Literarische Verdichtung

01.09.2009
Den 2003 erschienenen Roman "Schnee in den Ardennen" nannte Jürgen Becker im Untertitel einen "Journalroman", 2006 folgten mit "Die folgenden Seiten" "Journalgeschichten" und nun legt der 1932 in Köln geborene Autor ein Buch mit dem Titel "Im Radio das Meer" vor, das "Journalsätze" versammelt.
Es ist dem eigenwilligen Hang des Autors zur Verknappung zu danken – vom Roman über die Geschichten zu einzelnen Sätzen –, dass mit "Im Radio das Meer" eines der merkwürdigsten und zugleich bemerkenswertesten Bücher des Herbstes 2009 vorliegt. Es ist ein Beleg für Beckers sprachlichen Minimalismus, denn in dem Buch überwiegt der für sich allein stehende einzelne Satz, der durch einen Zwischenraum vom vorhergehenden und dem ihm folgenden abgesetzt ist. Seltener sind zwei Sätze, noch seltener finden sich Abschnitte, die aus mehreren Sätzen bestehen.

Das Wagnis, auf das sich Becker mit dieser kühnen Komposition einlässt, besteht zum einen in der Verdichtung: "Was man weglässt, ist nicht da." Die Methode Beckers bei der Komposition des Bandes besteht in der radikalen Komprimierung von Ereignissen, Beobachtungen oder Erlebnissen, bis ihnen nichts Überflüssiges mehr anhaftet. "Manche Sätze brauchen lange Zeit, bis sie sich schreiben lassen", lautet ein Satz aus "Im Radio das Meer". Die Sätze sind dem Zeitfaktor in mehrfacher Hinsicht geschuldet. Weil Zeit knapp ist: "Biographisches bitte in Stichworten". Doch was erfährt man aus einer solchen Biografie über die Person? Und hat Interesse an der Person, wer nur die Fakten wissen will? Auf den ersten Blick scheint Becker mit der im Buch vorherrschenden Kürze dem Diktat der Zeit zu folgen, das er aber mit seiner Kurzprosa konsequent unterläuft. Der Sinn dieser Sätze erschließt sich erst, wenn man sich auf sie einlässt, ihnen nachspürt, ihrem Klang nachhört und sie als Zentrum einer Geschichte begreift, die zu konstruieren oder zu rekonstruieren bleibt. Unwesentlich ist das scheinbar zufällig Notierte bei Becker nicht, denn seine Sätze verstehen sich als Wegweiser. Sie geben eine Richtung vor und weisen dorthin, wo sich Geschichten finden und erfinden lassen. Diesen Geschichten hat er zwar keine sprachliche Gestalt verliehen, aber wie von unsichtbarer Hand hat er sie dennoch dem Buch eingeschrieben. Das macht die Spannung der "Journalsätze" aus, die sich aus dem Wechsel zwischen Gesagten und Ungesagtem ergibt. Insofern bilden die Zwischenräume in Beckers Buch zwar Leerstellen, die aber dazu einladen, sie mit Sinn zu füllen. Wo scheinbar nichts steht, sind in diesem Buch die eigentlichen Entdeckungen zu machen. Die Kunst des Weglassens hat Becker beim Schreiben von Gedichten gelernt und sie beim Verfassen von Prosa weiter ausgebildet. Würde ein Literaturpreis für ein Buch vergeben werden, das aufs Wunderbarste einen erzählerischen Kosmos entfaltet, wo nichts geschrieben steht, Jürgen Becker wäre mit "Im Radio das Meer" ein erster Anwärter für diesen Preis.

Besprochen von Michael Opitz

Jürgen Becker: Im Radio das Meer. Journalsätze
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
245 Seiten, 19,80 Euro