Lilienthal verlässt Münchner Kammerspiele

Der Mann, der für Aufregung sorgte

05:39 Minuten
Matthias Lilienthal steht im Malsaal der Münchner Kammerspiele.
Kurz vor Corona vermeldete Matthias Lilienthal stolz eine Auslastung von 85 Prozent, doch gerade anfangs erntete er heftige Kritik. © picture alliance / dpa / Peter Kneffel
Von Tobias Krone · 11.07.2020
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Time to say Goodbye: Als Intendant der Münchner Kammerspiele hat Matthias Lilienthal zahlreiche Debatten und heftige Kritik ausgelöst. Unser Kollege Tobias Krone fasst die Zeit zusammen – und findet: Vieles war ein Missverständnis.
Er kam nicht, um geliebt zu werden. Das ließ Matthias Lilienthal München gleich zu Beginn wissen. Anstatt die Bewohnerschaft zu umarmen, die im Sommer 2015 gerade erst Geflüchtete am Hauptbahnhof mit Plüschteddybären überhäuft hatte und sich als besonders weltoffen feierte, lud er als Intendant der Münchner Kammerspiele ein in Shabby Apartments – provisorische Bauten in der abstoßend teuren Innenstadt – um die Nacht neben Obdachlosen zu verbringen.
"Es macht uns Spaß, Menschen eine Erfahrung zu vermitteln, wo sie ihre eigene Stadt als fremd erleben", sagt Lililenthal.
Gut und schön. Aber musste Lilienthal diese Fremdheit auch dem treuen Theaterpublikum zumuten?
"Theater ist ein Ort der Kraft, der Poesie, der Ästhetik – wo ist dieses Theater?" – Der Ausruf einer hörbar existenziell angefassten Kammerspiele-Zuschauerin. Er hilft, um das Verhältnis einer Stadt zu ihrem Theater-Intendanten zu verstehen. Lilienthal und München - das war ein fünf Jahre lang andauerndes Missverständnis.

Feuerwerk der Kritik

Der Intendant, verlässlich unrasiert, die Hose ostentativ auf halb acht, sitzt an einem Abend im November 2016 auf dem Podium zum Thema "Welches Theater braucht München?" – und setzt sich einem Feuerwerk an Kritik aus.
Sachlich formuliert sie Christine Dössel, die Theaterkritikerin der "Süddeutschen Zeitung", die mit auf dem Podium sitzt. Lilienthals Plan, freie Gruppen wie She She Pop, Gob Squad oder Rimini Protokoll in das Ensemble zu integrieren, sei gescheitert: "All diese Gruppen haben hier in München ihre schlechtesten Arbeiten abgeliefert. Da kann man ja mal fragen, woran liegt denn das? Und da kommt eine gewisse – was man glaube ich auch leisten muss als Intendant und als Team eines Theaters – so eine Sorgfalt, die hier auch fehlt. Und da kommt sogar dann für mich dieses altmodische Wort Fürsorge mit rein."
Teilweise stimmte das: So etwas wie eine intellektuelle Linie oder gar ein verbindender, einladender Geist ist in den ersten Monaten Kammerspiele unter Lilienthal nicht zu spüren. Doch was an diesem Abend hochkocht, ist vor allem die Kritik an der Form des Theaters: "Es wird sich einer abperformt, dass man wirklich ohnmächtig wird." – "Auch die jungen Menschen, die sind doch ständig in einer Dauerperformance – von Twitter über die Sozialen Medien. Man braucht doch dann nicht schon wieder den Ich-Performer, der erzählt: Ich und mein Ferienerlebnis, ich und meine Eltern, ich und mein Schwanz."

Ressentiments als Folge eines Missverständnisses

Es gehe hier weniger um "Schauspielkunst" im klassischen Sinne, als vielmehr um das Performen der eigenen Identität, schreibt Christine Dössel in der "SZ". "Am besten mit einem interessanten Migrationshintergrund und Idiom. Da macht es auch nichts, wenn einer lispelt."
Möglicherweise lag in diesem Ressentiment das erste große Missverständnis. Weil da einige Darstellerinnen und Darsteller plötzlich mit australischer, syrischer oder jugoslawischer Herkunft selbstbewusst ihre Akzente auf die Bühne brachten, verkannte das konventionelle Theaterpublikum einfach, dass diese sehr wohl Schauspielkunst betrieben.
"Ich fand gerade am Anfang, die Aggression, die uns da entgegengeschlagen ist – und war manchmal überrascht über die eine oder andere Reaktion aus dem Zuschauerraum, wo ich gedacht habe, das hätte ich vor drei Jahren nicht für möglich gehalten", sagt Annette Paulmann. Sie spielt im Ensemble seit drei Intendanzen.
Sie ist eine feste Größe an den Kammerspielen und wunderte sich. Die Internationalisierung habe schließlich schon unter Lilienthals gefeiertem Vorgänger, dem Niederländer Johan Simons, begonnen: "Auch Johan Simmons hat die Zuschauer ja in einem hohen Maße herausgefordert. Es gab aber immer noch, sag ich mal, für den etwas konventionelleren Geschmack auch Regisseure und Inszenierungen, die das bedient haben. Und die sind zumindest in der ersten Spielzeit bei Matthias komplett weggefallen."

Kein neuer Vertrag aus Sorge um das konventionelle Theater?

Das Theater für den konventionellen Geschmack – oder mit den emphatischen Worten des konservativen Stadtrats Richard Quaas: "Es war eines der bedeutendsten deutschen Sprechtheater."
Aus Sorge um Sprechtheater und die Zuschauer-Auslastung verlängerte die mitregierende CSU Lilienthals Vertrag nicht. Unverständnis bei Regisseur Nicolas Stemann. "Und dann steht auf einmal ein Theater, das ein bisschen mit Bildender Kunst und mit Formen experimentiert - das wird dann wieder als gefährlich angesehen. Und dann einigen sich wieder alle auf das gute alte Sprechtheater, nur weil ein Schauspieler auf der Bühne steht."
Es ging ab dann interessanterweise steil aufwärts: Die Zeitschrift "Theater heute" wählte die Kammerspiele zum Theater des Jahres 2019. Inszenierungen wie Christopher Rüpings Zehn-Stunden-Epos "Dionysos Stadt" oder auch Rimini Protokolls "Uncanny Valley", ein Monolog, bei dem allein ein lebensechter Roboter in Gestalt des Autors Thomas Melle auf der Bühne performte, begeistern das Publikum.
Kurz vor Corona vermeldete Lilienthal stolz eine Auslastung von 85 Prozent. Seine Münchner Mission habe er damit erfüllt. "Das Publikum ist jetzt einfach viel jünger – es ist ein Publikum inzwischen, das einfach in das Theater geht, um eine sinnlich verstörende Erfahrung zu machen."
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