Literarische Ausflüge in die Unterschicht
Ralf Rothmann hat bereits mehrere Erzählbände veröffentlicht. Zumeist geht es in seinen Geschichten um Menschen aus den "unteren Schichten". Auch in seinem neuen Band "Rehe am Meer" widmet er sich der Perspektive derjenigen, die den Veränderungen in ihrer Umwelt hilflos gegenüberstehen.
Ralf Rothmann, geboren 1953, gehört zu den auffälligsten Autoren seiner Generation. Es ist verblüffend, wie seine Bücher im Lauf der Zeit immer mehr an Geltung gewannen: Er hat fast alle wichtigen Preise bekommen, die Besprechungen sind allesamt positiv bis enthusiastisch, und es gibt kaum einen Kritiker, der ihn nicht sofort zu den herausragenden deutschsprachigen Gegenwartsautoren zählt. Dabei ist an ihm auf den ersten Blick kaum etwas Auffälliges. Seine Romane und Erzählungen leben von Milieuschilderungen, im engeren Sinne vom Ruhrpott, in dem er aufgewachsen ist. Und eine gewisse suggestive Wirkung zeigt sich darin, dass seine Hauptfiguren oft Heranwachsende sind: Da ist die Sprache einfach, da ist die Welt einerseits geheimnisvoll, andererseits noch recht gut überschaubar. Es gibt dabei auch häufig ein bisschen pathetische Passagen, die die Kunst als Gegenwelt feiern, ein bisschen Metaphysik wird hin und wieder zusätzlich aufgerufen – manchmal ist man an Hermann Hesse erinnert, der Rothmanns Generation in jungen Jahren ja flächendeckend geprägt hat.
"Rehe am Meer" ist wieder ein Erzählungsband Rothmanns, nach den Romanen "Junges Licht" und "Hitze", die in den letzten Jahren kurz hintereinander erschienen sind. In den zwölf Erzählungen haben wir wieder alles, was Rothmann ausmacht: Ausflüge in die unteren Schichten, in den Soziolekt Berlins, wo Rothmann seit 1976 lebt, griffige Figuren, mit denen "dem Volk aufs Maul geschaut" wird, wie man früher gesagt hat; Rothmann ist es damit immer noch ernst. Aber auch die Perspektive der Kinder und Jugendlichen wird hier manchmal wieder eingenommen, mit all den verführerischen Widererkennungseffekten und sentimentalischen Anwandlungen.
Gleich in der ersten Geschichte, die wohl die beste ist, sind Rothmanns Vorzüge am deutlichsten versammelt. Es geht um eine Baukolonne aus der Perspektive eines gewissen "Manni", der stolz darauf ist, den Beton unübertrefflich zu mischen. Manni spricht so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist oder wie man es sich gemeinhin vorstellt, wie ein bodenständiger Kumpel, der das Herz eigentlich auf dem rechten Fleck hat, so spricht. So etwas findet man selten in der deutschen Gegenwartsliteratur, und vielleicht genießt Rothmann deshalb so viel Kredit. Unter der Hand wird das Ganze zu einer kleinen Szenerie über die Auswüchse der Globalisierung, des Verdrängungswettbewerbs unter den Baufirmen, den illegalen Machenschaften, und am Ende steht ein anarchischer, ohnmächtiger Akt des Widerstands.
In anderen Geschichten rundet es sich bei weitem nicht so gut. Manchmal bleibt die Fabel irgendwo hängen oder entspricht bloß dem Reißbrett, und es sind viel Klischees am Werk: der Ostjunge etwa, der darunter leidet, dass eine reiche Westfamilie eine Ferienwohnung in seinem Elternhaus mietet und ihm sein Zimmer wegnimmt, plus Beischlaf seiner Mutter mit dem Wessi. Oder die Zwölfjährige, die schon ihre Regel hat und zum ersten Mal mit den sexistischen Verhaltensweisen der Männer konfrontiert wird. So bieten diese Erzählungen Einblicke in den Konstruktionshaushalt des Autors Ralf Rothmann, immer auf dem schmalen Grat zwischen Suggestion und Absturz.
Rezensiert von Helmut Böttiger
Ralf Rothmann: Rehe am Meer
Erzählungen
Suhrkamp Verlag
212 Seiten, 19,80 Euro
"Rehe am Meer" ist wieder ein Erzählungsband Rothmanns, nach den Romanen "Junges Licht" und "Hitze", die in den letzten Jahren kurz hintereinander erschienen sind. In den zwölf Erzählungen haben wir wieder alles, was Rothmann ausmacht: Ausflüge in die unteren Schichten, in den Soziolekt Berlins, wo Rothmann seit 1976 lebt, griffige Figuren, mit denen "dem Volk aufs Maul geschaut" wird, wie man früher gesagt hat; Rothmann ist es damit immer noch ernst. Aber auch die Perspektive der Kinder und Jugendlichen wird hier manchmal wieder eingenommen, mit all den verführerischen Widererkennungseffekten und sentimentalischen Anwandlungen.
Gleich in der ersten Geschichte, die wohl die beste ist, sind Rothmanns Vorzüge am deutlichsten versammelt. Es geht um eine Baukolonne aus der Perspektive eines gewissen "Manni", der stolz darauf ist, den Beton unübertrefflich zu mischen. Manni spricht so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist oder wie man es sich gemeinhin vorstellt, wie ein bodenständiger Kumpel, der das Herz eigentlich auf dem rechten Fleck hat, so spricht. So etwas findet man selten in der deutschen Gegenwartsliteratur, und vielleicht genießt Rothmann deshalb so viel Kredit. Unter der Hand wird das Ganze zu einer kleinen Szenerie über die Auswüchse der Globalisierung, des Verdrängungswettbewerbs unter den Baufirmen, den illegalen Machenschaften, und am Ende steht ein anarchischer, ohnmächtiger Akt des Widerstands.
In anderen Geschichten rundet es sich bei weitem nicht so gut. Manchmal bleibt die Fabel irgendwo hängen oder entspricht bloß dem Reißbrett, und es sind viel Klischees am Werk: der Ostjunge etwa, der darunter leidet, dass eine reiche Westfamilie eine Ferienwohnung in seinem Elternhaus mietet und ihm sein Zimmer wegnimmt, plus Beischlaf seiner Mutter mit dem Wessi. Oder die Zwölfjährige, die schon ihre Regel hat und zum ersten Mal mit den sexistischen Verhaltensweisen der Männer konfrontiert wird. So bieten diese Erzählungen Einblicke in den Konstruktionshaushalt des Autors Ralf Rothmann, immer auf dem schmalen Grat zwischen Suggestion und Absturz.
Rezensiert von Helmut Böttiger
Ralf Rothmann: Rehe am Meer
Erzählungen
Suhrkamp Verlag
212 Seiten, 19,80 Euro