Literarisch ambitionierte Auswahl

Sigrid Löffler und Wolfgang Schneider im Gespräch mit Andreas Müller · 16.09.2009
Sechs Finalisten haben es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft. Die Jury habe in diesem Jahr die Chance genutzt, zwar unbekannteren, aber "literarisch ehrgeizigen" Büchern zu mehr Publikum zu verhelfen, urteilen die Kritiker Sigrid Löffler und Wolfgang Schneider.
Andreas Müller: 25.000 Euro bekommt der Gewinner oder die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises am 12. Oktober, zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse werden Urkunde und Scheck für den besten deutschsprachigen Roman übergeben. Ja, und heute wurde die Shortlist bekanntgegeben, diese sechs haben es in die Endausscheidung geschafft: Rainer Merkel mit "Lichtjahre entfernt", Herta Müllers "Atemschaukel", Norbert Scheuer "Überm Rauschen", Kathrin Schmidt "Du stirbst nicht", Clemens Setz "Die Frequenzen" und Stefan Thome "Grenzgang". Bei mir zu Gast sind jetzt die Literaturkritikerin Sigrid Löffler und ihr Kollege Wolfgang Schneider, herzlich Willkommen, Sie beide!

Sigrid Löffler: Hallo!

Wolfgang Schneider: Hallo!

Müller: 150 Bücher waren im Rennen, daraus wurden 20, jetzt sind es sechs. Die Longlist, da waren interessante Namen drauf, mit 20 Titeln. Gab es irgendwas, wenn Sie jetzt auf diese Liste schauen, das Sie vielleicht vermissen? Ich muss sagen, Terezia Mora hätte ich hier gerne gesehen mit "Der letzte Mann auf dem Kontinent", ein Buch, das mir ausgezeichnet gefallen hat, hat es nicht geschafft.

Schneider: Ja, das ist wahr, es ist eine sehr überraschende Liste, was man ja auch positiv sehen kann. Der Buchpreis hat ja in den letzten Jahren eine erstaunliche Entwicklung gemacht, er ist in der Lage, ein Buch wirklich durchzusetzen auf dem Buchmarkt, wenn wir uns ans letzte Jahr erinnern, 500.000 Exemplare haben sich glaube ich relativ schnell von diesem sperrigen Roman von Tellkamp verkauft, "Der Turm". Das gilt auch für die Shortlist, dass da Bücher bekannt gemacht werden können, die sonst vielleicht unter den Tisch fallen würden.

Und das ist die Chance, die die Jury in diesem Jahr ganz offensichtlich wahrnimmt, mehr als alle anderen Jurys zuvor, Namen, die wahrscheinlich nicht allzu vielen Leuten was sagen, Norbert Scheuer, Clemens Setz, Rainer Merkel und Stefan Thome, das sind ja wirklich Geheimtipps. Man hätte es natürlich viel einfacher machen können, man hätte Brigitte Kronauer, Peter Stamm, Terezia Mora und Thomas Glavinic auf die Liste setzen können. Das hätten alle sicher gut gefunden, das wäre einfach gewesen, vielleicht auch ein bisschen langweilig.

Ich freue mich persönlich darüber, dass Glavinic und Peter Stamm zum Beispiel nicht drauf sind, ich finde, die Romane von denen sind nicht so gut, wie manche Leute behaupten, und ja, ich glaube, man kann bei diesen sechs anderen Büchern doch einiges entdecken.

Müller: Also, Wolfgang Schneider ist überrascht und erfreut. Wie ist es bei Ihnen, Frau Löffler?

Löffler: Ja, der Preis kann natürlich immer nur so gut sein wie die Jury, und der Vorteil des Deutschen Buchpreises ist, dass die Jury in jedem Jahr wechselt. Wir haben schon eher populistische Jurys gehabt, in dem Jahr haben wir eine etwas widersetzliche Jury, wenn ich das richtig sehe, Leute, die eigensinnig sind und auch einen ziemlich avancierten Literaturgeschmack haben.

Die Longlist schien mir so zu sein: Es war eine sehr ambitionierte Auswahlpolitik, die Longlist wollte die ganze stilistische und formale Bandbreite der avancierten deutschen Gegenwartsliteratur abbilden. Die Shortlist hingegen - und das scheint mir das Interessante -, da sind einerseits alle sperrigen und sehr schwierig lesbaren Texte rausgefallen, Bücher, die dem breiten Publikumsgeschmack wirklich widerstreben, Stichwort Reinhard Jirgl.

Andererseits sind aber auch, wie Kollege Schneider gesagt hat, die ohnehin erwartbaren, schon etablierten, gut verkäuflichen und beliebten Autoren rausgefallen, Stichwort der Krimikultautor Wolf Haas, der nun wirklich keinen Deutschen Buchpreis mehr braucht, um sich durchzusetzen. Und das, was übriggeblieben ist, das ist, denke ich, einerseits literarisch sehr ehrgeizig, nicht ganz leicht lesbar, aber trotzdem auch für geübte Leser dann doch mit großem Gewinn lesbar, alle sechs.

Müller: Sie deuten da etwas an, ich würde sagen, da müssen wir noch drüber sprechen, bevor wir jetzt wirklich auf die einzelnen Bücher vielleicht ein bisschen genauer kommen. Sie sagen, ein Wolf Haas braucht diesen Preis nicht, der ist bekannt, der verkauft, der hat sich durchgesetzt. Dann fragt man natürlich: Was soll so ein Preis? Soll er Bücher bekanntmachen oder soll er, wie es ja eigentlich heißt, den besten Roman auszeichnen?

Löffler: Das ist der Widerspruch in diesem Preis. Er ist angetreten, um den besten deutschsprachigen Roman des Jahres auszuzeichnen, aber in Wahrheit - wenn Sie sich anschauen, wer die Preiseauslober sind und was deren Interessen sind - geht es natürlich um den bestverkäuflichen Roman. Sie wollen einen dem Publikumsgeschmack entgegenkommenden, leicht lesbaren, gehobenen Unterhaltungsroman, und das war bisher - mit Ausnahme Tellkamps - auch tatsächlich immer der Fall. So ein Roman wurde ausgesucht.

Und diesmal, zum ersten Mal, glaube ich, entgegen den tieferen Wünschen der Preisauslober, geht es nun plötzlich um literarische Ambitionen, um das Einschreiben in die künftige, deutsche Literaturgeschichte. Die wollen, diese Juroren wollen ganz andere Autoren als das, was die Preiseauslober im Grunde im Auge hatten, als sie den Preis gründeten.

Müller: Wolfgang Schneider, gehen Sie da mit?

Schneider: Nur zum Teil. Ich finde, auch in den vergangenen Jahren ... So eine Autorin wie Katharina Hacker mit ihren "Habenichtsen" - das war auch ein sperriges Buch, ein nicht sehr spannendes Buch meiner Ansicht nach, also das war auch keine ganz leicht lesbare Kost. Es ist natürlich richtig, in diesem Jahr sind zum Teil sperrigere Bücher dabei, Herta Müller zum Beispiel, die, würde ich sagen, hat es doch geschafft, ein sperriges Buch noch auf die Shortlist ... mit diesem Buch über das Lagerleben ...

Müller: Die "Atemschaukel".

Schneider: Die "Atemschaukel", Lager, Zwangsarbeit in der Sowjetunion mit einer ganz eigenwilligen Sprache. Da würde ich schon mal ... Herta Müller ist, glaube ich, die große Favoritin dieser Liste, und da kann man sich dann schon mal fragen, ob das tatsächlich ein Buch sein kann, was unter Umständen 400.000 Leser lesen wollen. Ich finde diese Frage ja auch nicht ehrenrührig, es geht ja hier um eine Vermittlung. Es geht einerseits um ein gutes Buch, es geht andererseits aber auch darum, die Chance wahrzunehmen, ein gutes Buch an 400.000 Leser zu bringen. Und da würde ich sagen, Reinhard Jirgl ist da eben nicht der richtige Kandidat, so sehr ich Jirgl auch schätze, und Herta Müller, da ist die Frage, ob sie die Richtige ist.

Müller: Hat Tellkamps Erfolg da womöglich eine Tür geöffnet, also, dass so eine Jury auch sagt, ja, wir nehmen dann eben doch eher die Werke, die wir nicht nur gut finden, sondern die es verdient hätten, einen weiteren Leserkreis zu finden? Und 25.000 Euro Preisgeld plus die paar Tausend für die Nebengewinner, das ist ja nicht viel für eine Werbung, das ist ja relativ günstig. Überall wird jetzt über diesen Preis gesprochen, ja auch hier.

Löffler: Das ist richtig. Dieser Preis ist natürlich ein Marktsortierungsinstrument von allem Anfang an gewesen. Er soll das Überangebot des Buchmarktes auf einige, wenige Titel konzentrieren und fokussieren. Es geht ja nicht nur um die Beeinflussung des Publikums, indem ihnen bestimmte Titel drei Mal hintereinander - Longlist, Shortlist und Preisträger - nahegebracht werden, sondern es geht um die Beeinflussung der Buchhändler. Es soll ja die Aufmerksamkeit der Buchhändler auf bestimmte Titel gelenkt werden.

In meinen Augen bekommt dieser Buchpreis zu viel Aufmerksamkeit. Er fokussiert auf einige wenige Titel zum Schaden vieler anderer Titel, die es ebenso gut verdient hätten. Und das finde ich einen absoluten Nachteil. Das kann aber natürlich nur deshalb geschehen, weil der Buchpreis so wahnsinnig gut vernetzt ist. Er ist gestiftet vom Börsenverein, er ist gestützt von der Buchmesse, er ist gestützt von der Stadt Frankfurt, er ist wohlversehen mit strategischen Partnerschaften in Print- und im Radiobereich. All das garantiert ihm eine flächendeckende Medienaufmerksamkeit. Ich hätte es lieber, wenn die Feuilletonkollegen sich nicht davon so beeinflussen ließen, sondern vielleicht ihrem eigenen Geschmack ein bisschen nachgingen.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Sigrid Löffler und Wolfgang Schneider über den Deutschen Buchpreis, die Shortlist, die heute Mittag bekanntgegeben wurde. Lassen Sie uns doch bitte noch auf die Autoren, Autorinnen ein wenig schauen. Herta Müller haben wir genannt, die "Atemschaukel", es gibt Leute, die sagen, das ist mindestens ein Jahrzehntbuch, Jahrzehntroman. Kathrin Schmidt hat mit "Du stirbst nicht" auch ein Thema aufgegriffen, das sehr, sehr sperrig ist, wenn man so will, aber auch ihr zum Beispiel werden Chancen eingeräumt.

Schneider: Ja, würde ich auch sagen, das gehört zu den Büchern, dieser große Genesungsroman, da wird ja beschrieben, wie eine Schriftstellerin von einer Sekunde auf die andere aus ihrem Leben gerissen wird, ein Aneurysma im Hirn platzt und sie verliert die Sprache, sie kann sich kaum noch bewegen und dieser Prozess der allmählichen Genesung und der Wiedergewinnung des Lebens wird da beschrieben - übrigens ein sehr wahrnehmungsstarkes Buch, das gilt für alle diese Bücher, finde ich. Die kann man thematisch nicht auf einen Nenner bringen, das sind ganz verschiedene ...

Müller: Wobei Krankheit und Elend schon eine gewisse Rolle spielen, das zieht sich durch.

Schneider: Krankheit und Elend spielt in der Literatur immer eine Rolle, das ist keine Besonderheit. Aber ich finde, es fällt auf, dass drei dieser Autoren zum Beispiel Lyriker sind nebenbei. Das zeigt dieses Sprachbewusstsein dieser sechs Autoren auch schon mal. Und bei Herta Müller natürlich, wie hier diese Dingwelt des Lagers aufgeladen wird poetisch, das ist ganz einzigartig. Norbert Scheuer, das kleinste Buch und ich glaube das Buch mit den geringsten Chancen, da geht es um das Fischen unter anderem, die Mystik des Fischens im Fluss, des Fliegenfischens, wie da die Angelruten mit elegantem Schwung ausgeworfen werden und so weiter, dazu auch ein Familiendrama, also da geht es auch um intensive Wahrnehmung. Rainer Merkel, ein Buch, das in New York spielt, eine Liebe zerfällt und auch die ganze Stadt scheint zu zerfließen in der Hitze, also sehr starke, atmosphärische Eindrücke auch in diesem Buch, fast postapokalyptische Eindrücke. Und dann der Clemens Setz, ein ganz wildes, schräges Buch, das ist sozusagen der junge Wilde unter diesen Autoren, der ganz eigenwillige Metaphern sucht und ganz eigenwillige Vergleiche, ein Buch mit großer, großer Sprachlust.

Das ist ein Charakteristikum aller dieser sechs Bücher, glaube ich, dass sie sprachlich sehr intensiv sind, dass sie Schulen der Wahrnehmung sind. Ein bisschen raus fällt dieser eher bieder-realistische Roman, ausgerechnet das Debüt ist am bravsten, finde ich eigentlich fast, der Stefan Thome.

Löffler: Ist formal vielleicht nicht so aufregend, aber doch, denke ich, ein interessantes Buch. Es ist ein Provinzroman, und Provinzromane gibt es in der deutschen Literatur immer. Das ist einer der spannenderen, weil er an einem Volksfest, das alle sieben Jahre in einer kleinen Stadt stattfindet, die Beziehungen unter den Leuten entwickelt, vor allem geht es ihm auch um die Landflucht, Leute, die die ganze Zeit wegwollen, aber trotzdem auf dem Lande hängenbleiben und sich immer fragen, ob sie dort nicht ihr Leben verpassen. Es ist formal wahrscheinlich in der Struktur sehr anspruchsvoll, sprachlich nicht so anspruchsvoll, er ist natürlich ein realistischer Roman, aber ich denke, gerade deswegen würde er beim Publikum gute Chancen haben.

Schneider: Genau, das ist das Buch, was man ein paar Hunderttausend Lesern sozusagen ans Herz legen kann, das wäre eben so ein Kompromiss. Es ist ein gutes Buch, aber es ist jetzt nicht Avantgarde. Das wäre ein Debüt, und es wäre ungewöhnlich, glaube ich, einem Debüt den Preis zu geben, aber ich denke auch, der hat Chancen, das könnte der Kompromisskandidat sein.

Müller: Nach all dem, was ich jetzt von Ihnen beiden gehört habe, kann ich also eine Überschrift unterstützen, die ich in der "Zeit online" gefunden habe und da heißt es, die deutsche Literatur ist gegenwärtig besser als ihr Ruf und es gibt viel Qualität, auch wahrscheinlich hier auf dieser Shortlist des Deutschen Buchpreises, über die haben wir gerade geredet. Vielen Dank an Sigrid Löffler und Wolfgang Schneider, und weiterhin viel Freude bei der Literatur, auch wenn es mit den Preisen manchmal, Sigrid Löffler, vielleicht nicht ganz so funktioniert, wie Sie es gern möchten, aber wir reden immerhin über Bücher, und das ist ja auch nicht schlecht.