Lippenbekenntnisse

Liken ist keine echte Solidarität

Abstrakte Illustration von menschlichen Händen in verschiedenen Farben mit Daumen-nach-oben-Zeichen als Like-Geste.
Onlinepetitionen, Posts und Likes haben oft wenig mit echter Solidarität zu tun, kritisiert der Publizist Arno Frank. © Getty Images / Eratel
Ein Kommentar von Arno Frank |
Solidarität wird heutzutage oft beschworen, ob nun mit Kiew, mit überforderten Pflegekräften oder Transpersonen. Die Onlinepetitionen, Posts und Likes dienen aber oft nur der Steigerung des eigenen Wohlbefindens, kritisiert der Publizist Arno Frank.
Eigentlich geht es schon mit dem Blinken los. Genau, das Anzeigen einer Änderung der Fahrtrichtung im Straßenverkehr vermittels eines optischen Signals. Eine winzige Bewegung der linken Hand, das kostet mich als Fahrer nicht einmal einen Gedanken. Und doch scheint allein das schon zu viel verlangt.
Immer mehr Menschen bewegen sich im Straßenverkehr, als ob sie alleine auf der Welt wären. Verloren geht damit ein elementarer Service für die übrigen Verkehrsteilnehmer. Es unterbleibt immer häufiger ein Akt der Solidarität, wie er banaler kaum sein könnte.

Inflation der Solidaritätsbekundungen 

Was seltsam ist, weil derzeit kaum ein Tag vergeht, an dem nicht von Solidarität die Rede ist. Da sichert die deutsche Außenministerin, Annalena Baerbock, in Kiew der Ukraine ihre „Solidarität“ zu, liefert aber nur 5000 Helme. Da wird „Solidarität“ mit überforderten Pflegekräften – und damit durch die Blume eine Impfung – gefordert.
„Solidarität“ ist etwas, das den Opfern der Flutkatastrophe im Ahrtal ebenso gebührt wie Flüchtlingen auf dem Mittelmeer oder der Bloggerin, die im Internet mit Hass überschüttet wird.
Selten gab es so viele Solidaritätsbekundungen. Seinen Ursprung hat der Begriff im römischen Recht, seine Wurzel ist das Wort solidus, also gediegen, echt, fest. In der katholischen Theologie ist die Idee ganz zentral, man könnte sie auch mit „Nächstenliebe“ übersetzen.

Unsere Gesellschaft braucht echte Solidarität

Wesentlich und wirksam war der Begriff aber zur Zeit der Arbeiterbewegung, als es darum ging, den Proletarier aus der Vereinzelung in eine politisch wirksame Gemeinschaft zu überführen. Wir teilen die gleichen Probleme, und deswegen organisieren wir uns, treten gemeinsam für unsere Recht ein. Wir setzen durch, was uns zukommt. Solidarność! Hoch die internationale Solidarität!
Sie bedeutete mal sehr viel – nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Heute ist Solidarität zu einer inflationären Währung im gesellschaftlichen Diskurs geworden. Unablässig wird sie beschworen, bisweilen aktiv eingefordert – und nur selten wirklich praktiziert. Wann immer diese Münze ins Spiel kommt, sollte man also ihre Echtheit genau prüfen.
Im Kern ist Solidarität noch immer die Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Was ich nicht will, dass man mir tu‘, das möge auch keinem anderen zugefügt werden. Solidarisch ist, wer für eine gemeinsame Sache eintritt, und dieses Eintreten ist immer ein Geben, sei es von Geld, von Arbeitskraft oder von Lebenszeit.
Das ist echte Solidarität, verstanden als Gegenteil einzelkämpferischer Konkurrenz. Sie kostet etwas – ohne garantierte Aussicht darauf, dass wir diese Kosten eines Tages auch wiedererstattet bekommen.

Daumen hoch ist keine echte Solidarität

Im Umlauf ist heute hingegen eine falsche Solidarität, die einer einzelkämpferischen Konkurrenz sogar noch in die Hände spielt – jener um die größte Tugendhaftigkeit. Statt von Nächstenliebe sprach Friedrich Nietzsche versuchsweise von „Fernstenliebe“. Und tatsächlich wird uns täglich eine Fülle an Problemen oder Ungerechtigkeit ins Haus geliefert.
Solidarität mit alleinerziehenden Müttern, Transpersonen oder der Bürgerrechtsbewegung in Myanmar ist schnell gefordert, weil sie den Fordernden rein gar nichts kostet. Weshalb der Ruf nach ihr so laut ist wie noch nie zuvor.
Umgekehrt war es nie leichter, niederschwelliger und barrierefreier, die geforderte „Solidarität“ auch zu leisten – weil die vermeintliche Leistung im Grunde nur darin besteht, eine Petition zu unterschreiben oder ein Häkchen zu setzten. Daumen hoch! Like! Und schon ist das moralische Wohlbefinden wiederhergestellt. Das Ergebnis ist ein aufgeregtes Dauerblinken, ohne jemals abzubiegen. Eine Karikatur dessen, was Solidarität eigentlich bedeutet.

Arno Frank, Jahrgang 1971, hat in Marburg und München Kunstgeschichte und Philosophie studiert. Von 1999 bis 2011 war er bei der Tageszeitung „taz“ in verschiedenen Funktionen tätig – zuletzt als Ressortleiter des von ihm mitgegründeten Gesellschaftsteils. Seit 2011 schreibt er als freier Autor für verschiedene Medien und ist als Pauschalist für den „Spiegel“ tätig. 2017 erschien bei Klett-Cotta sein Debütroman „So, und jetzt kommst du“. 2021 veröffentlichte er einen Beitrag in dem Sammelband "Klasse und Kampf", in dem es unter anderem um soziale Herkunft und Diskriminierung geht.

Der Autor Arno Frank in seinem Heimatort Gelsenkirchen.
© picture alliance / ROPI / Anna Weise
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