Wer soll das alles lesen?
Jährlich erscheinen rund 15.000 literarische Neuerscheinungen in Deutschland. Autoren, Verleger, Buchhändler, Kritiker und Buchkäufer - sind sie alle Komplizen einer gigantischen Überproduktion? Gedanken über das schwierige Verhältnis von Markt und Buch.
"In der Buchhandlung W&R, die wir gut gekannt haben, als sie noch "August-Bebel-Buchhandlung" hieß. Die beiden Buchhändler erläutern ihre durchdachte und geschickte Methode, die Bücher zu präsentieren, die Kunden müssten ja nicht gleich über das allerseichteste Lesefutter stolpern" (Zitat aus: "Ein Tag im Jahr" von Christa Wolf)
Felix Palent, Buchhandlung "Wist. Der Literaturladen":
"Du, letzten Donnerstag, da war eigentlich gar nichts los, den ganzen Tag. Du wirst immer träger im Kopf, um 15 Uhr waren vielleicht zehn Leute im Laden. Und dann aber um dreiviertel Sieben kam, kam ein tolles Pärchen aus Berlin, stellte sich später heraus. Die guckten hier rum, und eigentlich bist du erst genervt, scheiße dreiviertel sieben, wolltest doch fünf Minuten früher abschließen, und dann hatten die immer mehr in der Hand. Nicht nur, weil sie irgendwie viel gekauft haben, waren immer interessiert und haben dann 'Ach, ist ja toll, was für ein toller Laden. Erzählen Sie mal. Und haben Sie von dem mal was gelesen?' So dass wir eben bis halb acht gequatscht haben."
Michael Then, Piper Verlag:
"Das Schöne an der Buchhandlung ist, dass ich sozusagen unbekannte Welten betrete, indem ich vielleicht auch bekannte Sachen wiederfinde und mich erinnere an früher, Kinderbücher zum Beispiel. Das Spannende ist dabei, wenn ich mich dann sozusagen auf das einlasse in diese unbekannte Welt, dass ich dann Dinge finde, die eben genau bei mir etwas auslösen, das ein vollkommenes Glücksgefühl ist, etwas in der Hand zu halten was jetzt nur mir gehört."
Carsten Wist Buchhandlung "Wist. Der Literaturladen":
"Das ist die vornehmste Art und Weise, vielleicht die schönste Art und Weise, sich zu ruinieren, so einen Laden zu machen. Entweder man ruiniert sich, oder man bringt sein Erbe durch. Die beiden Chancen hat man."
Clemens Meyer, Schriftsteller:
"Dann wird es vielleicht wieder so eine Rückkehr geben, dass der Autor eben etwas ganz Singuläres, eine ganz singuläre Figur sein sollte. Der sich nicht an Moden der Zeit orientiert sondern sein Süppchen kocht und guckt was er in welchem Austausch, welche energetischen Austauschformen er finden kann für sich und seine Kunst mit der Gesellschaft, in der er lebt. Aber ja. Das ist alles sehr kompliziert."
Wer soll das alles lesen? Das schwierige Verhältnis von Markt und Buch.
Schlechtes Wetter ist Buchkaufwetter
Plötzlich ist der Sommer weg und die Schoko-Weihnachtsmänner haben die Supermärkte fest im Griff. Es ist Dezember und am frühen Nachmittag bereits stockdunkel. In der Potsdamer Fußgängerzone ist Weihnachtsmarkt, Buden stehen mit Glühwein und Bratwurst vor den Geschäften. Tannengirlanden sind über die Straße gespannt, auf fußballgroßen Weihnachtskugeln glänzen Regentropfen. Schlechtes Wetter ist Buchkaufwetter. Im Literaturladen Wist ist richtig was los. Das Sortiment hier ist vorwiegend literarisch ausgerichtet – dazu das politische Sachbuch und eine Kinderbuchecke.
Die Stärke des Ladens ist diese Auswahl, die kluge Komposition aus Buchtiteln, ob Uwe Johnson oder Raymond Chandler oder Judith Hermann und der Präsentation von Neuerscheinungen, die neugierig machen: Ganz vorn liegt ein Buch mit dem Titel "Vielleicht Marseille" - das stimmt melancholisch, man bekommt Fernweh, und dagegen hilft Bücherkaufen. Was an diesem Samstag auch zahlreich geschieht. Es ist der Beginn des Weihnachtsgeschäfts. Ungefähr ein Drittel des Jahresumsatzes macht jeder Buchladen im November und Dezember: Dann werden Extraschichten geschoben, die Kunden stehen Schlange vor der Kasse, Praktikantinnen kämpfen mit Geschenkpapier, und die Nerven liegen blank.
Felix Palent Buchhandlung "Wist. Der Literaturladen":
"Alles ist voll, wir sind panisch, wir sind auch voll. (lacht) Alle sind panisch, brauchen dringend ein Geschenk, aber ich glaube, das Buch ist ja immer noch so ne Art äh, willkommenes Verlegenheitsgeschenk. Wenn dir gar nichts einfällt, schenkste immer noch n Buch."
Beschreibt Felix Palent die Lage. Sein Chef Carsten Wist nimmt es eher sportlich:
"Weihnachtsgeschäft ist wie Skispringen. Wir sind am Schanzentisch, und du kannst ja nur gut und weit springen, wenn Du schon am Schanzentisch gut bist, wenn die Spur gut ist. Wenn du schnell bist. Aber abgesprungen wird eigentlich erst in der letzten Woche. Montag, Dienstag, Mittwoch stehen wir dann und brüllen wie die Zuschauer: Ziiiiiiieh! und dann geht's aber richtig ab, und bis dahin sind wir eigentlich in der Spur. Man ist relativ lange im Weihnachtsgeschäft am Schanzentisch."
"Ich mag inzwischen das Ende des Dezembers am liebsten, da wird es um vier Uhr dunkel. Dann kann ich einen Schlafanzug anziehen, meine Schlaftabletten nehmen und mit einer Flasche Wein und einem Buch ins Bett gehen. So lebe ich seit Jahren. Die Sonne geht um neun Uhr auf; gut, aber bis ich mich dann gewaschen und Kaffee getrunken habe, ist es schon fast Mittag, und dann brauche ich nur noch vier Stunden durchzuhalten, bis es dunkel wird, das überstehe ich meistens ohne allzu große Schäden." (Zitat aus: "Karte und Gebiet" von Michel Houellebecq)
Trotzig behauptet das Buch seinen Platz am Gabentisch
Das Buch zu Weihnachten: Trotzig behauptet es seine Stellung auf dem Gabentisch. Wer erinnert sich noch an Stabilbaukästen oder Autorennbahnen? Oder an Kassettenrekorder? Das Buch ist geblieben. Genau wie die Buchhandlungen – dem Onlinebuchhandel und den e-books zum Trotz. Was ist das Besondere, das anscheinend so Zeitlose und trotz aller Klagen Unerschütterliche am Geschäft mit den Büchern? Michael Then, Marketingchef in München beim Piper Verlag, der mit Autorinnen von Ingeborg Bachmann bis Charlotte Roche auf dem Literaturmarkt unterwegs ist, erklärt sich das so:
"Wir verkaufen Geschichten, wir verkaufen sozusagen nicht einfach nur ein Produkt. Das ist doch das Tolle dabei. In einer Buchhandlung, wenn mich jemand dabei erwischt und mir sozusagen ein Buch empfiehlt, ich nach Hause gehe, und ich mich dabei ertappt fühle, dass der wirklich ganz offensichtlich so tief in meine Seele gucken konnte und genau das für mich gefunden hatte. Und das ist eigentlich das Verkaufen von Geschichten. Das ist das, was wir nicht mehr steuern können natürlich als Verlag aber auch nicht als Buchhändler. Aber indem ich mich mit meinen Kunden beschäftige, wird sozusagen diese, ja Buchpropagandisten sozusagen, die brauche ich."
Buchpropaganda betreibt auch die Buchhandlung "LeseGlück" in Berlin Kreuzberg zwischen Wiener Straße und Paul-Linke-Ufer, dort, wo die Gentrifizierung noch so schön unentschieden ist: alteingesessener türkischer Dönerimbiss neben neuen hippen Einrichtungsläden und einer Kita.
Das "LeseGlück", acht Jahre alt, ist definitiv "hip": eine mutige Mischung aus Eisdiele, Espressobar, Minilounge mit Sofa und ja – aus Buchladen eben auch. Das Sortiment ist hier – im Gegensatz zu Wists proppevollem Literaturladen – bewusst überschaubar gehalten. Kleiner Rundgang mit Susan Pfannstiel, eine der beiden Inhaberinnen:
"Das haben wir jetzt nur für Weihnachten aufgestellt, diesen Tisch weil wir demnächst noch sehr viel mehr Bücher bekommen dann fürs Weihnachtsgeschäft, und da bauen wir dann immer so ein bisschen sporadisch an. Hier haben wir vorwiegend so Bildbände liegen oder Graphic Novels oder halt so das besondere Buch oder zum Beispiel auch diesen Kreuzberg-Bildband. Dann haben wir hier ganz normal die Regale, wo wir Romane haben von A bis Z, also Autoren nach Autorennamen sortiert und dann unten eben auch Sachen, die wir besonders empfehlen Hier in der Mitte der Tisch, das sind sehr aktuelle Sachen, oder Bücher, die mal Preise bekommen haben oder die uns selbst auch wichtig sind. Wir haben eine kleine Krimi-Ecke. Ja wir haben auch einige Krimi-Leser unter unseren Kunden. Und dann haben wir natürlich Kochbücher und so Eltern-Ratgeber, weil wir viele Familien haben, die zu uns kommen."
Die beiden Buchhändlerinnen vom "LeseGlück" betreiben mit ihrem Laden etwas, das sich seit einiger Zeit "kuratierter" Buchhandel nennt, eine Art Antihaltung, ein less-is-more gegen das Buch als Massenware. Denn: Jährlich erscheinen 15.000 allein literarische Neuerscheinungen in Deutschland. Eine derartige Masse an Büchern vermag keine Buchhandlung zu handeln und sie macht deutlich, dass auf dem Buchmarkt neben dem Verkauf von Geschichten, was romantisch klingt, knallharte Verdrängung angesagt ist: Denn Titel, die sich nicht innerhalb von drei Monaten durchsetzen, landen danach bestenfalls preisreduziert im modernen Antiquariat.
"Zu jedem Buch ne persönliche Beziehung"
Die heute noch vom Verlag angepriesene sensationelle Neuerscheinung droht, morgen schon Makulatur zu sein. Die ambitionierten, erfolgreichen Buchhändler sind sich ihrer Gatekeeperfunktion bewusst, sie sind die Engstelle, wo sich das vermeintlich Gute vom Schlechten trennt, eine Vorauswahl stattfindet. Carsten Wist in seinem Potsdamer Literaturladen kuratiert ganz konsequent, in dem er von den 15.000 belletristischen Jahresnovitäten genau 100 neue Titel für sein Geschäft aussucht:
"Wir haben weniger als ein Hundertstel der literarischen Produktion. Und da sind noch Sachen dabei, wo ich denke, mein lieber Mann, du, das ist ja ganz knapp nur durchgekommen, ja. Weil, das ist ja unser Credo, das muss ja immer nen persönlichen Grund geben, warum dieses Buch hier ist. Und nur, dass wir gut verkaufen können, das reicht nicht aus. Du musst eigentlich zu jedem Buch eigentlich ne persönliche Beziehung haben. Und am besten ist es natürlich, wenn du der Meinung bist, das ist große und tolle Literatur."
"Im Grunde schreibe ich ja nur, weil vieles unangenehm ist. Wenn alles angenehm wär', könnt' ich ja überhaupt nix schreiben. Würde ich niemals schreiben. Aus einem angenehmen Zustand heraus kann man ja nicht schreiben. Außerdem wär' man ja blöd, wenn man schreiben würde, wenn's angenehm ist, weil man sich ja dem Angenehmen hingeben soll. Aber da es eine angenehme Stimmung nur stundenweise oder nur kurze Zeit gibt, kommt man immer wieder zum Schreiben." (Zitat aus: "Monologe aus Mallorca" von Thomas Bernhard)
Was ist große, was ist tolle Literatur? Wer wagt, das zu entscheiden? Das Schöne bei dieser gigantischen Buchproduktion ist ja auch – man hat die Wahl. Als Leser genauso wie als Buchhändler. Wie differenziert dieser so genannte "kuratierte" Buchhandel ausschaut, zeigt das völlig entgegengesetzte Sortimentsprogramm der beiden vorgestellten Buchhandlungen: Wist, der seit einem Vierteljahrhundert den Literaturladen betreibt, setzt vor allem auf die Backlist und Susan Pfannstiel vom "LeseGlück" auf das genaue Gegenteil:
Carsten Wist, Buchhandlung "Wist. Der Literaturladen":
"Weil, Bücher haben ja kein Verfallsdatum, und das wissen wir alle Male, dass die hundert Neuerscheinungen von den zigtausenden, die wir uns pro Saison aussuchen, bei weitem nicht die Qualität haben der Backlisttitel. Wer will denn hier mithalten? Mit Max Frisch oder mit Gottfried Benn oder mit Brecht oder weiß ich was mit den toten Autoren? Da ist hier die Qualität! Und das qualitätsvollste Regal ist hier unser Reclam-Regal, ja."
Susan Pfannstiel, Buchhandlung "Leseglück":
"Also ich finde schon, dass es viele neue Themen gibt, also die man bearbeiten kann und die auch viele Autoren bearbeiten, oder auch Autoren, die neue Klassiker werden. Also man kann ja nicht immer nur am Alten festhalten, und natürlich ist vielleicht alles gesagt, aber es können ja Dinge auch wieder neu erzählt werden und die dann eben besser in die Zeit passen oder die mit Themen zu tun haben, die eben vor hundert Jahren noch nicht Themen gewesen sind, wie zum Beispiel Internet."
Die Auswahl im "LeseGlück" ist von einer Art unbekümmerter Leichtigkeit. Sie hat vor allem sehr viel mit den persönlichen Vorlieben der beiden Inhaberinnen zu tun. So gut wie kein Buch ist älter als acht Jahre. Sich programmatisch nicht um eine teure Backlist zu kümmern, hat übrigens auch einen positiven Nebeneffekt: Sie muss nicht aus dem laufenden Geschäft finanziert werden. Das wirtschaftliche Risiko ist damit gewissermaßen klein-kuratiert. Und bunte Take-Aways wie Postkarten, Stifte und Federtaschen komplettieren das Bild einer fröhlichen Buchhandlung.
"Weil die Landschaft natürlich ne vielfältigere ist"
Simone Burdach ist Vertreterin des S. Fischer Verlages. Thomas Mann, Franz Kafka, Wolfgang Hilbig, Judith Hermann oder zum Beispiel Clemens Meyer wurden und werden hier verlegt. Seit über 20 Jahren vermittelt sie Literatur – und damit die Ware Buch – zwischen Lektorat und Vertrieb von S. Fischer auf der einen Seite und den Berliner Buchhändlern auf der anderen. Sie sieht ebenfalls eine interessante Entwicklung, und zwar, was die veränderte Publikumssicht auf die Buchläden angeht:
"Na, in den 25 Jahren hat sich irgendwie verändert, dass sozusagen, ne Schwellenangst, die es meiner Ansicht nach vor 25 Jahren, schon noch eher gab, dass die irgendwie weg ist, weil die Landschaft natürlich ne vielfältigere irgendwie ist und weil man nicht mehr mit dem Betreten einer Buchhandlung gleichzeitig sozusagen unter Beweis stellen muss, dass man eben den Kanon irgendwie hat, sondern man kann einfach simpel der interessierte Leser sein. Das finde ich, ist anders als vor 25 Jahren. Heute muss man nicht mehr viele Bücher gelesen haben, um als gebildeter Mensch irgendwie zu gelten. Und so haben sich hier auch die Buchhandlungen so aufgestellt, die kleinen Gründungen, die es irgendwie so gibt. Die haben sich so ihre, ihre Nische gesucht und gucken sich dann den Kiez an, wie die Leute so ticken, wie LeseGlück, die so ganz so auf diese zugereiste, junge Familien-Geschichte irgendwie so abfahren, - wo die Mütter hingehen mit den Kindern nach der Kita. Das sind ja so soziale Plätze, ja, wo die dann vorbeikommen und darüber, dass man was gehört hat, verkaufen die dann irgendwie so Bücher."
"Formal und auch existentiell ist es schwer, sich damit zufriedenzugeben, wie ich meine gelegentlichen Auftritte in Buchenwald apostrophiere. Ich vermag mich dem Ernst nicht recht zu nähern, insofern dieses Erlebnis der Wiederbegegnung ernst ist. (...) Das Wetter war wieder grau. eine Art Schneeregen fiel, und die Anhöhe, die sich im Norden hinzieht, war mir so vertraut wie ein alter Ausflugsort. Ich habe keine Beziehung mehr zu diesem Ort. Seit ich den Nobelpreis bekommen habe, geschieht etwas Furchtbares, wiewohl ich mich deutlich erinnere, dass ich, als ich den "Roman eines Schicksallosen" beendete, genau diese Entwicklung gedacht habe: um es kurz zu machen, durch die unzähligen Lesungen, die Zitate in den Rezensionen usw. sakralisiert sich der Text des Buches irgendwie, und ich spüre, das ist das Schrecklichste, was einem Buch passieren kann, denn damit setzt sein langsames Dahinscheiden ein: Seine Frische, all seine Geheimnisse sind dahin." (Zitat aus: "Letzte Einkehr" von Imre Kertész)
Bücher zu machen, sie zu verlegen hatte bis vor kurzem auch noch viel mit gesellschaftlicher und politischer Relevanz zu tun. Ist durch den Verlust des Kanons, wie Simone Burdach es beschreibt, gleichzeitig auch jener "kulturpolitische Auftrag", den sich der Buchmarkt so gerne auf die Fahnen schreibt, in Gefahr oder schon gar nicht mehr en vogue? Michael Then vom Piper Verlag sieht das so:
"Der kulturpolitische Auftrag von Verlagen also in der Symbiose zwischen Autor, Inhalt des Buches und dem Verlag, der für etwas steht – das ist sicherlich ein Relikt aus dem letzten Jahrtausend, muss man ehrlicherweise sagen."
Der Schriftsteller Clemens Meyer, nach eigenen Worten "Kulturpessimist", sieht sich aber schon noch schreibend – also berufshalber – in der dauernden kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft:
"Die Literatur, der Schriftsteller ist ja eigentlich der, der einen permanenten Austausch mit der Gesellschaft und der Realität, in der er sich befindet, pflegt. Nicht als Dokumentarist, sondern als jemand, der Bruchteile nimmt und sie verändert. Aber trotzdem sozusagen dann diese Bruchteile ja erstmal hat und die benutzt, und das macht ihn eigentlich zu jemandem, der, der eigentlich die Geschichten schreibt. Also ich kann von jedem Jahrhundert mir Literatur nehmen und sie mir anschauen und kann daraus ein Bild der Zeit finden und auch der Ästhetik der Zeit."
Dennoch ist die Wirkung dieser einzigartigen Figur des Schriftstellers als Mahner, als Korrektiv, als öffentlicher Störfall immer geringer geworden, das muss man konstatieren, das ist leider so. Literarische Neuerscheinungen, streitbare Romane oder provokante Essays sind mittlerweile eine Sache für Fans, für den "interessierten Leser", aber eher selten den großen medialen Diskurs wert.
Gratwanderung zwischen Beliebigkeit und Relevanz
Michael Then, Piper Verlag:
"Das ist natürlich schwierig geworden in der Art und Weise, weil ich die Vermittlung nicht mehr habe durch die Medien. Ich habe sozusagen in der Allianz früher von Großkritikern die wirklich für eine Zeitung standen, wie Reich-Ranicki für die FAZ, Raddatz für die Zeit, Kaiser für die Süddeutsche, habe ich sozusagen eine, manche würden sagen, unheilige Allianz aber für die Diskussion eine sehr heilige Allianz gehabt indem man sicher sein konnte, dass, wenn ein Verriss von dem neuen Buch von Günter Grass, der richtig heftig dann war, im Spiegel von Reich-Ranicki, auf jeden Fall dafür sorgte, dass die gleiche Art und Weise, oder gleiche Menge der Leute, die es abgelehnt haben, dieses Buch auch gekauft haben. Genau durch die Abgrenzung. Heute habe ich das eigentlich nicht mehr. Heute ist es für viele Publikumsverlage eher wichtig, im Fernsehen den Autor in einer Talkshow unterzubringen, Teil einer Inszenierung zu ein."
"Dass ich ein bekannter Schriftsteller bin, entgeht mir nicht. In einem Wald bei Zürich geht ein Paar an uns vorbei, ich merke, dass sie plötzlich ihr Gespräch unterbrechen; nach zwanzig Schritten blickt sie zurück, dann er. In der öffentlichen Sauna ist es lästiger; der Nackte, der mich vor der Dusche endlich anredet: "Sind Sie nicht der Herr Fritsch?" ist offenbar kein Leser, weiß aber, dass ich eine bekannte Persönlichkeit bin, denn das Fernsehen hat gezeigt, wo und wie ich wohne. Einen Kugelschreiber, um meinen Namen richtig zu schreiben, haben wir beide nicht, nackt wie wir sind. Manchmal ist es vorteilhaft: Ein deutscher Zöllner, nachdem er meinen Paß gesehen hat, möchte gar nicht in meine Koffer schauen, sondern behilflich sein; er kennt nicht bloß meinen Namen, sondern erinnert sich wohl auch an ein Stück, das ihm gefallen habe: Der Besuch der alten Dame." (Zitat aus: "Montauk" von Max Frisch)
Zurück zu dieser Lawine der 15.000 literarischen Neuerscheinungen, zu dem, was Andreas Rötzer als "undefinierbares Meer" von Büchern beschrieben hat. Zurück zu dieser Gratwanderung zwischen Beliebigkeit und Relevanz, Kulturgut und Handelsware. Zwischen Schrott und Meisterwerk, Genialität und Stumpfsinn. Kann das denn jemals für die Buchhändler beherrschbar sein?
Simone Burdach, S. Fischer Verlag:
"Das ist genau das Problem. Also wie schafft man, dass sich das weiter trägt, also dass, wenn das Buch dann in der Buchhandlung liegt, es nicht einfach nur so da liegt, sondern dass es nochmal jemand, einfach ein bisschen mit mehr Aufmerksamkeit bedenkt. Wie bringt man die Buchhändler dazu, sich vielleicht auch schwierigen Dingen zu widmen?"
Carsten Wist Buchhandlung "Wist. Der Literaturladen":
"Das größte Kriterium ist natürlich Lesen, Lesen, Lesen Lesen. Wir sind gute Leser. Ich würde ja fast behaupten, ich habe in meinem ganzen Leben so gut wie nichts anderes gemacht, außer eben gelesen. Und mit dieser Erfahrung dann neugierig zu sein, hingebungsvoll, ne Art von lesender Qualität für sich selbst empfinden zu können und die Antennen auszufahren. Und dann wie so'n Angler dazustehen und dann wie der "Alte Mann und das Meer" nicht das Gerippe rauszuholen, sondern wirklich dann den dicken Fisch an der Angel zu haben bis er dann eben irgendwann hier auf dem Ladentisch erscheint. Ja. Und dann filetiert an den Kunden weitergegeben wird."
Idealgestalt des zeitgemäßen, literarisch gepolten Buchhändlers?
Sieht so die Idealgestalt des zeitgemäßen, literarisch gepolten Buchhändlers aus? Mutiger Skispringer, Angler von dicken Fischen und asozialer Leser? Anscheinend ja. Reden wir nochmal von der Handelsware Buch. Im Schnitt gerade einmal 35 Prozent Gewinnspanne vom Verkaufspreis bleiben dem Buchhändler, um alle seine Rechnungen und vielleicht auch noch sich selbst zu bezahlen. Da lacht zum Beispiel der Jeansverkäufer, dem ungefähr 200 Prozent pro Hose gehören. Geschenkt. Wist kann nicht ohne Buchladen leben, das ist die Bühne seines Lebens, während die beiden Frauen vom "LeseGlück" ihr Ladenglück mehr als eine Episode betrachten:
Susan Pfannstiel, Buchhandlung "Leseglück":
"Meine Kollegin Elleni und ich, wir sagen uns immer, wir machen das so lange wie es läuft, und wir haben uns jetzt nicht hier riesig verschuldet, wir müssen nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt weitermachen, und wir sagen einfach, so lang wie wir Lust dazu haben und es läuft, solange machen wir das und haben nach wie vor noch viel Spaß daran."
Carsten Wist, Buchhandlung "Wist. Der Literaturladen":
"Die Arbeit selbst hier, die ist ja doch eher eine Beckettsche Art und Weise. Wir warten und warten und warten auf den Kunden, der dann irgendwann kommt, und der sich vielleicht für das Buch bei dem du das letzte Mal ein Glücksgefühl hattest, interessiert. Noch schöner wird's, wenn er's tatsächlich mitnimmt. So. Und dann geht es von dem Warten, Beckett, 'Warten auf den Käufer' geht's dann: Überleben, Scheitern, wieder Scheitern, besser Scheitern und dann sind wir auf Beckettsche Art und Weise glücklich."
"In der Buchhandlung W&R, die wir gut gekannt haben, als sie noch "August-Bebel-Buchhandlung" hieß. Die beiden Buchhändler erläutern ihre durchdachte und geschickte Methode, die Bücher zu präsentieren, die Kunden müssten ja nicht gleich über das allerseichteste Lesefutter stolpern; (...) Es geht eine steile Wendeltreppe hinauf zum Obergeschoß, Käsehäppchen sind vorbereitet, es gibt Wein, wir sind zu sechst: Ein Westdeutscher, eine Westberlinerin, ein junger Mann, der die DDR verlassen hat und zurückgekommen ist, drei ehemalige DDR-Bürger, alle besessen von der Literatur und mit dem Schreiben, Herstellen, Propagieren und Verbreiten von Büchern beschäftigt. Es ist eine gute Mischung, finden wir wohl alle, reden, lachen, erzählen Witze und Anekdoten."
"Um Mitternacht auf der menschenleeren "Fußgängerzone" im Zentrum von Potsdam, geisterhaft beleuchtet durch Peitschenlampen. Für Sekunden habe ich ein intensives Déjà-vu-Erlebnis: Aber das hatte ich doch schon mal, hier habe ich doch schon mal gestanden, in dem gleichen Licht, die gleichen Abschiedsworte habe ich gehört, die gleichen Umarmungen habe ich schon einmal ausgetauscht... (...) Ich habe mir aus der Buchhandlung ein Buch mitgenommen (...) eine ganz und gar ausgedachte Geschichte, ich beneide die Autorin. Wann werde ich, oder werde ich überhaupt je noch einmal ein Buch über eine ferne erfundene Figur schreiben können; ich selbst bin die Protagonistin, es geht nicht anders, ich bin ausgesetzt, habe mich ausgesetzt." (Zitat aus "Ein Tag im Jahr" von Christa Wolf)
Der Dichter und sein Werk
Bei all dieser Flut der Handelsware Buch, bei all diesen Unwägbarkeiten des Buchmarktes und den vermeintlichen inhaltlichen Verlusten, aber auch den literarischen Erfolgen und dem Beckettschen Scheitern an sich: Wenn wir von den Büchern, von der Literatur reden – dann ist da vor allem immer noch zuallererst: der Dichter und sein Werk. Clemens Meyer erzählt, wie es ist, wenn das Buch, also sein Buch vollendet und gedruckt ist, und er es in den Händen hält, das allererste Exemplar:
"Das ist, ja, kann man eigentlich schwer beschreiben. Man kriegt es, also ich verbringe dann so 5-6 Stunden am Stück dann mit diesem Objekt also für mich alleine. Trinkt man vielleicht ein Glas oder raucht eine Zigarette so als Abschluss. (...) man ist dann sozusagen der Einzige, der dieses Buch, was man selbst geschaffen hat, dann ist das plötzlich Fleisch geworden: Und das Wort wird Fleisch. So ungefähr ist das. Also es ist sehr seltsam. Man riecht dran, also die Geruchsprobe ist eigentlich mit das Erste, wo man genau weiß, wie frische Bücher riechen, dann riecht man dran, dann blättert man, dann findet man meistens schon irgendwo einen Druckfehler, das ist wirklich so, es ist wirklich so, also ich zumindest habe das Talent, irgendwo aufzublättern und sehe hier ein kleines Wort oder ja, es ist immer, es ist immer so, es ist unvermeidlich. Trotzdem ärgert man sich dann immer wieder und schaut genau und liest sich das durch, die Überschriften, die Reihenfolge, die Kapitel, macht den Schutzumschlag ab, wie sieht es nackt aus und ja also, bis jetzt bin ich mit den Büchern, wie sie aussehen bin ich immer sehr zufrieden."
Zufriedenheit. Das klingt nach Weihnachten. Es ist Weihnachten. Zeit also für etwas Besinnlichkeit! Für Harmonie. Simone Burdach, Verlagsvertreterin bei S. Fischer, ist auch diejenige, die Clemens Meyers Bücher zu den Buchhändlern bringt, und sie kennt all die Klagen, all das Jammern der Branche, immer wird das Ende des Buches heraufbeschworen und immer wieder gibt es Hoffnung!
Simone Burdach, S. Fischer Verlag:
"Solange ich die Branche kenne, ist sie in einer Krise. Also ich habe noch kein Jahr erlebt, wo die mir freudestrahlend an der Tür entgegen gekommen sind und gesagt haben 'Frau Burdach, der Buchhandel! Er blüht und lebt!' Es ist immer alles schlecht. Also seit 25 Jahren ist alles schlecht."
Und so soll sie zum Schluss sagen, wie es weitergeht – mit den Büchern:
"Ich hab immer so die kulturpessimistische, vielleicht kulturpessimistische Hoffnung, dass bei all unserem Wahnsinn, Smartphones, und den ganzen Sachen, die wir jeden Tag lesen, irgendwann mal so ein Digital-Detox einsetzt und wir das wieder lassen und einfach wir runter kommen müssen, weil wir einfach im Overkill sind. Und irgendwas anderes brauchen und vielleicht braucht's dann wieder Bücher? Keine Ahnung. Der Buchhandel war immer fast tot, kein Wachstum, nichts. Dafür funktioniert es schon ziemlich lange."