Literatur als Thema

Das Buch macht die Literaturproduktion selbst zum Thema. Um Schreiben und Autorschaft geht es also, aber auch um das Schweigen der Vertriebenen und um eine Jugend in der ostwestfälischen Provinz.
Von Hans-Ulrich Treichel sind keine dickleibigen, zur Unform tendierenden Romane zu erwarten. Er ist - zwischen Gütersloh, Bielefeld und Osnabrück aufgewachsen - ein Autor der kleinen Erfahrung und des scheinbar unscheinbaren Lebensdetails.

"Der Felsen, an dem ich hänge" versammelt kleine Texte: Aufsätze, Essays, Glossen, Artikel, die seit Anfang der neunziger Jahre entstanden sind. Der Titel, ein Flaubert-Zitat ("Mein Roman ist der Felsen, an dem ich hänge..."), macht die Literaturproduktion selbst zum Thema. Um Schreiben und Autorschaft geht es also, aber auch um das Schweigen der Vertriebenen, um eine Jugend in der ostwestfälischen Provinz, Ahnenforschung und Kinderlosigkeit, eine Reise nach New York und frühe Fahrten mit der Teutoburger-Wald-Eisenbahn, das Lebensgefühl im Berlin der siebziger und achtziger Jahre, einen Besuch im Erotikmuseum und das Verhältnis zu Autoren wie Kafka oder Capote.

Ein buntes Allerlei also, das nur vom Buchrücken zusammengehalten wird? Keineswegs. Zusammenhang stiftet hier vor allem derjenige, der "Ich" sagt und erfrischend subjektiv von seinen Lebens-, Lese- und Schreiberfahrungen spricht. Es ist der Ton jenes schüchtern-verschmitzten Erzählers, den man aus wunderbaren kleinen Romanen wie "Der Verlorene" oder "Tristanakkord" kennt.
Treichels Poetik versteht Literatur nicht zuletzt als Kompensation für biographische Defizite. Der Autor erfährt sich nicht als Souverän seines Lebens, sondern als Getriebener, Unterworfener, Verängstigter. Vergangene Debakel und Demütigungen, noch nicht vergessene Verstörungen und schwer überwundene Unzulänglichkeiten sind aufgehoben in Kabinettstücken der Erzählkunst. In diesem Sinn ist Treichels Schreiben immer eine Form humoristischer Bewältigung der eigenen Vergangenheit. Schwächen und Neurosen kommen zur Darstellung, allerdings - und dies ist entscheidend - mit einer "Aura der Souveränität". Diese Aura erzeugt vor allem Treichels Ironie. Sie entsteht aus der Differenz zwischen dem fortgeschrittenen Bewusstsein des erzählenden Arrangeurs und der liebenswürdigen Torenhaftigkeit seiner habituell jugendlichen Protagonisten und Ich-Erzähler.
Treichel tut sich schwer mit Lesungen und dem damit oft verbundenen "Gespräch mit dem Autor", das er "zu den großen Belastungen des Schriftstellerberufs" zählt. Der gute Texthandwerker will nicht sich selbst, sondern sein literarisches Produkt bieten, das Buch: "gründlich geplant, sorgfältig geschrieben, genaustens lektoriert, mehrmals korrekturgelesen, mit einem eleganten Umschlag versehen. Dagegen sieht die empirische Autorenperson immer irgendwie blass und unfertig aus. Schlecht geplant, schlampig gearbeitet und nur schwer korrigierbar". Eine weitere Ironie besteht darin, dass der Gegenstand von Treichels Prosa aber gerade das Erfahrungsmaterial dieser unzulänglichen empirischen Person ist.

Es gebe "größenwahnsinnige", aber auch "kleinheitsverrückte" Autoren, heißt es an einer Stelle. Robert Walser wäre einer der letzteren, und wohl auch Treichel selbst. Er gewinnt sogar noch seiner inzwischen errungenen Weltläufigkeit eine "kleine" Pointe ab. Als Autor sei er schon auf allen Kontinenten eingeladen gewesen, teilt er mit und fährt fort: "Das hört sich ziemlich großartig und weltmännisch an, aber ich sage mir immer: Vergiss nie, dass du es bist, der dort herumreist."

Vor allem seine Jugend sei von einem Gefühl existentieller Kleinheit und Nichtigkeit geprägt gewesen, das in mehreren Texten des Bandes in Zusammenhang mit der Herkunftswelt gebracht wird. Wer an einer ostwestfälischen Umgehungsstraße aufwuchs, wie sollte der ein Gefühl von Lebensfülle gewinnen? Die Region ist, Ressentiment hin oder her, ein kulturelles Randgebiet, in der die Tradition bis heute von Schützen- und Männergesangsvereinen dominiert wird. Westfalen habe ihm die besten Jahre seiner Pubertät geraubt, klagt Treichel und beschwört die Melancholie des dicken Kindes, das am Fenster steht und auf die Kreuzung schaut, weiter vorne die kleine Filiale der Sparkasse.

Zum anderen aber versteht Treichel seine leere Jugend als Echoraum historischer Traumatisierungen. Seinem Erfahrungsmangel stehe die Überfülle an Schreckenserfahrung bei den Eltern gegenüber: Krieg, Kriegsversehrtheit, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung, Kindesverlust (Treichels Bruder, der das leere Zentrum seines bis heute bekanntesten Romans abgibt, ging auf der Flucht verloren). Das Zuviel, das den Eltern zugemutet wurde, habe bei ihm in der Nachfolgegeneration ein Zuwenig generiert. Familienintern wurde das Trauma nie thematisiert. Stattdessen Arbeitswut und panischer Fleiß, um eine neue Existenz aufzubauen: nach der Flucht die Flucht nach vorn. Das Wirtschaftswunder als Versuch, den Schrecken zu bannen. Als der Vater endlich seinen Opel Kapitän errungen hatte, starb er an einem Herzinfarkt.

Der Band enthält sehr persönliche, aber nie indiskrete Texte. Immer wieder darf auch herzlich gelacht werden bei der Lektüre: ob Treichel Creative-Writing-Ratgeber mustert, ob er als Ägypten- oder Türkeitourist skurrile Erfahrungen mit Einheimischen macht oder die Berliner Zimmer und Wohngemeinschaften beschreibt, in denen er in seinen jüngeren Jahren gewohnt hat. Beinahe sentimentalisch ist seine Erinnerung an das Leben in der Stadt vor 1989. Die Mauer sei für ihn eine Art "antiwestfälischer Schutzwall" gewesen, gibt er zu. Immerhin war die eingeschlossene Halbstadt vollkommen frei von Umgehungsstraßen.

Hans-Ulrich Treichel: "Der Felsen, an dem ich hänge. Essays und andere Texte." Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005, 188 S., 12,80 Euro