Linke mussten klüger sein

Von Michael Rutschky |
Wer sich Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als junger Mensch der damals frisch entstehenden Neuen Linken anschloss – beispielsweise in den legendären Sozialistischen Deutschen Studentenbund, kurz SDS, eintrat – lernte als deren ebenso arrogante wie bezwingende Parole: Linke müssen klüger sein als alle anderen. Das sollte sie auszeichnen vor 40 Jahren, ein in jedem Fall überlegenes Wissen.
Und wie schaut das heute aus? Das Wissen, die Wissenschaft, sie sind es nicht, wodurch sich die Linke von heute, die Linkspartei so wenig wie die frei schweifenden Intellektuellen und Künstler definieren; nur in überlebenden Kadern der DDR-Intelligentsia finden sich manchmal noch Reste dieses Glaubens: Marx wollte doch den Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft entwickelt haben.

Heute definiert sich die Linke eher auf amerikanisch: durch die Werte, die sie propagiert. Insbesondere die Werte der Gerechtigkeit und der Gleichheit, die ein wohlwollender und wohltätiger Staat in einer Gesellschaft durchzusetzen habe, die nach dem notorischen Wolfsgesetz lebe, der Kampf aller gegen alle.

Aber solche großformatigen Einschätzungen stellen wahrscheinlich gar nicht die Hauptsache dar. Vielleicht geht es viel stärker um Loyalitäten, zu denen mehr-minder deutlich verpflichtet ist, wer sich aufgrund seiner Lebensgeschichte und seiner Gewohnheiten zur Community der Linken rechnet. Der soziale Anteil an unseren Gedanken und Überzeugungen, an unseren Orthodoxien wird leicht unterschätzt. Statt blank zuzugeben, dass der Sozialismus keine Wissenschaft geworden ist, beginnt man lieber akrobatisch mit den Gedanken herumzuturnen, im Grunde habe Marx doch Recht behalten, wie auch heute noch viele Ökonomen sagen – und so weiter.

Was ich da zu bieten hätte: dass zwar nicht der Sozialismus, wohl aber die Wissenschaft unglaublich erfolgreich war, schaut man auf 1960 zurück. In dieser Hinsicht bewährte sich die Neue Linke von damals als Avantgarde: Heute traut sich keine Idee auf die Bühne, ohne dass Wissenschaft sie begleitet, ob es nun um die Kindererziehung oder den Klimawandel oder die Kriminalität geht. Ehrwürdige Ideen der Rechten, des Konservativismus, die 1960 einflussreich waren: dass es in allen Fragen großer Entscheidungen bedarf, die von großen Geistern intuitiv getroffen werden, während Diskussionen sie bloß zerreden und zerpflücken, solche gleichsam altrechten Gedanken sind völlig aus der Mode.

Und hier entdeckt man gleich noch einen zweiten avantgardistischen Gedanken von 1960 als einen der heute herrschenden: dass Debatten, dass öffentliche Diskussionen das wesentliche Medium aller Entscheidungen bilden müssen, seien die Entscheidungen nun persönlich oder politisch. Auch hier spülte der Gang der Dinge altkonservatives Gedankengut einfach fort: dass Personen von Autorität respektive ehrwürdig-unantastbare Institutionen die Begründung liefern; dass eingelebte Traditionen am besten funktionieren, wenn undiskutierbar bleibt, was sie vorschreiben.

Noch der stockkonservative Kardinal muss in die Talkshow, um darzulegen, welche Rollen Gott unwiderruflich Männern und Frauen zugeteilt hat. Ein späteres Jahrhundert wird den Gründungsvater der Bundesrepublik, was ihre Leidenschaft für die immerwährende Talkshow zu sämtlichen erreichbaren Themen angeht, in Jürgen Habermas erkennen, der um 1960 eben diese Idee zu entwickeln begann: dass Öffentlichkeit das zentrale Medium der modernen Gesellschaft sei – Jürgen Habermas liquidierte damit stillschweigend ein ruhmloses Kapitel aus der Geschichte der Linken: dass die kommunistische Partei, wie Lenin sie erfunden hat, als Motor den politischen Prozess vorantreibe. Wenn heute das Unterschichtenfernsehen in seinen Talkshows Schmuddel- und Schweinkram verhandelt, kann sich die bürgerliche Öffentlichkeit nur durch Ignorieren wehren; im Prinzip kann man kein Thema vor dem „Ausdiskutieren“ (ein Modewort der sechziger Jahre) bewahren.

Schließlich hat die Neue Linke von 1960, die klüger sein wollte als alle anderen, das heißt wissenschaftlich aufgeklärt und zu jeder öffentlichen Diskussion bereit – schließlich hat diese Avantgarde im Lauf der Zeit noch eine dritte ihrer Komponenten auf die Allgemeinheit übertragen: einen antikommunistischen Antikapitalismus. Schon um 1960 wussten die avancierten Kader, dass der Realsozialismus ohne Perspektive sei – aber zugleich konnte man den Kapitalismus trotz seiner ökonomischen Erfolge unmöglich in toto loben und preisen. Die Kollateralschäden (kein Modewort von 1960) sind einfach zu hoch.

Und so, nicht wahr, denkt heute jede Talkshow. Der Kapitalismus bleibt gefährlich, was sogar seine Funktionäre jederzeit zugeben. Bloß weiß niemand, wie man stattdessen wirtschaften sollte. Die Linke von heute am allerwenigsten.


Michael Rutschky, geboren 1943 in Berlin, ist Schriftsteller und freier Publizist. Er arbeitet für Presse und Rundfunk. Buchveröffentlichungen u. a. „Die Meinungsfreude“, „Unterwegs im Beitrittsgebiet“, „Mit Dr. Siebert in Amerika“ und „Berlin – die Stadt als Roman“.