Literatur gegen Frauenunterdrückung

Moderation: Ulrike Timm |
In ihrem Roman "Auch wenn wir Verdammte sind" verknüpft die spanische Schriftstellerin Eugenia Rico zwei Frauenschicksale miteinander, die mehrere Jahrhunderte trennen: die eine landete als Hexe auf dem Scheiterhaufen, die anderen zog sich nach einer Vergewaltigung aufs Land zurück. Die Muster der Unterdrückung seien trotz allem gleich geblieben, sagt Eugenia Rico.
Ulrike Timm: Zwei ganz verschiedene Frauenschicksale verbindet die spanische Autorin Eugenia Rico in ihrem ersten jetzt auf Deutsch erschienenen Buch: Die eine wird vor Jahrhunderten als Hexe verbrannt, die andere hat sich nach einer Vergewaltigung in ein kleines spanisches Dorf geflüchtet. Wie Eugenia Rico das verbindet und zugleich vom jahrhundertealten Druck auf Frauen erzählt, das sagt sie uns gleich.

Und jetzt ist sie hier Gast in unserem Studio, Eugenia Rico. Buenos dias und herzlich willkommen, Frau Rico!

Eugenia Rico: Guten Morgen, guten Tag!

Timm: Frau Rico, "Auch wenn wir Verdammte sind", so heißt Ihr Buch, und gleich zwei Frauen können diesen Titel auf sich beziehen: Die eine lebt heute, wurde von ihrem Vorgesetzten vergewaltigt und hat den Prozess gegen ihn gewonnen, sie flüchtet sich trotzdem in ein kleines spanisches Dorf, und sie schreibt über die andere Frau, Selene, eine Heilerin, die man vor Jahrhunderten als Hexe verbrannte. Was fasziniert denn die Frau von heute an dieser Hexe, die jahrhundertelang tot ist?

Rico: Also erst mal muss man sagen: Auf Spanisch, das Buch heißt ja "Aunque seamos malditas", mit einem a am Ende, das bezieht eigentlich sich nur auf die Frauen. Es könnte aber auch malditos mit o heißen, was dann auch die Männer mit einschließt, denn es werden ja nicht nur Frauen verfolgt oder drangsaliert. Aber in diesem Buch oder, man kann sagen, in der Geschichte wurden die Frauen auf einer Art und Weise verfolgt, die die der Männer vielleicht noch übertraf, und insofern sind sie ein Symbol dafür.

Und wenn man sich diese Geschichte anguckt mit der Hexenverfolgung und so weiter, dann gab es über zwei Millionen Frauen, die ermordet worden sind, weil sie entweder angeblich von Dämonen besessen waren oder was auch immer, und dabei handelte es sich um sehr weise Frauen, um Frauen, die zum Beispiel Heilerinnen waren oder ein Wissen hatten, was das der anderen übertraf.

Und die Geschichte von Ainur, von der Person, die in der Gegenwart lebt, die zieht da Parallelen zu der Zeit, auch sie fühlte sich verfolgt von einer männlichen Welt, und die Henker sind immer noch die Gleichen wie früher, im Prinzip. Es ist eine andere Welt und sie funktioniert ein wenig anders, aber die Muster, die sich dort vollziehen, sind im Prinzip immer noch dieselben. Und ich denke, dass sich viele Frauen identifizieren können mit diesem Kampf von Selene, wiederum der Frau aus der Vergangenheit, und dieses große Unternehmen, was Ainur hat, diese Geschichte aufzuarbeiten, ist auch sozusagen eine Art Kampf gegen korrupte Politiker heutzutage.

Timm: Trotzdem sind die beiden Frauen ja erst mal verschieden: Die eine flieht nach einem gewonnenen Prozess gegen ihren Vergewaltiger und wird ihres Sieges nicht froh, sie bleibt eine Geächtete; die andere hat als Heilerin erst mal auch eine Menge Erfolg und wird dann trotzdem auf dem Scheiterhaufen landen. Und die beiden Frauen trennen Jahrhunderte. Welche gedankliche Brücke verbindet die beiden als Personen?

Rico: Man könnte das auch als eine Geschichte der Frauen im Allgemeinen bezeichnen, oder sogar der Menschheit im Allgemeinen. Darum geht es ja, um den Kampf gegen Verfolgung. So erging es zum Beispiel vielen Heilerinnen, viele dieser Frauen wurden als Hexen verbrannt oder als Hexen verfolgt. In Hamburg gab es zum Beispiel eine Frau, die als die beste Heilerin der Stadt oder der ganzen Umgebung galt. Sie war so beliebt und so erfolgreich in ihrer Heilkunst, dass sich die Schlange der Leute, die sich von ihr behandeln lassen wollten, über den ganzen Marktplatz zog und noch um die Ecke weiterging.

Und das war natürlich den alteingesessenen Medizinern nicht ganz geheuer und ihren Verbündeten ebenso wenig, sodass der Bischof selbst dafür sorgte, dass sie vergewaltigt wurde. Man hat ihr die Brüste abgeschnitten und so weiter und sich entsetzlich an ihr vergangen, um dann zu sagen, dass sie letzten Endes vom Teufel besessen sei und verbrannt werden müsste.

Das ist natürlich ein extremes Schicksal, wie es jetzt heutzutage vielleicht nicht mehr vorkommt, aber die Figur aus der Gegenwart, Ainur, ist auf ähnliche Weise frustriert. Sie hat zwar ihren Prozess gewonnen, aber sie fühlt sich immer noch verfolgt und bedroht.

Und das ist natürlich ein verschiedener Lebensweg, aber ich denke, dass es doch sehr viel Ähnlichkeiten darin gibt. Nach wie vor ist es so, dass Frauen in Bedrohungssituationen geraten können und verfolgt werden können, und es geht darum, dass sich die Geschichte, die damals passiert ist, nicht wiederholt. Und dafür schreiben wir, damit die Geschichte sich so nicht wiederholt.

Timm: Das nehme ich mal auf: Geschichte von Verfolgung. Wer übernimmt denn dann heute im übertragenen Sinn die Rolle der Inquisition?

Rico: In meinem Roman gibt es in der Vergangenheit die Person Samuel de la Llave, das ist ein reuiger Inquisitor. Aber auch heute gibt es eine Art Inquisition und ich denke, die Rolle der Inquisition nehmen heute vor allem die Medien ein: Fernsehen, Radio, Zeitung und so weiter. Sie können auf der einen Seite die Inquisition darstellen, aber auf der anderen Seite auch einen möglichen Retter davor. Wie in meiner Geschichte das auch in der Vergangenheit vielleicht vorkommt, ist dann in der Gegenwart der Leuchtturmwärter, der in der Geschichte in der Gegenwart angeklagt wird und unschuldig ist, am Ende, obwohl er frei kommt, sein Leben ihm trotzdem genommen wurde.

Also das heißt, ich sehe da durchaus eine Parallele, dass ein Leben zerstört werden kann. Also die Medien haben unglaublich viel Macht. Sie sind einerseits die Inquisition, auf der anderen Seite können sie aber auch der einzige Verteidiger gegen diese Inquisition sein. Also sie können Leute sozusagen dazu bringen, dass sie ihr Leben, so wie sie es gelebt haben, nicht mehr haben, wenn sie anklagen oder in Massen gegen Menschen vorgehen.

Aber sie können sie wiederum auch davor bewahren durch die Beeinflussung der Massen. Und ich glaube, dass die Inquisition so nicht mehr existiert, aber es gibt sie auf diese Art und Weise dennoch. Und das Schlimmste wäre, sich in diesem Sinne einer Selbstzensur zu unterziehen.

Timm: Haben Sie diese Geschichte auch so mehrschichtig erfunden – die Frau, die den Prozess gewonnen hat, ihres Lebens aber nicht mehr froh wird, der Mann, der angeklagt wird, aber unschuldig ist, eine Frau vergewaltigt zu haben –, haben Sie diese Geschichte auch so mehrstimmig angelegt, damit Ihnen nicht der Vorwurf gemacht wird, aha, wieder eine von diesen Geschichten, die Männer gegen die Frauen?

Rico: Natürlich gab es immer verfolgte Männer und Frauen, wie ich es ja schon gesagt habe mit dem Titel: Also es bezieht sich sowohl auf Männer als auch auf Frauen. Aber es gab nun mal in der Geschichte viel mehr Frauen, die verfolgt wurden und die Opfer geworden sind, und das ist leider auch weiterhin der Fall. Aber dass ich das mit so vielen verschiedenen Stimmen angelegt habe, dieses Buch, dass der Roman sozusagen einen Chor hat, der in verschiedenen Stimmen verschiedene Musik sozusagen rüberbringt, das hat für mich literarische Gründe.

Also ich bin in meinem Heimatland auch bekannt als eine Symphonikerin, mir ist die Form auch sehr wichtig, die Struktur eines Buches, die Konstruktion davon, ich möchte damit auch so auch eine Art Kunstwerk schaffen. Ja, abgesehen davon wurden natürlich nicht nur Frauen verfolgt. Es geht um die ganze Menschheit, es geht nicht nur um die Frauen, aber eben auch um die Frauen.

Timm: Wenn man sagt, das sei feministische Literatur, fühlen Sie sich dann erkannt oder fühlen Sie sich dann verkannt?

Rico: Mir ist es in keinster Weise peinlich, als Feministin bezeichnet zu werden, und das ist auch lustig, weil ich in Spanien eigentlich vor allem von Männern, den ganzen hoch angesehenen Literaturkritikern und Autoren auch selbst sehr gelobt worden bin, sie haben mein Buch verteidigt, und Angriffe oder Kritiken gab es eigentlich vor allem von Frauen. Das ist schon kurios. Wenn ich mich an Feministin bezeichne, dann auch als eine humanistische Feministin. Und ich denke, dass die Revolution der Frauen selbstverständlich extrem wichtig ist, aber das hat mit der Literatur nichts zu tun. Also man kann nicht sagen, das ist eine männliche oder eine weibliche Literatur: Es gibt entweder gute Literatur oder schlechte Literatur, das hat nichts damit zu tun, ob der Autor ein Mann oder eine Frau ist.

Ich denke, ein guter Autor sollte die Fähigkeit haben beides zu sein, sich in beide hineinzuversetzen, in Frauen und Männer, er sollte eine Art Hermaphrodit sein. Ich bin stolz, mich als Feministin bezeichnen zu können.

Timm: Vorhin haben wir kurz hineingehört in das Buch, ein paar Zeilen, und da haben Sie anhand der "Arbeitskleidung Hosenanzug" viel mehr beschrieben, nämlich dass Frauen sich für den Job verkleiden würden. Tun sie das wirklich, sind Frauen im Arbeitsleben tatsächlich weibliche Versionen von Männern?

Rico: Leider manchmal schon, das muss ich leider sagen. Also vielleicht ist das auch ein Fehler der Befreiung der Frauen, das die Frauen zu sehr versucht haben die Männer zu imitieren. Ich meine, hier in Deutschland können Sie sich glücklich schätzen, dass Sie eine Frau an der Regierung haben, aber auch wenn man sich das anguckt, wie Frauen auf diese Rollen vorbereitet werden, an der Spitze zu sein, dann müssen sie immer etwas so sein wie Männer. Nehmen Sie Margaret Thatcher, die sogar Unterricht darin bekommen hat, mehr so zu sprechen wie ein Mann. Diese Frauen müssen dann oft männlicher sein als die Männer, um Erfolg zu haben.

Aber ich denke, was wir versuchen müssen, ist, dass die Frauen mit den Qualitäten und Werten der Frauen selbst an die Spitze kommen können. Dass sie nicht versuchen, Männer zu imitieren, sondern dass man mit den Eigenschaften, die man hat, es auch schaffen kann. Sobald sozusagen diese Art Diskriminierung aufhört, muss das möglich sein, ohne dass da noch Bedarf an Verkleidung besteht.

Timm: Ich habe das Buch gerne gelesen. Man unterringelt sich viele Sätze, es ist sehr kunstvoll gebaut mit schöner und zugleich sehr knapper Sprache, wie ein mehrstimmiges Stück geschrieben und mit filmisch harten Schnitten. Spanische Kollegen, Frau Rico, die haben Sie gar mit Virginia Woolf verglichen. Macht Sie das schwindelig?

Rico: Ja, vielen Dank, das freut mich sehr! Also ich habe mein Leben lang eigentlich nichts anderes gemacht als zu schreiben, seit ich fünf Jahre alt war. Und die Literatur ist mein Leben. Aber ich danke Ihnen für das Lob und ich freue mich auch immer wieder darüber, und die Worte, die ein Leser oder eine Leserin an mich richten, können mir manchmal auch mehr bedeuten oder mehr Freude machen als die eines Kritikers.

Timm: Und Virginia Woolf?

Rico: Also ich denke, dass ich eigentlich ganz anders schreibe als Virginia Woolf, aber das ist eine Autorin, die ich sehr bewundere, sowohl als Schriftstellerin als auch als große Denkerin. Was uns vielleicht verbindet, ist eine Suche nach einer formalen Präzision, eine formale Form zu finden, dass man diese Suche auch nicht aufgeben sollte, dass man immer danach streben sollte eine neue Form zu finden. Schließlich befinden wir uns nicht mehr im 19. Jahrhundert, also der Gesellschaftsroman war für seine Zeit interessant, aber ich jetzt nicht mehr aktuell. Oder dann, wir haben auch schon die Avantgarde des 20. Jahrhundert hinter uns gelassen. Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, jetzt ist es Zeit, neue Formen herauszubilden.

Ich bin Hegelianerin, ich halte es da ganz mit Hegel: These – das war der Roman des 19. Jahrhunderts –, dann die Antithese – James Joyce und die ganzen Schriftsteller der Avantgarde –, aber auch das haben wir hinter uns gelassen, jetzt kommt die Synthese, in dieser ist der Autor gleichzeitig Komplize mit dem Leser, aber er möchte ihm auch Schönheit bieten und es wird eine neue Form angestrebt.

Timm: Vielleicht ein bisschen in diesem Sinne auch geschrieben das Buch von Eugenia Rico, These und Antithese, zwei Frauenschicksale miteinander verknüpft, "Auch wenn wir Verdammte sind", und auch mehr als ein Frauenbuch. Jetzt erschienen bei Hoffmann und Campe und es ist die erste Veröffentlichung von Eugenia Rico auf Deutsch, und sie war unser Gast im Studio, vielen Dank!


Eugenia Rico: "Auch wenn wir Verdammte sind"
aus dem Spanischen übersetzt von Sybille Martin
Hoffmann & Campe, 460 S., 22 Euro