Lieblingsspielzeug der Surrealisten

Von Kathrin Hondl · 21.09.2009
Mit über 400 Bildern gibt das Centre Pompidou in der Ausstellung "Die Subversion der Bilder" einen Überblick über die surrealistische Fotoproduktion. Die Surrealisten der ersten Generation experimentierten viel mit der Fotografie, da sie ihrem Ideal einer automatischen Kunst nahekam.
Was ist surrealistische Fotografie? Wer mit dieser Frage in die Pariser Ausstellung geht, bekommt viele Antworten - oder keine. Clément Chéroux, einer der Kuratoren:

"Uns geht es nicht darum zu erklären, was DIE surrealistische Fotografie oder das Spezifische der surrealistischen Fotografie ist. Wir wollen zeigen, wie unterschiedlich die Surrealisten die Fotografie genutzt haben. Da gibt es eine große Vielfalt. Dahinter aber existiert so etwas wie ein roter Faden - die Subversion."

"Durch die Macht der Bilder könnten wahre Revolutionen vollbracht werden", schrieb der surrealistische Chefdenker André Breton und forderte zum Beispiel: "Schule deine Augen, indem du sie zumachst." Unzählige Fotos - oft aus dem Passbildautomaten - zeigen die Heroen der surrealistischen Bewegung mit geschlossenen Augen. Überhaupt diente ihnen die Fotografie für die Inszenierung und Dokumentation des surrealistischen Alltags: Ein Gruppenfoto, gemacht von Man Ray in der "surrealistischen Zentrale", schmückte 1924 die Titelseite der programmatischen Zeitschrift "La révolution surréaliste".

"Die Surrealisten sind die erste Avantgarde, die sich so leidenschaftlich für die Fotografie und den Film begeistert. Und ich glaube, die Faszination kam daher, dass die Fotografie im Gegensatz zur Malerei oder Bildhauerei Bilder produziert, die direkt mit der Realität zu tun haben. Das sind keine von der Hand eines Künstlers produzierten Bilder, sondern Bilder die sich quasi selbst produzierten - und diese Idee einer Produktion aus sich selbst heraus, eines Automatismus war für die Surrealisten sehr wichtig."

Fotografie war also etwas, das ähnlich funktionierte wie die von den Surrealisten propagierte und praktizierte écriture automatique - das sogenannte automatische Schreiben. In André Bretons Roman " Nadja " zum Beispiel haben Fotos auch die Funktion, den Text zu ergänzen - nicht um das Geschriebene zu illustrieren, sondern um beschreibende Prosa zu ersetzen.

Doch die Faszination für den Automatismus des unmittelbaren Abbildens ist nur ein Aspekt der surrealistischen Fotoproduktion. "Subversion der Bilder", das bedeutet auch: ein subversiver Umgang mit den technischen Möglichkeiten der Fotografie.

So entwickelte zum Beispiel Man Ray seine Technik der Solarisation: Durch Überbelichtung oder auch einfach nur Lichtanknipsen in der Dunkelkammer erreicht Man Ray ähnliche Effekte wie Salvador Dalí mit der Malerei: Formen zerfließen, Gegenstände, Körper verflüssigen sich.

Fotografie, das macht die reich bestückte Ausstellung im Centre Pompidou deutlich, Fotografie war ein Lieblingsspielzeug der Surrealisten. Ideal auch für das kollektive Kunstspiel "Cadavres exquis":

"Einer klebte ein Foto auf, dann wurde es umgeknickt, dass nur noch ein Stückchen zu sehen war, der nächste klebte ein anderes Foto dazu und so weiter und so fort - im Sinne der berühmten surrealistischen Schönheits-Metapher des Dichters Lautréamont: 'schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch'. Man nimmt also zwei Dinge, die erstmal nichts miteinander zu tun haben, bringt sie zusammen und wartet ab, was für einen Funken, was für einen Kurzschluss das produziert."

Und die Funken sprühen nur so in dieser Ausstellung, die mit 400 Bildern ein ziemlich umfassendes Gesamtbild der surrealistischen Foto- und Filmproduktion bietet. Einzige Beschränkung: Man konzentriert sich im Centre Pompidou auf die erste Generation der Surrealisten, auf den historischen, den heroischen Surrealismus der 20er- und 30er-Jahre. Und der hat sein subversives Potenzial bis heute nicht verloren.

Viele Bilder dieser Ausstellung erinnern frappierend an Bilder heutiger Künstler: Eine Collage von Paul Eluard und André Breton zeigt ein Paar auf einem Sofa - dahinter ein brennendes Haus in schwarzer Nacht. Eine Szene wie aus einem Film von David Lynch. Oder wenn auf einem Foto von Dora Maar der Kopf eines Mannes in einem Gullydeckel verschwindet - dann erinnert uns das an die skurrilen One-Minute-Sculptures des österreichischen Künstlers Erwin Wurm.

Auch wenn Dora Maar und Erwin Wurm vermutlich ebenso viel oder wenig miteinander zu tun haben wie eine Nähmaschine und ein Regenschirm auf einem Seziertisch.

Info:
Die Ausstellung "Die Subversion der Bilder" ist zu sehen ab 23.09. und bis 11. Januar 2010 im Centre Pompidou in Paris und wandert dann nächstes Frühjahr erst ins Fotomuseum Winterthur (26.02.10 - 23.5.10) und dann nach Madrid ins Institute de cultura/ Fundación Mapfre (16.6. - 12.09.10).