Rückgeschulte Linkshänder

Zurück zur starken Hand

06:53 Minuten
Drei Kinder stehen vor einer Tafel. Ein Kind schreibt mit links, ein anderes mit rechts.
Falsch gelebte Händigkeit kann ernsthafte Probleme nach sich ziehen – von Konzentrations- und Schlafstörungen bis zu Depressionen und Angstattacken. © Getty Images / Klaus Vedfelt
Von Iris Milde · 08.08.2022
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Bis in die 1990er war es üblich, Kinder in der Schule auf die rechte Hand umzulernen. Ernsthafte physische und psychische Probleme können die Folge davon sein. Für manche Erwachsene kann die Rückkehr zur Linkshändigkeit wie eine Befreiung wirken.
„Ich wusste immer irgendwie, dass ich Linkshänderin bin“, sagt Marina Neumann. „Und als ich dann in die erste Klasse kam, wollte ich mit links schreiben, und vom ersten Tag an wurde mir unmissverständlich zu verstehen gegeben: Wir schreiben hier mit rechts. Wenn ich das dann vergessen habe oder nicht wollte, gab es eben auch Ohrfeigen."
Marina Neumann ist Linkshänderin. In der Schule musste sie mit rechts schreiben und malen lernen. Bis Anfang der 90er-Jahre war es üblich, Linkshänder auf die rechte Hand umzuschulen.

"Ich hatte Angst vor der Schule“

Doch mit der schwächeren Hand ist man weniger geschickt, es fehlt das Feingefühl. Misserfolge sind damit programmiert.
"Ich hatte Angst vor der Schule, ich hatte oft auch Bauchschmerzen und ich hatte im Grunde seit der ersten Grundschulklasse Schlafstörungen. Ich konnte stundenlang nicht einschlafen und war morgens einfach wie gerädert."
Heute weiß man: Die Händigkeit ist genetisch vorbestimmt. Man kann sie oft schon bei Kleinkindern erkennen. Mit bildgebenden Verfahren konnte nachgewiesen werden, dass bei Rechtshändern während des Schreibens die linke Gehirnhälfte starke Aktivität zeigt, bei Linkshändern die rechte. Und: Wenn Linkshänder mit rechts schreiben, sind beide Gehirnhälften stark beansprucht.

Dieses Gefühl, immer irgendwie überfordert zu sein, war auch immer da. Und was auch immer da war, war so ein Gefühl: Eigentlich geht das alles gar nicht, was ich hier machen muss.

Marina Neumann

Marina Neumann wiederholte freiwillig eine Klasse, schaffte das Abitur und studierte Psychologie. Sie beschloss, wieder als Linkshänderin zu leben.
"Als Psychologin wusste ich, dass Veränderungen langsam und behutsam angegangen werden sollten. Da war ich drei Wochen auf einer kanarischen Insel und hab gedacht: Im Urlaub habe ich Zeit, da mache ich das ganz behutsam und hatte täglich das Gefühl: Endlich bin ich da, wo ich immer hinwollte. Nämlich ich hatte das Gefühl, ich öffne da eine Tür", erzählt sie.

Probleme wegen falsch gelebter Händigkeit

Nach diesem Erlebnis stellte die Psychologin auch bei einigen ihrer Patienten eine Linkshändigkeit fest und schulte sie um.
"Ich hatte auch Patienten, die lange in der Psychiatrie waren oder immer wieder rein und raus, rein und raus, die unglaublich auch durch die Rückschulung gewonnen haben“, erzählt sie. „Plötzlich angefangen haben, ja, wieder zu sich zu finden, die mussten dann nicht mehr zurück, die haben dann einen Beruf erlernt und ihr eigenes Geld verdient."
Falsch gelebte Händigkeit kann ernsthafte Probleme nach sich ziehen, so etwa Konzentrations- und Schlafstörungen, Depressionen und Angstattacken. Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil der Linkshänder in der Gesellschaft bei zehn bis 15 Prozent liegt.

Wie hoch ist die Linkshänderquote?

Marina Neumann glaubt, dass deren Zahl weitaus höher liegt. Denn viele Menschen wüssten nicht, dass sie Linkshänder sind. So ging es auch Rita Maier.
"55 Jahre lang war ich 100 Prozent davon überzeugt, dass ich Rechtshänderin bin. Ich habe aber gewisse Probleme gehabt, diese Konzentrationsstörungen, aber das Krasseste war, dass damals die Erschöpfungszustände angefangen haben“, erzählt sie.

Das war stellenweise so stark, dass ich mich in der großen Pause auf den Boden hätte legen können und schlafen: so eine wahnsinnige Erschöpfung! Und diese Erschöpfung hat sich durch mein Leben gezogen. Es gab kaum einen Nachmittag, an dem ich nicht schlafen musste.

Rita Maier

Rita Maier stieß auf das Buch von Marina Neumann "Natürlich mit links", in dem die Psychologin ihre Erfahrungen mit der Rückschulung von Linkshändern in ihrer Praxis niedergeschrieben hatte.
"Auf einmal dachte ich, das gibt es doch nicht, das könnte alles was damit zu tun haben, dass ich überhaupt nicht Rechtshänderin bin, sondern Linkshänderin. Dann bin ich zu Marina Neumann zur Linkshänderberatung gegangen. Für sie war es ziemlich eindeutig", erinnert sich Rita Maier.
Die Psychologin Marina Neumann hat einen Händigkeitstest und ein Rückschulungsprogramm für Linkshänder entwickelt, die mit rechts schreiben gelernt haben.
"Man kann das nicht nur so nebenbei im Alltag machen. Man fängt schon noch mal bei null an. Am besten sind immer Ferien, also Schulferien für Kinder und Urlaub für Erwachsene. Da kann man in aller Ruhe jeden Tag ein bisschen üben.“, erklärt sie.

"Ich dachte, ich kriege das locker hin“

"Ich dachte, ich kriege das ja locker hin, in einem halben Jahr schreib ich mit links, alles wunderbar. Das hat aber nicht geklappt, weil die linke Hand war ja in der Feinmotorik überhaupt nicht geschult“, erzählt Rita Maier.
„Dann hatte ich Marina angerufen und gesagt: Marina, ich schaff das nicht, meine Patienten denken, ich hätte Parkinson, weil meine Schrift so zittrig ist. Dann hat sie gesagt gehabt: Was ist denn sonst in deinem Leben bis jetzt passiert durch die Rückschulung?"
Rita Maier bemerkte, dass sie keinen Mittagsschlaf mehr brauchte, dass ihr die Arbeit als Heilpraktikerin müheloser von der Hand ging, dass ihre Stimme klangvoller wurde. "Und sie sagte dann: Genau das ist es, worum es geht. Es geht nicht darum, dass du schnell und schön schreibst, wichtig ist, was passiert auf einer anderen Ebene mit dir."
Viele Linkshänder, so Psychologin Marina Neumann, empfinden den Moment, wenn sie in ihre Linkshändigkeit zurückgehen Befreiung.
Nahaufnahme einer nicht erkennbaren Frau, die mit der linken Hand in ein Notizbuch schreibt.
Viele rückgeschulte Linkshänder entdecken wortwörtlich ihre kreative Seite.© Getty Images / Grace Cary
"Wenn man die linke Hand wieder in Betrieb nimmt, öffnet sich gleichzeitig die rechte Gehirnhälfte. Die sind ja miteinander verbunden. Und so wird ein ganz wichtiger Teil der eigenen Persönlichkeit ins Leben zurückgeholt, der vorher abgeschnitten war", sagt sie.

Überraschende Erkenntnis mit 30

"Schon beim ersten Wort: Schreiben war so, als ob innerlich zwei Hälften zusammengingen", sagt Oliver Gössel. Der Sänger und Musiklehrer kam mit 30 dahinter, dass er eigentlich Linkshänder ist. Plötzlich hätten viele Episoden aus seinem Leben einen Sinn ergeben.
"Zum Beispiel war ich immer so ein latenter Legastheniker. Woran ich mich auch noch erinnern kann, ist: Als Kind, bis ich in die Schule kam, konnte ich wunderbar Texte formulieren. Ich habe Geschäftsbriefe für meine Mutter formuliert. Dann kam ich in die Schule und dann schloss sich dieses Fenster. Mit der Rückschulung merke ich, dass dieses Spiel mit der Sprache, dass das wieder zurückkommt."
Viele rückgeschulte Linkshänder entdecken wortwörtlich ihre kreative Seite. Rita Maier hat inzwischen ein Kinderbuch über ein linkshändiges Mädchen verfasst und ein Lied komponiert.
"Auf einmal hatte ich ein Lied im Kopf, dieses Lied vom starken Händchen“, erzählt sie. „Dass ich auf einmal ein Buch schreiben kann und dass ich ein Lied schreiben kann, so etwas konnte ich früher nicht."
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