Literarisches Denkmal für eine Stadt

Rezensiert von Gertrud Lehnert |
Ángel Vázques hat mit "Das Hundeleben der Juanita Narboni" seiner Geburtsstadt Tanger ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Roman erschien 1976 erstmals in Barcelona und ist ausschließlich im inneren Monolog geschrieben, womit er sich an eine formale Linie mit Joyce, Virginia Woolf und Alfred Döblin anschließt.
Der Grazer Verlag Droschl hat den bereits 1976 in Barcelona erschienenen Roman "Das Hundeleben der Juanita Narboni"für das deutschsprachige Publikum entdeckt und zugänglich gemacht. Der im deutschsprachigen Raum bislang eher unbekannte Ángel Vázquez ist Autor einiger Romane und Erzählungen. Er wurde 1929 in Tanger geboren und lebte seit 1965 in Spanien, wo er 1980 starb.

"Das Hundeleben der Juanita Narboni" kann ebenso gut als Lebensgeschichte einer glücklosen, verbitterten "alten Jungfer" gelesen werden wie als Serie von Momentaufnahmen einer ungewöhnlichen Stadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Tanger war, bevor es zu Marokko gehörte, ein kosmopolitisches Sammelbecken für Menschen jeglicher Herkunft: Afrikaner aus den französischen Kolonien, Araber, Juden aus Europa auf der Flucht vor den Nazis, Spanier auf der Flucht vor dem Franco-Regime und viele andere.

Juanita wächst als Tochter eines tyrannischen englischen Vaters und einer duldsamen spanischen Mutter dort auf. Sie ist das ungeliebte, hässliche Kind, stets im Schatten der älteren Schwester, der Juanita soviel Hass wie Liebe entgegenbringt. Die Schwester brennt mit einem Mann durch, die Eltern sterben. Juanita bleibt allein zurück, verfällt dem Alkohol, führt imaginäre Dialoge mit sich selbst, mit ihrer verstorbenen Mutter, hat einmal fast eine Affäre, aber der Mann ist schwul und wird eines Tages ermordet aufgefunden ...

Das eigentlich Ungewöhnliche an diesem Roman mit seinen 350 Seiten ist zum einen die Sprache, die er verwendet: eine Mischung aus den unterschiedlichsten Sprachen Tangers, die sich kaum übersetzen lassen, schon gar nicht das dominante sephardische Spanisch, das denn auch konsequenterweise im Original zitiert wird. So gut die Übersetzung insgesamt auch ist, so lässt sich folglich die sprachliche Vielfalt des Romans nur erahnen.

Ungewöhnlich ist zweitens die Erzählform: Der Roman ist vollständig im inneren Monolog erzählt. Keine Erklärung, kein erläuternder Hinweis eines Erzählers gibt einen roten Faden durch den Gedanken- und Redewust der Protagonistin, durch die Vielzahl der Personen und politischen Ereignisse und die zeitlichen Sprünge. Wir erfahren nur, was Juanita in ihrer völlig subjektiven Perspektive wahrnimmt, assoziiert, erinnert, phantasiert und reflektiert.

Hier wird kein Roman erzählt, sondern wir geraten unvermittelt und direkt in die Innenwelt eines fremden Menschen. Da Juanita zu niemandem redet als zu sich selbst (aber das pausenlos!), fehlt ihr jegliches Bestreben, ein kohärentes Sinnganzes zu produzieren, das für Außenstehende nachvollziehbar wäre. Hat man sich indessen eingelesen, erkennt man die Figuren und die Orte wieder und vermag aufgrund von spärlichen Hinweisen auch die Chronologie nachzuvollziehen.

Ein aufregendes literarisches Experiment also, das (mindestens) zwei Traditionslinien der modernen Literatur verpflichtet ist:

(1) Der innere Monolog wurde von Edouard Dujardin ("Les lauriers sont coupés", 1887) erprobt und von Arthur Schnitzler in seinen Erzählungen "Leutnant Gustl" (1901) und "Fräulein Else" (1924) konsequent und differenziert angewandt. James Joyce beendet seinen Roman "Ulysses" (1922) mit dem Monolog der Molly Bloom. Handelt es sich dabei um kurze Momente oder Stunden, die in diesen Bewusstseinsströmen eingefangen werden, so umfasst Vázquez' Roman mehrere Jahrzehnte und eben nicht nur 20 oder 30 Seiten sondern 350.

Und das ist sowohl der Reiz als auch die Gefahr des Buches. Der Roman ist streckenweise etwas mühsam zu lesen, zumal der Tonfall Juanitas mehr oder weniger gleich bleibt, so dass die Eintönigkeit ihres an äußeren Ereignissen armen Lebens sich auch in der Erzählform spiegelt - trotz aller Höhen und Tiefen ihres emotionalen Erlebens.

Auf der anderen Seite entwickelt diese Darstellungsform, hat man sich erst einmal auf sie eingelassen, durchaus einen Sog. Wir erfahren viel über diese Person und über ihr erbärmliches Leben, über ihre Ängste, Verzweiflungen, über ihre ganz geheimen Ansichten, die zuweilen im krassen Gegensatz zu dem stehen, was sie zu anderen sagt. Ebenso viel erfahren wir über das Alltagsleben in Tanger, und zwischen den Zeilen schließlich auch über die politischen Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Darüber hinaus wird die Orientierungslosigkeit des Lebens in der Moderne nach dem Verlust der großen sinnstiftenden Erzählungen anschaulich gemacht: Juanitas Leben und Erleben fügt sich keinem sinnvollen Ganzen ein und unterliegt keiner zielgerichteten Entwicklung, die Zeit vergeht nicht linear, der Raum wird punktuell erlebt. Was zur zweiten Traditionslinie führt:

(2) John Dos Passos' Roman "Manhattan Transfer", Döblins "Berlin Alexanderplatz", Joyces "Ulysses", Virginia Woolfs "Mrs Dalloway" (alle in den 1920er Jahren erschienen) haben als unausgesprochene Protagonisten die Stadt selbst, gespiegelt in der Wahrnehmung unterschiedlicher Figuren, die sich durch den städtischen Raum bewegen.

Ähnliches geschieht hier. Tanger ist der Ort des Geschehens, aber er ist so selbstverständlich, dass er nur am Rande in den Blickwinkel gerät - damit aber genau so, wie jemand, die ihr ganzes Leben dort verbringt, diesen Ort wahrnimmt. Insofern ist Tanger die eigentliche, geheime Protagonistin des Romans.

Es lässt sich schwer beurteilen, ob Vazquez wirklich das vergessene Genie der spanischsprachigen Literatur ist, wie der Verlag mitteilt. Eine unbedingt lesenswerte Entdeckung ist sein Roman allemal.


Ángel Vázquez: Das Hundeleben der Juanita Narboni
Mit einem Vorwort von Juan Goytisolo.
Aus dem Spanischen von Gundi Feyrer.
Literaturverlag Droschl, Graz 2005,
376 S., € 25,-