Simon Grant: Ref/verenz. Zeitgenössische Wahlverwandtschaften
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
Piet Meyer Verlag, Bern 2013
208 Seiten, 28,40 Euro
Prägende Seherlebnisse
Statements von Künstlern zu ihren Lieblingswerken hat der Journalist Simon Grant in seiner reich bebilderten Anthologie zusammengetragen. Sie zeigt wahre Passionen und bietet herrliche Ausflüge in die Kunstgeschichte.
Dass Hiroshi Sugimoto für Petrus Christus schwärmt, war nicht unbedingt zu erwarten. Doch der japanische Meister der seriellen Schwarz-Weiß-Fotografie wählte den flämischen Porträtmaler zum Wahlverwandten. Tatsächlich hatte ihn "Das Bildnis einer jungen Dame" (um 1470) beziehungsweise "ihr ungerührter Blick (...) über fünf Jahrhunderte hinweg" getroffen, erklärt der Fotokünstler und bekennt, dass Christus’ Liebe zum Detail auch seine eigene Arbeit prägt.
Sugimoto ist einer von über 70 zeitgenössischen Künstlern und Künstlerinnen, die Simon Grant zu einem Statement über ihr Lieblingswerk gebeten hat. Nicht, um einen neuen Kanon aufzustellen und auch nicht, um eine weitere Auflistung à la „Die 100 wichtigsten Werke“ zusammenzutragen. Der englische Schriftsteller und Kunstkritiker war einfach neugierig auf Prägungen, Vorlieben oder gar Lieben bekannter Maler, Fotografen, Bildhauer und Videokünstler wie etwa John Baldessari, Daniel Buren, Katharina Fritsch, Jeff Wall oder Yang Fudong, um nur einige wenige zu nennen.
Deren Hommagen könnten unterschiedlicher kaum sein. Sie gelten sowohl Künstlern aus fernen Zeiten wie aus der nahen Vergangenheit oder gar Gegenwart, sie sind bekannten und unbekannten Artisten gewidmet, sie erzählen von Seherlebnissen, die bereits in der Kindheit stattgefunden haben oder erst im Erwachsenalter, sie sind zum Teil naheliegend, zum Teil nicht.
Der „coole“ Ed Ruscha schätzt den romantischen Präraffaeliten Millais
So überraschen beispielsweise die englische Bildhauerin Rachel Whiteread oder der Amerikaner Ed Ruscha mit ihrer Wahl. Während Whiteread den Renaissance-Maler Piero della Francesca wegen seiner herausragenden plastischen und architektonischen Qualitäten bewundert, sieht der "coole" Ostküstenkünstler Ruscha seine Kunst gar durch einen "kleinen Silberfaden" mit der Ophelia des eher romantischen Präraffaeliten Millais verbunden.
Andere Einflüsse scheinen offensichtlicher. Etwa die des mit Licht zaubernden Malers Jan Vermeer auf den Fotografen Chuck Close oder die des sozialkritischen William Hogarth auf seinen Landsmann Jeremy Deller, der den vor 250 Jahren Verstorbenen sogar "einen zeitgenössischen Künstler" nennt.
Berührend sind Hingabe und Leidenschaft, die sich aus sämtlichen Statements herauslesen lassen. Zum Teil treten gar wahre Passionen und intimste Beziehungen zutage. Etwa wenn Thomas Hirschhorn über ein Werk Andy Warhols schreibt, es habe sein Leben verändert, oder Jeppe Hein ein Bild Asger Jorns als "Teil seiner Welt" charakterisiert.
Tatsächlich bietet diese besondere Anthologie herrliche Ausflüge in die Kunstgeschichte. Sie erlaubt, Kunst mit den Augen von Künstlern zu sehen und lässt – selbst im vermeintlich Bekannten – Neues entdecken. Nicht nur im Werk der Porträtierten, sondern mindestens ebenso in dem der Porträtierenden.
Aus Simon Grants eigentlich "einfacher Idee" ist eine schier unerschöpfliche Fundgrube geworden. Darin zu Stöbern, macht Laune – zumal das Buch auffallend schön gestaltet und reich bebildert ist –, und bringt quasi nebenbei einen enormen Erkenntnisgewinn.