Literatur und Politik

Von Dirk Fuhrig · 24.05.2006
Günter Grass hatte mit seiner dezidierten Rede gegen die US-amerikanische Politik und für das engagierte Literatentum am Dienstag zur Eröffnung den Ton vorgegeben. Am zweiten Tag des PEN-Kongresses traten seine politisch aktiven Schriftstellerkollegen in den Ring. Haroon Siddiqui etwa: aus Indien stammend, Moslem, in Kanada lebend, scharfer Kritiker der US-Regierung:
"Die Muslime sind die größten Opfer des 11. September. Das mag etwas seltsam klingen angesichts der 2900 Amerikaner, die an diesem Tag gestorben sind. Aber seither wurden, wie Günter Grass es gestern ja auch schon gesagt hat, zwischen 35.000 und 100.000 Iraker umgebracht. Wie viele Afghanen in den vergangenen drei Jahren gestorben sind, wissen wir nicht. Diese Toten zählt niemand. Sie sind nicht 'relevant' genug."
Siddiqui zählte die vielen Konflikte auf, in denen Menschen muslimischen Glaubens starben: Tschetschenien, Kaschmir, der Balkan, Palästina. 1,5 Millionen Muslime seien im vergangenen Jahrzehnt in Kriegen umgekommen.
"Doch diese schockierende Tatsache wird in der Öffentlichkeit nicht diskutiert. Weder in Europa noch in Nordamerika. Sind die Berichterstatter unserer Tage blind? Oder verschweigen sie es absichtlich?"
99 Prozent der Muslime seien gegen den Terrorismus, so der Autor des gerade erschienenen Bands "Being Muslim".
"Wir stehen vor dem interessanten Phänomen, dass Tony Blair den Koran liest, um den islamischen Terrorismus zu begreifen. – Aber haben wir uns die Bibel gekauft, um zu verstehen, was die Buren in Südafrika taten? Kaufen wir uns die Thora, um zu verstehen, warum extremistische Juden das tun, was sie tun?
Wenn wir so denken, gefährden wir alle unsere demokratischen Prinzipien und unsere kosmopolitische Gemeinschaft. Die Intellektuellen und die Schriftsteller, eben auch der internationale PEN, müssen moralische Führungskraft aufbringen, damit unser aller gemeinsames Interesse nicht von den niederen Instinkten überwältigt wird."
Angesichts der deutlichen Worte des ehemaligen Präsidenten der kanadischen PEN-Sektion sah sich Gert Heidenreich, Moderator der nachmittäglichen Gesprächsrunde der essayistischen Schreiber, dazu veranlasst, bereits vorab auf mögliche Kritik an solch direkter politischer Rede einzugehen. Was heiße denn "Antiamerikanismus" fragte er:
"Dass man keine Burger isst, oder was? - Es ist sinnvoll, antiamerikanisch zu sein gegen eine amerikanische Politik, die man für falsch, für gefährlich, und zwar für weltgefährlich hält."
Welche anderen Möglichkeiten hat ein Schriftsteller im politischen Streit, als klare Worte zu sprechen beziehungsweise zu schreiben.
"Schreiben in friedloser Welt" war die Diskussionsrunde an diesem Mittwochnachmittag überschrieben. Es ist das Motto des gesamten PEN-Kongresses.
Eine "friedliche" Welt habe er in seinem ganzen 82 Jahre langen Leben noch nie kennen gelernt, sagte Uri Avnery. 1933 aus Deutschland geflüchtet, hat er den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern von Anfang an miterlebt. Er ist die Stimme der gemäßigten Israelis, die auf eine Aussöhnung mit den Palästinensern setzen.
"Was hat der Schriftsteller zu tun, um das zu überwinden? Kann er überhaupt etwas tun? Meine Antwort ist ein unbedingtes JA. Der Schriftsteller kann, der Schriftsteller muss, der Schriftsteller hat die Pflicht, Situationen mit zu verändern."
Intellektuell sei er ein Skeptiker, emotional ein Optimist, meinte Avnery.
"Ich glaube, dass wenn Intellektuelle sich dieser Pflicht widmen, dass es möglich ist, Narrativen der Völker zu verändern. Man braucht etwas Mut dazu, man braucht Ausdauer, es ist mehr ein geologischer Prozess, der sich langsam verschiebt."
Schreiben, um fest gefügte Weltbilder anzukratzen und nationale Vorurteile abzubauen - eine Sisyphos-Arbeit mit ungewissem Ausgang. Nicht alle Diskussionsteilnehmer waren so unerschütterlich optimistisch, was den Einfluss von Schriftstellern auf den Lauf der Dinge betrifft. Für Dubravka Ugresic aus Zagreb etwa sind die Intellektuellen in den post-kommunistischen Gesellschaften Osteuropas zerrissen zwischen heimischem Publikum, dem Blick nach Europa und den Anforderungen des internationalen Markts.
Patrice Nganang, geboren in Kamerun, Professor für Deutsch und Französisch in Pennsylvania, stellte nüchtern fest, dass auch die Stimmenvielfalt des gesamten afrikanischen Kontinents einen Völkermord wie den in Ruanda nicht habe verhindern können.
Aber konnten Schriftsteller denn jemals in der Geschichte Kriege verhindern?
Dem polnischen Autor Adam Krzeminski blieb es vorbehalten, daran zu erinnern, dass auch Schriftsteller nicht per se zu "den Guten" gehören.
"Zuerst muss man sagen, dass die Intellektuellen und Schriftsteller auch Mitschuldige sind an vielen kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Zahl der schreibenden, dichtenden Völkermörder und Diktatoren ist nicht gerade gering. Aber es gibt auch Nationaldichter, auf die wir alle stolz sind die in den Schützengräben gelesen wurden, ob es Hölderlin war, ob Lermontov, Byron, und die können nix dafür, wie sie missbraucht wurden."
Krzeminski war es auch, der ein Ende des "Weltkriegs der Literaturen" forderte. Da immer mehr Schriftsteller nicht in ihrer Muttersprache schreiben, sei es an der Zeit, die Grenzen der Nationalliteraturen aufzubrechen, stärker in weltliterarischen Kategorien zu denken. Doch über dieses Thema – nämlich Migranten, die deutsche Literatur schreiben – diskutiert der internationale PEN-Kongress am Freitag.