Liu Xiaobos politische Texte auf Deutsch

09.09.2011
Erstmals liegen knapp 50 Texte des inhaftierten chinesischen Nobelpreisträgers Liu Xiaobo auf Deutsch vor. Er schreibt über die Mütter der auf dem Tiananmen-Platz in Peking getöteten Kinder oder über entführte Bauernkinder, die in Ziegeleien schuften müssen. Die Essays, Artikel, Gedichte und öffentlichen Erklärungen sind hervorragend übersetzt.
Wer ist Liu Xiaobo? Das war bisher schwer zu sagen, denn es lagen kaum Primärtexte von ihm auf Deutsch vor. Wer mehr über den Friedensnobelpreisträger von 2010 wissen wollte, war auf Zeitungsberichte oder auf die von Bei Ling verfasste Biografie "Der Freiheit geopfert" angewiesen. Diese Biografie konzentriert sich auf Lius Rolle in der Demokratiebewegung von 1989 und wurde zur Nobelpreisverleihung, mit heißer Nadel gestrickt, veröffentlicht.

Jetzt aber ist der Band "Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass" erschienen. Er versammelt knapp 50 größtenteils politische Texte von Liu Xiaobo, die in den Jahren vor seiner Verhaftung entstanden sind: Essays, Artikel, Gedichte und öffentliche Erklärungen.

Der erste Aufsatz in der Sammlung ist den "Müttern vom Tiananmen" gewidmet. Diese Mütter haben gemeinsam die Todesumstände ihrer hingemetzelten Kinder ermittelt und anschließend veröffentlicht. Auf der Grundlage ihrer Dokumentation schildert Liu, wie unerbittlich die Armee die Menschen in den Straßen von Peking zu Tode gehetzt hat.

In einem anderen Artikel beschreibt er den Skandal um die unzähligen entführten Bauernkinder, die in Ziegeleien der Provinz Shanxi als Kindersklaven gehalten wurden und werden. Erst als der Skandal publik wurde, schritten die Behörden ein, weil laut Liu "Beamte und Kriminelle eine Einheit bilden". Für Liu Xiaobo sind höchste Kader wie Hu Jintao und Wen Jiabao direkt verantwortlich für die kriminelle Ausbeutung der Schwächsten, auch wenn sie, so Liu, ständig ihre "Show von der Liebe zum Volk" aufführen. Dieser 2007 erschienene Text trug dazu bei, dass Liu Xiaobo 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt wurde.

In weiteren Texten analysiert Liu Xiaobo die sexuelle Verwahrlosung der chinesischen Gesellschaft, in der sich viele reich gewordene Parteikader Konkubinen halten wie zu Kaisers Zeiten, und er kritisiert die bombastische Ausrichtung der Olympischen Spiele 2010, die Zurichtung chinesischer Sportler und das grassierende "Goldmedaillensyndrom". Das dauernde Zählen der chinesischen Goldmedaillen im Fernsehen putschte das Volk extrem auf und verstärkte, so Liu, den von der Regierung wirksam geförderten Nationalismus, der sich in aggressiver Form auch tagtäglich im Internet Bahn bricht. Dem Phänomen des chinesischen Nationalismus, in dem Liu die Kehrseite eines tief verwurzelten Minderwertigkeitsgefühls erkennt, widmet er sich mehrfach.

Der Band "Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass" versammelt Texte zu unterschiedlichen Themen, die am Ende aber alle das moralische Versagen der chinesischen KP illustrieren. Die Texte sind gewandt geschrieben, hervorragend übersetzt, und sie zeugen vom hohen reflexiven Niveau ihres Autors - und seinem unbedingten Einstehen für die Menschenrechte. In ihnen verbinden sich Lius historisches Wissen mit seiner intellektuellen Klarsicht und politischen Verve. Der nun erschienene Band ist ein wichtiges Dokument und eine Art Handbibliothek, auf die deutsche Leser noch lange zurückgreifen müssen, wenn es um Liu Xiaobo geht. Er soll erst 2020 aus dem Gefängnis entlassen werden.

Von Katharina Borchardt

Liu Xiaobo: Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass. Ausgewählte Schriften und Gedichte
Herausgegeben von Tienchi Martin-Liao und Liu Xia
S. Fischer Verlag, Frankfurt / Main 2011
412 Seiten, 24,95 Euro