Liebeslied und Hassgesang zugleich
Es sind anrührende und bittere Anekdoten, die der Kolumbianer Fernando Vallejo in „Blaue Tage“ erzählt. Zum Fürchten kalt scheinen die Erinnerungen an seine Kindheit in Medellín. Hinter Vallejos Kälte aber verbirgt sich Verletzlichkeit und Enttäuschung über ein Land, in dem er die Gewaltexzesse des Bürgerkrieges miterleben musste.
Fernando Vallejo, geboren 1942 in Medellín, ist eine so eigenwillige wie verlässliche Größe des Literaturbetriebs. Eigenwillig: Weil der Kolumbianer in Weltsicht und Diktion ein Radikaler ist. Verlässlich: Weil seine Texte obsessiv um ein Thema kreisen – den Verfall seiner Heimatstadt Medellín.
Vor bald vierzig Jahren verließ er sie und lebt seitdem in Mexiko. Regelmäßig aber schickt er in seinen Büchern ein Alter Ego nach Medellín zurück. Auf Deutsch erschienen bislang „Die Madonna der Mörder“ und „Der Abgrund“. Nun bringt der Suhrkamp Verlag Vallejos Erinnerungen an seine Kinderzeit heraus: „Blaue Tage“.
Es sind anrührende und bittere Anekdoten, in denen der Autor davon berichtet, dass es unter seinen Vorfahren Landbesitzer gab mit der Naivität Don Quijotes. Dass sein Vater, ein liebenswert weltfremder Patron, Journalist und bedeutender politischer „Anführer“ gewesen ist, allerdings ohne Gier nach Macht.
Vallejo selbst trug als kleiner Junge den Spitznamen „Jesuskind“ und war ein zumeist unauffälliger Junge – der sich irgendwann aber in Frauenkleidern präsentierte, als zwergenhafter Transvestit in Rot:
„Und es erscheint in meiner Erinnerung ein kleines Lächeln über das, was das Kind tut: Es hebt den Rock und uriniert sorglos durch das Fenstergitter.“
Auf schmalem Raum lebte das Kind, auf dem Weg zwischen einer Stadtwohnung und einem nahen Landgut. Beschaulich, langweilig? Am Straßenrand sieht der Junge hin und wieder eine Leiche ohne Kopf. Als er sechs Jahre alt war bricht die „Violencia“ (Gewalt) zwischen Konservativen und Liberalen aus, ein Bürgerkrieg, von dem sich das Land nie erholen sollte. Vielleicht ist Vallejo durch diese Gewalterfahrung geworden, was er ist: ein Zyniker.
„Ich war ein Jesuskind, ja, aber ein wütendes, mit beschädigtem Herzen, mit kranker Seele. Und von Groll zu Groll drang ich ein in die finstere Nacht des Hasses, in der verstreut der eine oder andere Liebesfunke glomm.“
„Blaue Tage“ erschien im Original 1985. Der frühe Text zeigt bereits den „ganzen“ Vallejo, stellt Topoi und Posen vor, die auch in späteren Werken auftauchen. Die Abscheu des Autors vor dem Pöbel oder seine Selbststilisierung als Misanthrop. Über das Verhältnis zu seiner Heimatstadt sagt er:
„Wir sind gemeinsam groß geworden, gemeinsam verdorben, das Leben hat uns ruiniert.“
„Jesuskind“ habe sich als Teufel entpuppt und Medellín – „die seelenlose Stadt“ – als Abbild der Hölle.
Stilistisch erweist sich Vallejo als Meister. Souverän spielt er mit Stoff und Sprache. Verwebt kleine Geschichten mit der großen Geschichte, Familienhistorie mit dem Krieg im Staat. Vielschichtig ist die Erzähler-Figur, gespalten, „postmodern“, sich selbst ständig reflektierend: als alter Mann sieht sie Klein-Fernando auf der Straße, das Kind wiederum erkennt sich in dem Alten, ein drittes Ich hat beide im Blick. Von einem Schriftstellerkollegen sagt dieses Ich, was auf Vallejo selbst zutrifft: Philosoph sei er und Bilderstürmer, einer, der Priester und Heilige verbrenne.
Fernando Vallejos Erinnerungsbuch ist Liebeslied und Hassgesang, mal atemloser Monolog, mal Ermunterung zum Gespräch. In manchen Passagen wird die Enttäuschung des Autors zum Wutgeheul, das Wutgeheul zum Poem, zur Karikatur eines Poems. Zum Fürchten kalt. Vallejos Kälte aber verbirgt Verletzlichkeit und Enttäuschung: Kinderland ist abgebrannt.
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Fernando Vallejo: Blaue Tage. Eine Kindheit in Medellín
Aus dem Spanischen von Elke Wehr
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2008
222 Seiten, 22,80 Euro
Vor bald vierzig Jahren verließ er sie und lebt seitdem in Mexiko. Regelmäßig aber schickt er in seinen Büchern ein Alter Ego nach Medellín zurück. Auf Deutsch erschienen bislang „Die Madonna der Mörder“ und „Der Abgrund“. Nun bringt der Suhrkamp Verlag Vallejos Erinnerungen an seine Kinderzeit heraus: „Blaue Tage“.
Es sind anrührende und bittere Anekdoten, in denen der Autor davon berichtet, dass es unter seinen Vorfahren Landbesitzer gab mit der Naivität Don Quijotes. Dass sein Vater, ein liebenswert weltfremder Patron, Journalist und bedeutender politischer „Anführer“ gewesen ist, allerdings ohne Gier nach Macht.
Vallejo selbst trug als kleiner Junge den Spitznamen „Jesuskind“ und war ein zumeist unauffälliger Junge – der sich irgendwann aber in Frauenkleidern präsentierte, als zwergenhafter Transvestit in Rot:
„Und es erscheint in meiner Erinnerung ein kleines Lächeln über das, was das Kind tut: Es hebt den Rock und uriniert sorglos durch das Fenstergitter.“
Auf schmalem Raum lebte das Kind, auf dem Weg zwischen einer Stadtwohnung und einem nahen Landgut. Beschaulich, langweilig? Am Straßenrand sieht der Junge hin und wieder eine Leiche ohne Kopf. Als er sechs Jahre alt war bricht die „Violencia“ (Gewalt) zwischen Konservativen und Liberalen aus, ein Bürgerkrieg, von dem sich das Land nie erholen sollte. Vielleicht ist Vallejo durch diese Gewalterfahrung geworden, was er ist: ein Zyniker.
„Ich war ein Jesuskind, ja, aber ein wütendes, mit beschädigtem Herzen, mit kranker Seele. Und von Groll zu Groll drang ich ein in die finstere Nacht des Hasses, in der verstreut der eine oder andere Liebesfunke glomm.“
„Blaue Tage“ erschien im Original 1985. Der frühe Text zeigt bereits den „ganzen“ Vallejo, stellt Topoi und Posen vor, die auch in späteren Werken auftauchen. Die Abscheu des Autors vor dem Pöbel oder seine Selbststilisierung als Misanthrop. Über das Verhältnis zu seiner Heimatstadt sagt er:
„Wir sind gemeinsam groß geworden, gemeinsam verdorben, das Leben hat uns ruiniert.“
„Jesuskind“ habe sich als Teufel entpuppt und Medellín – „die seelenlose Stadt“ – als Abbild der Hölle.
Stilistisch erweist sich Vallejo als Meister. Souverän spielt er mit Stoff und Sprache. Verwebt kleine Geschichten mit der großen Geschichte, Familienhistorie mit dem Krieg im Staat. Vielschichtig ist die Erzähler-Figur, gespalten, „postmodern“, sich selbst ständig reflektierend: als alter Mann sieht sie Klein-Fernando auf der Straße, das Kind wiederum erkennt sich in dem Alten, ein drittes Ich hat beide im Blick. Von einem Schriftstellerkollegen sagt dieses Ich, was auf Vallejo selbst zutrifft: Philosoph sei er und Bilderstürmer, einer, der Priester und Heilige verbrenne.
Fernando Vallejos Erinnerungsbuch ist Liebeslied und Hassgesang, mal atemloser Monolog, mal Ermunterung zum Gespräch. In manchen Passagen wird die Enttäuschung des Autors zum Wutgeheul, das Wutgeheul zum Poem, zur Karikatur eines Poems. Zum Fürchten kalt. Vallejos Kälte aber verbirgt Verletzlichkeit und Enttäuschung: Kinderland ist abgebrannt.
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Fernando Vallejo: Blaue Tage. Eine Kindheit in Medellín
Aus dem Spanischen von Elke Wehr
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2008
222 Seiten, 22,80 Euro