Livaneli: Gesellschaft in der Türkei ist gespalten

Zülfü Livaneli im Gespräch mit Katrin Heise |
Die Türkei müsse erst in der europäischen Zivilisation ankommen, bevor sie der EU beitritt, sagt der türkische Künstler Zülfü Livaneli. Die Regierung sei mitverantwortlich dafür, dass das Land immer konservativer werde. Der Hass gegenüber Andersdenkenden und anderen Religionen nehme zu.
Katrin Heise: Zülfü Livaneli war in Deutschland im Rahmen mehrerer Konzerte, in denen auch wieder die kulturelle Verständigung zwischen den Völkern, die kulturelle Zusammenarbeit im Vordergrund stand. Er präsentierte mit seinem Ensemble zusammen mit dem RIAS-Jugendorchester Werke von Georg Friedrich Händel, aber auch türkische Musik. Der Veranstalter hat darauf hingewiesen, dass Händel zu seiner Zeit wie Livaneli heute als Botschafter seiner Kultur durch Europa reiste. Ich hatte Gelegenheit, Zülfü Livaneli zu treffen, und wollte wissen, wie interessiert eigentlich Deutschland, Europa und die Türkei so aneinander sind.

Zülfü Livaneli: Händel ist zweifellos einer der großen Götter unserer Zunft, nämlich der Musik. Von daher ist es eine große Ehre für mich, dass meine Kompositionen neben seinen Werken aufgeführt werden. Die Türkei hat sicherlich europäische Seiten, aber auch vieles, was nicht europäisch ist. Die Türkei ist ein Land, das nach allgemeinen Standards kaum zu verstehen ist. Das Land ist zwischen Tradition und Moderne hin- und hergerissen. Wenn ich also im Ausland für eine Annäherung der Kulturen arbeite, muss ich das auch in der Türkei tun. Denn auch hier müssen wir die vielen verschiedenen Gruppen einander näherbringen. Deutschland ist zurzeit an der Türkei stark interessiert, denn man hat nun verstanden, dass die Türken nicht zurückkehren werden. Als ich letztes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse mein aktuelles Buch vorgestellt habe, brachten alle Fernsehsender fast ausschließlich Berichte über die Türkei. Ich habe europäische Themen vermisst.

Heise: Also letztes Jahr, als die Türkei Gastland der Frankfurter Buchmesse war. Was würden Sie für ein Resümee ziehen? Sie sind seit Jahrzehnten immer wieder quasi als Botschafter der Kulturen unterwegs – was würden Sie so als Resümee ziehen? Hat sich das Verhältnis Türkei/Deutschland tatsächlich verändert?

Livaneli: Jedes Mal, wenn ich nach Deutschland komme, stelle ich fest, dass hier eine andere Türkei existiert. Es ist eine andere Türkei als das Ursprungsland. Es scheint mir die Türkei der Deutschen zu sein. Es ist hier eine neue Kultur entstanden, eine Synthese zwischen der anatolischen ländlichen und der städtischen Migrantenkultur. Das ist sehr interessant, es ist weder deutsch noch türkisch, aber etwas Neues und Schönes.

Heise: Um den Annäherungsprozess zwischen der Türkei und Europa ist es ja doch im Moment ziemlich still geworden, zu still Ihrer Meinung nach?

Livaneli: Die Vollmitgliedschaft der Türkei wird ja von der jetzigen deutschen Regierung nicht besonders unterstützt. Ich vermute, Frau Merkel wird diese Linie auch in ihrer neuen Regierung und mit Unterstützung von Sarkozy fortführen. Das wird den Beitrittsprozess negativ beeinflussen.

Heise: Das heißt, Sie sind da sehr pessimistisch.

Livaneli: Ja, ich schreibe schon seit Jahren, dass die Mitgliedschaft der Türkei sich sehr schwierig gestalten wird. Schröder sagte einmal, die Türkei brauche eine geistige Revolution, um Mitglied der EU werden zu können. Ich gehöre zu denen, die meinen, die Türkei muss erst in der europäischen Zivilisation ankommen, bevor sie der EU beitritt.

Heise: Gleichzeitig sagt man ja, die Türkei – oder hofft man ja doch immer wieder, dass die Türkei so eine Art Brückenbauer sein kann für Europa, so zwischen Orient und Okzident, weil es eben an der Schnittstelle liegt. Sie haben das vorhin selber so ein bisschen angesprochen, ob eigentlich das Verhältnis zwischen Orient und Okzident in der Türkei überhaupt schon wirklich geklärt ist. Wenn ich Sie mal ganz konkret frage: Auf solchen Konzerten, wo Sie die türkische Kultur repräsentieren, für welche Kultur werben Sie da eigentlich? Es gibt doch so viele.

Livaneli: Der Konflikt zwischen dem Osten und dem Westen innerhalb der Türkei ist stärker als der Konflikt zwischen der EU und der Türkei. Das habe ich in einem meiner Romane thematisiert, "Glückseligkeit", so wurde er ins Deutsche übersetzt. Das Buch erzählt auch von dem Konflikt zwischen der West- und oder Osttürkei. Als der Roman in Frankreich erschien, schrieb ein Redakteur im "Le Monde": Bisher dachten wir, es gebe einen Abgrund zwischen der Türkei und der EU, aber der Abgrund innerhalb der Türkei scheint viel größer zu sein.

Heise: Der türkische Musiker, Filmemacher und Schriftsteller Zülfü Livaneli ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Herr Livaneli, Sie haben in einer Rede letztes Jahr mal gesagt, die Türkei befindet sich heute in einer offenen Identitätskrise, sie lebt im Spannungsbogen zwischen osmanischer Tradition und republikanischem Selbstverständnis westlicher und östlicher Lebensart, islamischer Frömmigkeit und laizistischer Selbstauffassung, ethnischer Vielfalt, verfasster Staatsbürgerschaft. Also das Land scheint zwischen einer asiatischen, einer europäischen, einer nahöstlichen Identität zu schwanken. Sie haben das ja eben auch schon angedeutet, dass der Unterschied riesig ist innerhalb der Türkei. Wie problematisch ist das eigentlich tatsächlich im Alltag, was trifft da alles aufeinander?

Livaneli: Diese jahrelang anhaltende Identitätskrise hat zu einer Spaltung, einer Polarisierung geführt. Nicht nur die politischen Parteien, sondern die ganze Gesellschaft ist zurzeit in drei Lager gespalten. Es gibt das islamische Lager, die kurdische Bewegung und den türkischen Nationalismus. Das gesamte Land, jede Stadt, jedes Viertel ist in diese Lager geteilt. Und diese Spannung macht mir Angst. Letzte Woche haben wir etwas Schreckliches erlebt. Die Fußballmannschaft aus dem kurdischen Diyarbakir hat in Bursa gespielt. Die Fans dieser westtürkischen Mannschaft skandierten im Stadion: PKK raus aus Bursa. Wenn das Gleiche später umgekehrt auch in Diyarbakir passiert, wäre das furchtbar.

Heise: Es gab auch gerade eine von der Europäischen Union unterstützte Umfrage in der Türkei, und die hat den Türken eigentlich bescheinigt eine ganz starke, eine doch überraschend starke Intoleranz gegenüber Andersgläubigen beispielsweise; die Regierung zeigte sich aufgrund dieser Umfrage schockiert. Macht die Regierung Ihrer Meinung nach denn genug dagegen, um das Zusammenleben zu ebnen?

Livaneli: Die Regierung ist ja mitverantwortlich dafür, dass das Land immer konservativer wird. Es ist eine islamische Regierung. Ich beobachte natürlich auch, dass die Fremdenfeindlichkeit, der Hass gegenüber Andersdenkenden und anderen Religionen zunehmen. Und das macht mich traurig. Wir haben jahrhundertelang als eine kosmopolitische Gesellschaft gelebt, aber mit der Entstehung des Nationalstaates Anfang des 20. Jahrhunderts wurden alle Völker untereinander verfeindet. Das ist sehr traurig.

Heise: Das heißt, ich entnehme Ihren Worten, dass die Regierung Ihrer Meinung nach eigentlich nicht schockiert sein dürfte über das Ergebnis, sondern dem entgegenarbeitet, der Intoleranz?

Livaneli: Selbstverständlich, so ist das. Aber ich muss sagen, diese Spaltung, von der ich gesprochen habe, wird unter den Deutschlandtürken genauso gelebt. Vielleicht ist das den Deutschen nicht bewusst, vielleicht betrachten die Deutschen und die Türken in der Türkei die Türken hier als eine homogene Gruppe, aber davon kann keine Rede sein.

Heise: Sie haben Ihren Roman, Herr Livaneli, "Glückseligkeit" schon erwähnt, in dem haben Sie ja genau diese Punkte angesprochen – die Zerrissenheit eigentlich der türkischen Bevölkerung. Der Roman ist sehr populär in der Türkei, er wurde auch verfilmt. Glauben Sie tatsächlich daran, dass Sie mithilfe dieser kulturellen Äußerung, eben wie Musik, wie Film, wie Literatur, etwas ändern können daran?

Livaneli: Ja, ich glaube, damit kann ich etwas ändern. Ich kann aber auch nichts anderes, außer mich künstlerisch mitzuteilen. Seit 13 Jahren bin ich Unesco-Botschafter, und in unserer Charta steht der Satz: Alle Kriege fangen im Denken an. Ich denke, auch der Frieden fängt im Denken an. Die Kultur spielt eine große Rolle im Leben. Aller Anfang ist Kultur. Damit meine ich nicht die Hochkultur, sondern die natürliche Alltagskultur des Menschen.

Heise: Sie brauchen, denke ich, viel Kraft dafür, das eben auch wirklich diese vielen Jahrzehnte zu machen. Sie haben im Gefängnis gesessen in der Türkei, Sie haben aber auch im Parlament gesessen, Sie wären jetzt fast als Unesco-Generaldirektor vorgeschlagen worden von der Türkei, aber Sie sagen auch, dass Sie als Linker eigentlich keinen Platz mehr in der Türkei haben. Das klingt von beiden Seiten, von der türkischen, aber auch von der Ihren, richtig nach Hassliebe. Stimmt das?

Livaneli: Ja, das ist schon richtig, wobei ich sagen muss, als Privatperson habe ich einen Platz in der Türkei. Sehr viele Menschen verfolgen und schätzen meine Arbeit. Aber ich habe kein politisches Dach über dem Kopf, kein politisches Zuhause. Deswegen führe ich meine Arbeit parteilos weiter. Wissen Sie, der türkische Staat hat seine Intellektuellen oft unterdrückt, er hat sie eingesperrt, ins Exil geschickt und getötet. Deswegen haben viele Intellektuelle ihr Land gehasst. Auch ich habe viel darunter gelitten, aber ich liebe die Türkei nach wie vor. Denn trotz aller Missstände liegen hier meine Wurzeln – und die Quelle, aus der ich schöpfe.

Heise: Sagt Zülfü Livaneli – Künstler, Musiker, Schriftsteller, Filmautor, Intellektueller aus der Türkei. Vielen Dank für Ihren Besuch hier im Deutschlandradio Kultur, und ich wünsche Ihnen alles Gute!

Livaneli: Danke schön!