Literatur

Auf der Suche nach Heimat und Identität

Von Marten Hahn · 09.12.2013
In England ist die 33-jährige Autorin Taiye Selasi ein Popstar. Ihre Eltern stammen aus Nigeria, sie selbst ist in London geboren. Sie fühlt sich in der Welt zu Hause, weshalb sie den Begriff des "Afropolitan" prägte.
"The light is so pretty outside!"
Auch wenn sie nur ihr Telefon zur Hand hat - Taiye Selasi macht Fotos. Immer und überall. Beim Besteigen eines Ausflugsdampfers in Potsdam, beim Lesen eines Magazins oder hier, vor einem Café in Berlin-Charlottenburg, weil das Licht gerade so schön ist.
Selasi lacht oft. Sie verteilt Komplimente. Erkundigt sich nach dem merkwürdigen Getränk des Reporters. Nur um den Reporter kurz darauf in eine gesellschaftspolitische Debatte zu verstricken:
"Welcher Rasse fühlen Sie sich zugehörig?"
"Darüber denke ich wahrscheinlich gar nicht besonders oft nach."
"Ah, das Privileg der weißen Mehrheit."
"Aber wenn Sie sich entscheiden müssten? Was würden sie dann sagen?"
"Weiß."
"Aber würden Sie sagen, dass jemand aus dem tiefen Süden Italiens, der in Sachen Hautfarbe eher mir ähnelt als Ihnen, auch zu Ihrer Rasse gehört?"
Mit den üblichen Zuschreibungen Schwarz und Weiß kann die Autorin nichts anfangen. Sie hält die Kategorie Rasse für einen sozio-ökonomischen Mythos.
"Ich nenne mich selbst braun. Ich nenne braune Menschen braun und pfirsichfarbene Menschen pfirsichfarben. Und es gibt weiße Menschen. Die nenne ich auch weiße Menschen. Aber nicht um zu behaupten, dass sie zu einer Rasse gehören."
Selasi wurde in London geboren - als Tochter eines nigerianischen Vaters und einer nigerianisch-schottischen Mutter, beides Ärzte. Sie wuchs in Massachusetts auf und studierte in Yale und Oxford. Derzeit lebt die 33-Jährige in Rom. Bald wird sie nach Amsterdam umziehen, gemeinsam mit ihrem Ehemann.
"Was die Rasse angeht, würde man mich schwarz nennen. Aber ich selbst würde mich nicht schwarz nennen. Was die Nationalität angeht, würde man mich Amerikanisch nennen, aber ich selbst betrachte mich nicht als Amerikanerin. Ich habe einen britischen Pass, aber ich fühle mich nicht britisch. Und kulturell - wie ich diesen schwer zu definierenden Abgrund genannt habe – bin ich so viele Dinge."
"Afropolitans" sind mehrsprachig, erfolgreich - und heimatlos
2005 hat Selasi der paradoxen Vielfalt einen Essay gewidmet. Um sich und eine ganze Generation von Weltbürgern mit afrikanischen Wurzeln zu beschreiben, schuf sie den Begriff "Afropolitan": mehrsprachig, erfolgreich, auf der Suche nach der eigenen Identität. Sie traf einen Nerv. Heute gilt sie vielen Menschen als Expertin für Dinge wie Heimat und Identität. Dabei ist sie eigentlich Schriftstellerin.
"Manchmal bereue ich, dass meine Identitätsprobleme – mit denen sich die von Ihnen genannten Essays beschäftigen – mit den Problemen meiner Charaktere verwechselt werden. Dabei haben meine Charaktere eigene Probleme, bessere Probleme als ich. Ihre sind viel sexier als meine. - Ich kann außergewöhnlich lange stillsitzen und an einem einzelnen Text arbeiten. Auf der einen Seite. Auf der anderen fiel es mir in den vergangenen zwei Jahren schwer, mehr als einen Monat in einer Stadt zu verbringen, ohne dass mich eine akute Form der Wanderlust überfiel."
Welchen Ort nennt so jemand sein Zuhause?
"My Laptop. (lacht) It’s true. Honestly, it goes with me everywhere. I have it with me now..."
Lächelnd zieht Selasi einen hauchdünnen Computer aus ihrer Tasche und streichelt zärtlich über die matte Aluoberfläche. Sie meint das ziemlich ernst mit dem Laptop.
"Er behält den Überblick über meine Gedanken und Beobachtungen. Durch die lerne ich mich selbst kennen. Dadurch verstehe ich auch den Raum, in dem ich mich aufhalte und meine Reaktionen darauf."
"Der Laptop behält den Überblick über meine Gedanken"
Den Computer hat sie immer dabei. Ihre emotionalen Heimstätten sind über die ganze Welt verteilt. Es sind fünf. Ein Haus in Indien. Das Haus ihres Ex-Stiefvaters in den Staaten. Das Haus ihrer Mutter in Ghana. Ihre eigene Wohnung in Rom. Und die Wohnung, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann in New York bewohnt.
"Und sechstens und vielleicht am wichtigsten: wo immer meine Zwillingsschwester ist. Immer dann, wenn meine Zwillingsschwester und ich zusammen sind, wo immer das sein mag, fühle ich mich zu Hause."
Sehen sich die beiden nicht, schreiben sie sich SMS. Jeden Tag 11:02 Uhr oder 23:02 Ortszeit. Der Geburtstag der beiden ist der 02. November – 11/2 in angelsächsischer Schreibweise. An diesem Tag wird die SMS aus Berlin kommen. Das Internationale Literaturfestival Berlin hat Selasi als Rednerin eingeladen.
"Was mich an der Bezeichnung 'afrikanische Literatur' besonders ärgert, ist, dass sie suggeriert, die afrikanische Erfahrung stehe außerhalb der Welt des Universellen. Wenn wir afrikanische Charaktere und afrikanische Geschichten aufnehmen würden in das 'allgemein Menschliche', gäbe es nicht mehr viel, woran wir uns festklammern könnten, um das Fremde zu definieren, das angeblich die afrikanische Literatur ausmacht."
So wenig Selasi davon hält, Menschen nach Hautfarbe zu sortieren, so wenig hält sie davon Literatur geografisch zu verorten. Es gibt keine afrikanische Literatur, keine asiatische und keine nordamerikanische. Aber was gibt es dann?
"Gute Literatur und schlechte. Liebesgeschichten, Kriegsgeschichten. Romane über Städte. Den Bildungsroman. Familiendramen."
Und überhaupt: Afrikanisch. Immer wieder wird sie mit dem Satz konfrontiert: Du wirkst gar nicht afrikanisch. Und du wirkst nicht besonders intelligent, antwortet sie dann.
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