Linke Waschbären oder: Die ungebrochenen Chancen von Ideologie
Warum gründen ein zurückgetretener Bundesfinanzminister und ein gescheiterter Wirtschaftssenator, die bewiesen haben, dass sie zum Regieren nicht taugen, eine Partei, die sich zum Anwalt der Verlierer unserer Gesellschaft macht? Man könnte einen Treppenwitz dahinter vermuten. Aber da man aus dem Osten kommt, lacht man nicht darüber, sondern winkt ab.
Als ich im Frühsommer das angebliche Gehirn Gregor Gysis auf der Titelseite der größten deutschen Zeitung abgebildet sah, dachte ich instinktiv: Jetzt ist er durchgedreht! Nicht, dass die Abbildung, soweit ich dies als Laie beurteilen konnte, einen organischen Mangel offenbart hätte. Es war ernüchternd, das Hirn eines Mannes zu sehen, welcher der Ansicht zu sein schien, es bedürfe der Ansicht seines Hirns, um als verlässliches Zugpferd der Bewegung voran galoppieren zu dürfen. Das Hirn war eine Viertelseite groß. Man konnte die Windungen sehen. Ehrlich gesagt, hätte ich ihm einige mehr zugetraut. Doch, wie gesagt, ich bin Laie.
Aber was wird sein Kampfgefährte Oskar Lafontaine gedacht haben, als er, vielleicht ebenso zufällig und plötzlich wie ich beim Zigarettenkaufen, mit dem Bild konfrontiert wurde? Schlagzeile: Gysi zeigt sein Gehirn. Hat er es unpersönlich genommen, kam ihm vielleicht der Gedanke an die alte kommunistische Sitte, im Kampf gegen den Klassenfeind jedes Mittel zuzulassen? Außerdem haben die Organe im Leben seines Kampfgefährten ja schon immer eine große Rolle gespielt.
Hat er es persönlich genommen, wird er sich gefragt haben, ob der ihm damit sagen wollte, dass auch er nun ein Bild von seinen Innereien veröffentlichen müsse, als Beweis, dass sein Herz links schlägt. Eventuell hat er sich aber auch ins Fäustchen gelacht, weil er wusste, dass sein Gehirn gewundener ist, ein stichhaltiger Grund, weshalb nicht Gysi, sondern er den Anspruch auf Listenplatz 1 geltend machen konnte.
Eigentlich ist das Ansinnen der Namenswäscherin, wie die neue Partei manchmal vom Volksmund genannt wird, zutiefst menschenfreundlich:
Für eine gerechte Welt!
Dorthin wollten wir schon lange.
Aber jetzt, es lebe die Utopie, endlich, voran!
Es hat zweier Waschbären bedurft. Nun, hier sind sie, gestählt an politischen Kampferfahrungen, gesund, wie man sehen kann - auch wenn sich im Nachhinein herausstellen würde, dass Gysis Hirn eine Ente der größten Zeitung gewesen ist. Gewiss ist allerdings, dass, beispielsweise, Milliarden chinesische Hände auf steigende Lohnnebenkosten in Deutschland warten. Wie heißt es so schön? Das Kapital hat das Gedächtnis eines Elefanten, das Herz eines Hasen und die Beine einer Gazelle. Gegen die Sensibilität des Kapitals war Karl Marx eine Dampframme.
Spätestens seit der Berliner Leninplatz "Platz der Vereinten Nationen" heißt, ist das Primat von der Ideologie zur Globalisierung gewandert. Dass man sich heutzutage mit Ideologie allerdings noch ein Stück vom Kuchen sichern kann, zeigt, wie gläubig, fast altmodisch gläubig es in einer aufgeklärten Gesellschaft mitunter zugeht. Als wolle man nicht wahrhaben, dass Utopie Undurchführbares bedeutet, während gerecht, eines der schönsten Worte des Sozialengagements, im konkreten Sinne gerade, richtig, passend heißt. Streicht man die Kommata weg: gerade richtig passend.
Wenn man aus dem Osten kommt, wie ich, muss man sich schon bemühen, die Angelegenheit ernst zu nehmen. Warum gründen ein zurückgetretener Bundesfinanzminister und ein gescheiterter Wirtschaftssenator, die handgreiflich bewiesen haben, dass sie zum Regieren nicht taugen, eine Partei, die sich zum Anwalt der Verlierer unserer Gesellschaft macht? Man könnte einen Treppenwitz dahinter vermuten. Aber da man aus dem Osten kommt, lacht man nicht darüber, sondern winkt ab.
In seinem Buch "Die Gesellschaft der Zukunft" schreibt Oskar Lafontaine auf Seite 19 über das Volk in der, sinngemäß, bürokratischen Demokratie: "Wie aber soll jemand noch verantwortlich handeln können, wenn er seine Verantwortung delegiert hat? In einem diskursiven Lernprozess müsste der einzelne die Fähigkeit erwerben, die abgegebene Verantwortung wieder zu übernehmen."
Ist es das, was ihn so umtreibt? Will er die abgegebene Verantwortung wieder übernehmen? Hat er mit dieser Textstelle, dunkel ahnend, sein eigenes Schicksal vorgezeichnet? Befindet er sich gerade in einem diskursiven Lernprozess mit seinem neuen Kampfgefährten, einem, dem die zwangsweise abgegebene Verantwortung auch keine Ruhe lässt? Beide können wohl nicht anders: Irgendwie müssen sie ihre Köpfe immer wieder aus der Masse herausstrecken. Und sei es als Ente ohne Schädeldecke.
Stephan Krawczyk, 1955 in Weida/Thüringen geboren, nach dem Abitur Studium der Konzertgitarre an der Franz-Liszt-Musikhochschule Weimar, dann freiberuflicher Liedermacher, Komposition von Bühnenmusiken. Konzertauftritte und 1981 Hauptpreisträger des Nationalen Chansonwettbewerbs der DDR. 1984 Umzug nach Berlin, erste schriftstellerische Arbeiten, Schauspieler und Komponist von Theatermusik. Berufsverbot bis 1988, vielbeachtete Auftritte in Kirchen (auch gemeinsam mit Freya Klier), ständig wachsende Repressalien durch den Staatssicherheitsdienst, schließlich Verhaftung, Inhaftierung und Abschiebung in den Westen. Seit 1988 Konzerttourneen in Deutschland und im Ausland. Seit 1995 Intensivierung der Arbeit als Schriftsteller. Zuletzt erschienen "Faustchen", Schauspiel (2000); "Feurio", Betrachtungen (2003); "Der Narr", Roman (2003). Letzte CD's: "Die Queen ist in der Stadt" (2001), "Kontrast Programm" und "Der Narr" (2003).
Aber was wird sein Kampfgefährte Oskar Lafontaine gedacht haben, als er, vielleicht ebenso zufällig und plötzlich wie ich beim Zigarettenkaufen, mit dem Bild konfrontiert wurde? Schlagzeile: Gysi zeigt sein Gehirn. Hat er es unpersönlich genommen, kam ihm vielleicht der Gedanke an die alte kommunistische Sitte, im Kampf gegen den Klassenfeind jedes Mittel zuzulassen? Außerdem haben die Organe im Leben seines Kampfgefährten ja schon immer eine große Rolle gespielt.
Hat er es persönlich genommen, wird er sich gefragt haben, ob der ihm damit sagen wollte, dass auch er nun ein Bild von seinen Innereien veröffentlichen müsse, als Beweis, dass sein Herz links schlägt. Eventuell hat er sich aber auch ins Fäustchen gelacht, weil er wusste, dass sein Gehirn gewundener ist, ein stichhaltiger Grund, weshalb nicht Gysi, sondern er den Anspruch auf Listenplatz 1 geltend machen konnte.
Eigentlich ist das Ansinnen der Namenswäscherin, wie die neue Partei manchmal vom Volksmund genannt wird, zutiefst menschenfreundlich:
Für eine gerechte Welt!
Dorthin wollten wir schon lange.
Aber jetzt, es lebe die Utopie, endlich, voran!
Es hat zweier Waschbären bedurft. Nun, hier sind sie, gestählt an politischen Kampferfahrungen, gesund, wie man sehen kann - auch wenn sich im Nachhinein herausstellen würde, dass Gysis Hirn eine Ente der größten Zeitung gewesen ist. Gewiss ist allerdings, dass, beispielsweise, Milliarden chinesische Hände auf steigende Lohnnebenkosten in Deutschland warten. Wie heißt es so schön? Das Kapital hat das Gedächtnis eines Elefanten, das Herz eines Hasen und die Beine einer Gazelle. Gegen die Sensibilität des Kapitals war Karl Marx eine Dampframme.
Spätestens seit der Berliner Leninplatz "Platz der Vereinten Nationen" heißt, ist das Primat von der Ideologie zur Globalisierung gewandert. Dass man sich heutzutage mit Ideologie allerdings noch ein Stück vom Kuchen sichern kann, zeigt, wie gläubig, fast altmodisch gläubig es in einer aufgeklärten Gesellschaft mitunter zugeht. Als wolle man nicht wahrhaben, dass Utopie Undurchführbares bedeutet, während gerecht, eines der schönsten Worte des Sozialengagements, im konkreten Sinne gerade, richtig, passend heißt. Streicht man die Kommata weg: gerade richtig passend.
Wenn man aus dem Osten kommt, wie ich, muss man sich schon bemühen, die Angelegenheit ernst zu nehmen. Warum gründen ein zurückgetretener Bundesfinanzminister und ein gescheiterter Wirtschaftssenator, die handgreiflich bewiesen haben, dass sie zum Regieren nicht taugen, eine Partei, die sich zum Anwalt der Verlierer unserer Gesellschaft macht? Man könnte einen Treppenwitz dahinter vermuten. Aber da man aus dem Osten kommt, lacht man nicht darüber, sondern winkt ab.
In seinem Buch "Die Gesellschaft der Zukunft" schreibt Oskar Lafontaine auf Seite 19 über das Volk in der, sinngemäß, bürokratischen Demokratie: "Wie aber soll jemand noch verantwortlich handeln können, wenn er seine Verantwortung delegiert hat? In einem diskursiven Lernprozess müsste der einzelne die Fähigkeit erwerben, die abgegebene Verantwortung wieder zu übernehmen."
Ist es das, was ihn so umtreibt? Will er die abgegebene Verantwortung wieder übernehmen? Hat er mit dieser Textstelle, dunkel ahnend, sein eigenes Schicksal vorgezeichnet? Befindet er sich gerade in einem diskursiven Lernprozess mit seinem neuen Kampfgefährten, einem, dem die zwangsweise abgegebene Verantwortung auch keine Ruhe lässt? Beide können wohl nicht anders: Irgendwie müssen sie ihre Köpfe immer wieder aus der Masse herausstrecken. Und sei es als Ente ohne Schädeldecke.
Stephan Krawczyk, 1955 in Weida/Thüringen geboren, nach dem Abitur Studium der Konzertgitarre an der Franz-Liszt-Musikhochschule Weimar, dann freiberuflicher Liedermacher, Komposition von Bühnenmusiken. Konzertauftritte und 1981 Hauptpreisträger des Nationalen Chansonwettbewerbs der DDR. 1984 Umzug nach Berlin, erste schriftstellerische Arbeiten, Schauspieler und Komponist von Theatermusik. Berufsverbot bis 1988, vielbeachtete Auftritte in Kirchen (auch gemeinsam mit Freya Klier), ständig wachsende Repressalien durch den Staatssicherheitsdienst, schließlich Verhaftung, Inhaftierung und Abschiebung in den Westen. Seit 1988 Konzerttourneen in Deutschland und im Ausland. Seit 1995 Intensivierung der Arbeit als Schriftsteller. Zuletzt erschienen "Faustchen", Schauspiel (2000); "Feurio", Betrachtungen (2003); "Der Narr", Roman (2003). Letzte CD's: "Die Queen ist in der Stadt" (2001), "Kontrast Programm" und "Der Narr" (2003).