtig. Dann kann er eine Bereicherung sein. Wenn er Ersatz ist für was anderes, ist er Quatsch, vor allen Dingen, weil er ja nie oft auch ganz wichtige Dinge, die hinter den Kulissen, nicht auf der Oberfläche, nicht erfahrbar sind, gar nicht berücksichtigt.
Ich glaube, zum Beispiel jetzt in dieser aktuellen Krise war eine der wichtigsten Geschichten, von der wir alle ganz wenig wissen: Gabriel trifft Putin in Moskau. Was war da los? Was haben die besprochen? Was ist da verhandelt worden? Das ist völlig im dunkeln, es ist fast weggesackt, dieses Ereignis, dennoch wahrscheinlich eines der Schlüsselereignisse dieser Krise.
Kassel: Ganz kurz zum Schluss: Ist das vielleicht sogar eine Chance für die gedruckte Tageszeitung, die ja gegen einen Liveticker mit den gleichen Mitteln überhaupt keine Chance hat? Ist das vielleicht eine Chance zu sagen, was um 3:05 Uhr passiert ist, drucken wir euch nicht morgens, aber wir versuchen zu erklären, was es bedeutet?
Gäbler: Ja unbedingt! Beides gehört dazu. Das ist ja sozusagen die große philosophische Frage dahinter im Grunde genommen seit Kant: Was können wir überhaupt erfahren? Brauchen wir nicht für jede Erfahrung auch Kategorien? Können wir Erfahrungen jenseits eines Kategoriensystems überhaupt machen? Ist die Wahrheit die Zerrissenheit, oder kommt die Wahrheit erst durch Deutung, durch Interpretation, durch Einordnung zustande? Das unmittelbare Erleben ist wichtig, aber – und das ist das Wesen des Mediums: das ist die Vermittlung durch Gestaltung, durch Deutung, durch Einordnung in Zusammenhänge. Das bleibt und ist eine große, große journalistische Aufgabe, die wir gemeinsam erledigen müssen, und das ist mehr, als einfach nur schnell aufzuschreiben, was wir gerade gesehen haben.
Kassel: Vom Sport über die Ukraine bis zu Kant – das war ein Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Bernd Gäbler über das Phänomen des Livetickers. Herr Gäbler, ich danke Ihnen!
Gäbler: Ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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