Liebhaber des Halbschattens

Rezensiert von Maike Albath · 20.09.2005
Der mexikanische Schriftsteller Sergio Pitol ist ein Liebhaber des Halbschattens. Auch in seinem neuen Erzählband "Mephistowalzer" kommt diese Neigung zum Ausdruck. Die Geschichten um die Liebe und ihre Geheimnisse zeigen Menschen in schicksalhaften Momenten.
Der mexikanische Schriftsteller Sergio Pitol ist ein Liebhaber des Halbschattens. In seinem neuen Erzählband "Mephistowalzer", der einen reizvollen Querschnitt durch sein Werk bietet, kommt diese Neigung auf verschiedenen Ebenen zum Ausdruck. Seine schillernden Handlungsorte - die eleganten Interieurs einer mexikanischen Kleinstadt, das Schlafwagenabteil eines Zuges, das usbekische Buchara oder das abgelegene Waldhäuschen eines Melancholikers in der Nähe von Warschau - sind stets in ein diffuses Licht getaucht.

Es sind labyrinthisch anmutende Gehäuse, in denen jederzeit eine Tür aufgehen kann, hinter der sich ein weiterer Gang verbirgt. Das passt zu Pitols Erzählweise: Er arbeitet mit blinden Flecken und Rätseln, schürt Geheimnisse und löst Fragen immer nur vordergründig auf. Träume und Phantasien haben eine ebenso große Macht über seine Figuren wie reale Geschehnisse.

Da gibt es zum Beispiel die beiden Mexikaner in Warschau, die einer liebeskranken italienischen Malerin namens Issa lauter Lügenmärchen auftischen. Die junge Frau stellt die Geduld der Freunde auf die Probe, weil sie fortwährend ihren Schmerz kultiviert, statt ihrem Liebhaber einfach den Laufpass zu geben. Als Issa eine Reise gen Osten plant, raten ihr die beiden, nicht in das berühmte Samarkand, sondern lieber nach Buchara zu fahren, weil dort schier unglaubliche Dinge passieren. Doch noch bevor wir Näheres über die unheimlichen Abenteuer erfahren, kommt eine zweite Handlungsebene ins Spiel.

Der Erzähler, einer der beiden Studenten, befindet sich Jahrzehnte später in Buchara. Schaudernd erinnert er sich an seine Phantastereien. Verwoben mit den Eindrücken bizarrer Hochzeitsrituale, die er in der Jetztzeit beobachtet, tauchen Reminiszenzen an die erfundene Geschichte von damals auf. Ein Freund war in Buchara, so hatten sie der Malerin erzählt, per Zufall im Haus einer alteingesessenen Familie gelandet. Dort wurde er inmitten von Großeltern, Eltern, Geschwistern und einem brokatgekleideten Mädchen mit einem opulenten Mahl versorgt, ohne zu begreifen, was man von ihm erwartete. Einige Stunden später erwachte er schwer verwundet in einem leeren Zimmer, schleppte sich auf die Straße und landete schließlich in einem Krankenhaus.

Nach seiner Genesung konnte er weder das Haus noch seine obskuren Gastgeber ausfindig machen. Die Malerin glaubte den beiden Studenten kein Wort. Aber wenige Monate kam den übermütigen Geschichtenerfindern zu Ohren, dass Issa mit eben solchen Wunden in einer Warschauer Klinik eingeliefert worden sei.

Die Titelgeschichte "Mephistowalzer" handelt von der Ehegattin eines Schriftstellers, die mit einem Schlafwagen von Veracruz nach Mexiko unterwegs ist und zu ihrem Ärger in einer Zeitschrift eine Erzählung ihres Mannes entdeckt. Das Paar befindet sich in einer schwierigen Phase: Einvernehmlich war eine einjährige räumliche Trennung beschlossen worden. Zum ersten Mal in ihrer Ehe sieht sich die Frau mit einer Arbeit ihres Mannes konfrontiert, die nicht durch ihre Hände gegangen ist. Zähneknirschend beginnt sie mit der Lektüre und muss entdecken, dass natürlich auch Teile ihres Lebens darin vorkommen. Meisterhaft entfaltet Sergio Pitol auf wenigen Seiten nicht nur die komplexe Dynamik des Ehelebens, sondern liefert durch den dramaturgischen Kniff mit der Magazingeschichte eine faszinierende Gegendarstellung. Missmutig paraphrasiert die erzürnte Gattin das Gelesene. Über ihre Zusammenfassung fühlt sich der Leser in die Seelenlage des Schriftstellers ein, was dazu führt, dass man nach und nach Partei für den abwesenden Mann ergreift und die Version der Ehefrau in Zweifel zieht.

Sergio Pitol besitzt eine große Fähigkeit, die man unter deutschsprachigen Schriftstellern manchmal vermisst: Er ist in der Lage, sich etwas auszudenken. Er vermag Figuren aus dem Hut zu zaubern und sie an einem unerträglich steifen Diplomatentisch in Prag zu platzieren oder am Tresen einer Warschauer Kaschemme. Besonders eindringlich führt er uns seine Arbeitsweise in der Geschichte "Der dunkle Zwillingsbruder" vor, die wie ein Essay beginnt. Gegenstand der Ausführungen ist zunächst die Art und Weise, wie ein Schriftsteller mit der Wirklichkeit umgeht. Alles, was ihn umgibt, ist zugleich sein Material. Pitol statuiert ein Exempel, denn seine Ausführungen werden illustriert von einer Erzählung, die nebenbei entsteht. Er berichtet, wie ein Schriftsteller bei einem Abendessen seiner Tischdame lauscht und sie gleichzeitig zu einer Figur einer Erzählung stilisiert. Im Verlauf seiner Arbeit an dieser Erzählung stellt er ihr immer mehr Personal zur Seite, stockt aber nach einer Weile. Statt dessen wird einer der Akteure zum Protagonisten eines Romans. "A novel is a writer's secret life, a dark twin of a man" erklärt Pitol mit Faulkner. Oder, um es mit Sergio Pitols eigenen Worten zu sagen: "Ein Schriftsteller ist jemand, der aus wirklichen Stimmen andere Stimmen heraushört."


Sergio Pitol: "Mephistowalzer". Erzählungen. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Klaus Wagenbach Verlag. Berlin 2005. 120 S., 13,90 Euro.