Literaturanalyse: Wahlprogramm der FDP

Auf der Suche nach vier verlorenen Jahren

Links: Christian Lindner, FDP-Chef. Rechts: Marcel Proust, Schriftsteller.
Links: Christian Lindner, FDP-Chef. Rechts: Marcel Proust, Schriftsteller. © imago/photohtek/United Arvchives
Von Ursula März  · 12.09.2017
In einer neuen Serie kämpfen sich unsere Literaturkritiker durch die Wahlprogramme der Parteien. Ursula März hat sich in die Grundsätze der FDP vertieft und ist dem Trauma der Liberalen im Riesenwerk auf die Spur gekommen.
Um das ästhetische Hauptmerkmal des Parteiprogramms der FDP im Bundestagswahlkampf 2017 zu verstehen, muss man sich das Trauma vergegenwärtigen, das der Abfassung dieser Schrift voranging: Nach 65 Jahren Parlamentarismus, in denen die Liberalen mit Kanzlern wie Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Schmidt regiert hatten, verließen sie im Oktober 2013 die bundespolitische Bühne. Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte war die FDP vor vier Jahren unter die 5-Prozent-Hürde gefallen: Kein Mandat, kein Büro im Regierungsviertel, kein Koffer mehr in Berlin.

Das längste Parteiprogramm

Wie sich an ihrem aktuellen Parteiprogramm zeigt, ist die FDP unter dem Trauma nicht zusammengebrochen; ganz im Gegenteil. Diese Partei, die sich mit der Farbe gelb identifiziert - welche in der Farbenlehre Licht, Sonne, Erleuchtung, Wachheit, Kreativität metaphorisiert - hat die vier Jahre währende Bundespolitikpause genutzt, um ein Programm hervorzubringen, dessen epischer Umfang die konventionellen Maßstäbe der Gattung sprengt: Es hat 154 Seiten. Es ist in sechs Großkapitel untergliedert, die sich in Unterkapitel und zahlreiche Unterunterkapitel gliedern. Es ist das längste und ausführlichste aller Parteiprogramme des Wahlkampfes 2017.

Nach vier verlorenen Jahren

Sucht man in der Literaturgeschichte nach einem Vorbild für diese quantitative Exzentrik, so kann dies nur Marcel Prousts zwischen 1913 und 1927 veröffentlichtes Riesenwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" – mit 4500 Seiten der moderne Universalroman schlechthin. Unverkennbar gibt der Titel von Marcel Prousts Werk auch den Topos des FDP-Programms vor: die Suche nach der verlorenen Zeit. Das heißt: nach vier verlorenen Jahren. Und wie die Proust-Lektüre ganze Monate beansprucht, so eröffnen sich auch die 154 Seiten des Parteiprogramms der FDP nur einem sehr geduldigen Leser, dem lange Abende frei zur Verfügung stehen.

Poetische Verwandtschaft

Nicht nur im Umfang, auch in seiner minimalistischen Beschreibung ist das Programm der FDP schwerlich zu überbieten. Darin zeigt sich eine weitere ästhetische Verwandtschaft mit der Poetik des französischen Klassikers, dem kein Gegenstand zu klein, keine Nebenfigur zu bedeutungslos war, um sie nicht literarisch auszuformen. So werden im Parteiprogramm der FDP die Vorzüge eines privaten "Vorsorgekonto" ausführlich beschrieben, an anderer Stelle die Erhaltung der tierischen Artenvielfalt mit essayistischen Exkursen bedacht.

Cannabis als Konstante

Der enzyklopädische Anspruch des Programms erweist sich auch an seinem alphabetischen Glossar am Ende der 154 Seiten. Einzig der Buchstabe C führt nur ein Stichwort auf: Cannabis. Marcel Proust, das ist bekannt, war Drogen gegenüber nicht abgeneigt. Diese Tradition führt die FDP fort. In ihrem Programm heißt es auf S. 82: "Wir setzen uns dafür ein, den Besitz und den Konsum für volljährige Menschen zu erlauben". (gem)

Das Wahlprogramm der FDP gibt's hier:

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