Literarische Reportage

Zwischen Mexiko und Feuerland

Von Katharina Döbler · 08.05.2014
Eine Generation lateinamerikanischer Schriftsteller beschreibt ihr "anderes Amerika". Im Genre der literarischen Reportage - den crónicas - geht es um Migranten, Zwillinge und Wrestlerinnen. Texte, aus denen man viel über lateinamerikanische Realitäten erfährt.
Der lateinamerikanische Journalismus hat ein eigenes Genre der literarischen Reportage hervorgebracht – nachhaltig gefördert durch eine Stiftung des vor kurzem verstorbenen Gabriel García Márquez und gepflegt in großen Magazinen wie "Letras Libres" oder "Gatopardo": die so genannte crónica.
Prozesshafte, langsame Ereignisse
In dem nun bei Suhrkamp erschienenen Band sind 17 solcher crónicas über Menschen, Gegenden und Zustände von Mexiko bis Patagonien, von der Karibik bis Amazonien versammelt. Um Ereignisse geht es darin selten – und wenn, dann um prozesshafte, langsame Ereignisse. Solche, die längst die Form der Alltäglichkeit angenommen haben, auch wenn sie bizarr, schrecklich und grausam sind; solche wie die endemischen Frauenmorde in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad de Juarez, wie die illegale Migration in die USA, bei der immer wieder Menschen in der Wüste umkommen; solche wie die seltsame Häufung von Zwillingsgeburten an einem Ort, an dem sich der KZ-Arzt Mengele einst versteckt haben soll.
Die Lebensweise ist häufig schlicht Überlebenstechnik
Einer der – auch hierzulande - bekanntesten Autoren in diesem Band ist der argentinische Journalist und Erzähler Martín Caparrós. Er berichtet vom Leben auf einer künstlichen Insel in Kolumbien, „wie das Elendsviertel einer x-beliebigen Großstadt, das unversehens mitten aus dem smaragdgrünen Meer ragt". Sein Augenmerk liegt, wie auch bei den anderen „cronistas", auf den Gegebenheiten und der daraus resultierenden Lebensweise, die oft einfach eine Überlebenstechnik ist. Aus all diesen Texten erfährt man sehr viel über lateinamerikanische Realitäten. Als beispielhaft sei der lange Bericht von Andrés Solano genannt, der sechs Monate vom kolumbianischen Mindestlohn in einem Armenviertel von Medellín lebte.
Städte, in denen Wrestlerinnen leben, Inseln, die von C-Waffen verwüstet sind
Alma Guillermoprieto, eine der renommiertesten Journalistinnen Lateinamerikas, erzählt von Frauen, die in der bolivianischen Armenstadt El Alto bei La Paz, in der die aus den Dörfern zugewanderten Indigenen leben, Wrestling-Kämpfe bestreiten. An politischen Fakten orientiert sich Guido Bilbao, der über die Überreste von Chemiewaffentests der USA in Panama recherchiert hat. Auf der paradiesisch schönen Insel San José etwa liegen bis heute C-Bomben, halb vergrabene Blindgänger, in der Nähe eines Luxusressorts mit herrlichem Strand. Dieser Text stammt allerdings aus dem Jahr 2004; aktualisiert wurde er für die deutsche Ausgabe nicht. (Inzwischen gibt es ein diesbezügliches Abkommen mit den USA, eingebettet in die Verhandlungen über die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA). Da hätte man sich doch eine Anmerkung zum gegenwärtigen Stand der Dinge gewünscht.
Auch bei einigen anderen Texten vermisst man die Hand der Herausgeber. Gelegentlich wäre eine Karte hilfreich gewesen, ein Querverweis, eine aktuelle Ergänzung. Stattdessen ist das Buch mit grafischem Retro-Aufwand zwar hübsch, aber unübersichtlich gestaltet. Die großartigen und hochinteressanten Texte sprechen zum Glück weitgehend für sich.

Carmen Pinilla, Frank Wegner (Hrsg.): Verdammter Süden. Das andere Amerika
Aus dem Spanischen und Englischen von Frank Wegner
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
315 Seiten, 20,00 Euro

Mehr zum Thema