Liebesgeschichten im Schatten der Vergangenheit

Adolf Muschg im Gespräch mit Katrin Heise · 18.09.2008
Der Schweizer Autor Adolf Muschg hat seine Heimat noch nie geschont. Wie schon früher beklagt Muschg auch in seinem neuen Roman "Kinderhochzeit" die mangelnde Auseinandersetzung des Landes mit seiner Rolle während des Nationalsozialismus.
Katrin Heise: Den Schweizer Historiker Klaus Marbach interessieren die Verflechtungen zwischen Schweizer Firmen und der nationalsozialistischen Wirtschaft während des Dritten Reiches. In einem kleinen Ort an der deutsch-schweizerischen Grenze sucht er das Böse in Nieburg und findet: die Liebe. Ausgerechnet zur Erbin des mächtigen Aluminium-Imperiums, welches eine zwielichtige Rolle spielte. Liebesgeschichten, die verworren sind und allerlei Umwege nehmen und sich auch durchaus verlaufen. Verwickelte Liebesgeschichten im Spiegel der Vergangenheit, über die eigentlich keiner reden will. So würde ich jetzt mal den neuen Roman von Adolf Muschg "Kinderhochzeit" zusammenfassen. Adolf Muschg, ehemaliger Präsident der Berliner Akademie der Künste und Schweizer Autor.

Die Liebesgeschichten, die Sie entwerfen in diesem Roman, spielen vor dem Hintergrund einer noch nicht bewältigten Vergangenheit. Wie wirkt sich das eigentlich auf die Beteiligten aus?

Adolf Muschg: Sie haben mit Recht gesagt, Klaus Marbach beginnt sozusagen bei einer geschichtlichen Detailfrage, die natürlich ein enormes moralisches Gewicht hat, besonders in meiner engeren Umgebung. Die Schweiz hat sich ja lange gerühmt, gewissermaßen aus eigenem Verdienst vom Krieg verschont geblieben zu sein. Dieser Mythos ist abgebaut worden, und die Einzelheit, wie ist es denn passiert, an einem Ort, den man vom Schweizer Ufer aus gut überblicken kann. Das war der Anfang der Recherche. Nun ist es leider so, dass wenn man anfängt zu recherchieren, man nicht nur Täter und Opfer findet, auch außerhalb, sondern auch den Täter und das Opfer in sich selbst. Und im Grunde ist der Weg Klaus Marbachs derjenige vom - nennen wir es - vom teilnehmenden Beobachter zum Täter. Und das ist natürlich eine halsbrecherische Wanderung. Sie sagen, er findet die Liebe, ich würde fast eher sagen, die Liebe findet ihn, fast wider Willen, weil so ungeheuerlich es tönt, natürlich ist auch im Nationalsozialismus die Liebe in einer Form, einer bestimmten Form beteiligt gewesen. Wir wissen heute dank Historikern wie Götz Aly, dass die Deutschen subjektiv nie glücklicher gewesen sind als, nicht in den ganzen zwölf Jahren, aber in den ersten paar. Und ich habe einen Landsmann, den man in Deutschland leider nicht kennt, den Europa-Philosophen, längst verstorben, bedeutender Mann, Denis de Rougemont, der hat über die Liebe und das Abendland ein Buch geschrieben. Und er hat es hier in Berlin geschrieben während der Nazizeit, und hat gesagt, es gibt eine Liebe, die er Passion nennt, die ist gar nicht die Liebe zu einer Person oder zu einem Gegenstand, sondern wirklich die Liebe zur Liebe selbst, also gegenstandslos. Und mit der kann man machen, was man will. Das ist grauenvoll. Am Ende ist das Objekt der Liebe ein Monstrum wie Hitler. In dieses Labyrinth habe ich mich gewagt in diesem Buch. Und da kann man sich nur verlaufen, denn man befindet sich irgendwo auch im Zentrum, im unheimlichen zweideutigen Zentrum der Schöpfung überhaupt.

Heise: Also auch diese Liebesbeziehung dann auch gleich zweideutig zu sehen. Es kommt nämlich noch hinzu, dass diese Beziehungen, diese Beziehung zwischen diesen Personen, auch noch aus anderen Gründen, nicht nur aus Vergangenheitsgründen, kompliziert sind. Das ist die Geliebte des Historikers nämlich 20 Jahre älter als er und wird im Laufe des Buches auch noch in eine lesbische Affäre mit seiner Exfrau verwickelt. Also das steht irgendwo, für mich jedenfalls, für die Unmöglichkeit der Liebe?

Muschg: Eigentlich nicht. Also die, ich würde fast sagen, für die unbeschränkte Möglichkeit der Liebe, die sich nicht einfach domestizieren lässt und auch nicht reglementieren und rationieren. Und sich mal darauf einzulassen, heißt eigentlich, den ältesten Geschichten der Menschheit begegnen, von denen ich immer behaupte, nicht wir erzählen sie, sondern sie erzählen uns. Und das sind die Mythen. Also irgendwo dahinter ist auch, wie um ein großes Beispiel zu nennen, im Joyce, im "Ulysses", ist die gute alte Odyssee, da geht es auch ruppig zu mit der Witwe, die 20 Jahre allein bleibt, also Witwe bei Lebzeiten, mit dem Mord an den Freiern. Das sind alles andere als Idyllen. Und in diese nicht idyllische Sphäre taucht man, sobald man, glaube ich, unter die Oberfläche der Geschichte geht.

Heise: Kommen wir mal zu diesen Nazi-Verstrickungen zurück. Warum lassen Sie das Buch eigentlich in Deutschland spielen, also nah an der Grenze, aber in Deutschland und nicht in der Schweiz, wo doch eigentlich die Verstrickungen der Schweiz Ihr Thema immer wieder sind?

Muschg: Das ist nur das Ausgangsthema, auch für meine Erzählfigur Marbach. Das wäre ja etwas relativ Begrenztes, auch wenn es schon für viele Schweizer die Grenzen des Erträglichen sprengt. Aber es ist, möchte ich mal kühn behaupten, auch kein deutsches Buch geworden, sondern wenn schon ein europäisches. Denn die Schauplätze sind alles Städte an einer Grenze. Zuerst ist es die deutsch-schweizerische in dem fiktiven Nieburg, das irgendwo zwischen Bad Säckingen und Badisch Rheinfelden liegt, dann ist es Berlin, immer noch eine geteilte Stadt, wenn man so will. Dann ist es Görlitz, eine zwischen Deutschland und Polen geteilte, jetzt mühsam und kulturell, spannend, quasi unter der EU sich wieder aufbauende, gemeinsame Siedlung. Und das ist ja wiederum nur ein Spiegel dessen, wie geteilt der Mensch auch als Individuum ist. Also die schöne, praktische Teilung zwischen Gut und Böse, die uns das Christentum verschrieben hat, die lässt sich bei tieferem Nachdenken nicht halten. Wir brauchen den schwarzen und den weißen Flügel zum Fliegen. Und dieses Schwarz-Weiß sozusagen mit einem "und" zu verbinden und nicht mit einem "oder", wie es das Christentum tut, das war sozusagen der mir selber am Anfang nicht bewusste Zweck oder das wahre Motiv des Buches.

Heise: Herr Muschg, vor zehn Jahren war die Debatte über das Nazi-Gold in aller Munde, in allen Zeitungen, in allen Medien. Damals warfen Sie den Schweizern vor, Mittäter der Nazis zu sein. Sie sorgten mit weiteren bissigen Kommentaren auch für hitzige Debatten damals. Tut sich die Schweiz bis heute schwer, dass sie als offiziell neutrales Land mit den Verbrechen der Nazis in Verbindung gebracht wird?

Muschg: Damit tun sich alle schwer, die vorher die Welt eben in Schwarz und Weiß aufgeteilt haben. Die Neutralen haben noch eine ganz spezielle Farbe in ihr Spektrum gebracht, sie waren weder weiß noch schwarz, jedenfalls fein raus, wie sie glaubten. Das gilt für Schweden nicht anders als für die Schweiz. Und womit ich damals meine Landsleute provoziert habe, war ein Büchlein mit dem Titel "Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt". Das war die direkte Antwort auf das Sprüchlein eines Bundesrates, eines Regierungsmitglieds, der sagt, die Kritiker reden gerade so, als läge Auschwitz in der Schweiz. Und da Auschwitz für mich nicht ein geografischer, sondern ein kultureller Ort ist, liegt Auschwitz und die Möglichkeit dazu auch in der Schweiz. Und diese Gleichung, die hat man sich sozusagen gerne abgeschminkt, weil sie so sehr zu eigenen Gunsten gelautet hat. 45 hatte die Schweiz den Krieg gewonnen gewissermaßen, schon zum zweiten Mal. Und sie war im Recht geblieben. Und jetzt tut sie sich entsprechend schwer mit der Integration in Europa.

Heise: Auch zehn Jahre nach dieser ganzen Debatte, immer noch?

Muschg: Es ist merkwürdig, die Schweiz hat Schläge an ihrem Selbstverständnis empfangen wie wahrscheinlich in ihrer ganzen Geschichte noch nie. Das eine ist das Grounding der Swissair. Die Swissair war ein Symbol der nationalen, der grenzüberschreitenden Identität. Wenn man das Schweizer Kreuz in Tokio oder in Bombay sah, dann gehörte man sozusagen einem weltläufigen Lande an. Nun ist es eine Unterabteilung der Lufthansa und rentiert auch besser. Dann die Banken. Die Banken haben uns damals losgekauft mit diesen zweieinhalb Milliarden von dem moralischen Vorwurf. Die Regierung hat nichts getan.
Losgekauft sozusagen in die öffentliche Wohlgelittenheit. Nun sind die Banken dran. Ein 20-faches dessen, womit sie sich freigekauft haben, haben sie in diesen entsetzlichen Subprime-Spekulationen in Amerika verloren. Auch der Bankenmythos, UBS heißt der, ist nicht nur angekratzt, sondern am Boden. Und was ist von dieser Schweiz jetzt noch übrig?

Heise: Die Mentalität.

Muschg: Meine stolze Antwort darauf ist, sie ist ein europäisches Land und könnte Europa etwas bieten. Und Görlitz ist für mich ein wunderbares Beispiel einer Stadt, die ja irgendwo im Kern auch identisch ist mit Jerusalem, der Urstadt des Christentums, weil dort das einzige heilige Grab in Europa ist, das authentischer ist als das in Jerusalem. Das sind so Geschichten, die mich natürlich enorm gereizt haben. Im Übrigen hat das Buch ein, nicht ein Christ, sondern eigentlich ein heimlicher Grieche geschrieben, denn ich bin Polytheist und glaube, dass Europa einen polytheistischen Fundus braucht, damit wir einander vertragen, so wie die alten Athener gelernt haben, ganz andere Völker zu vertragen.

Heise: Sie gelten schon immer als jemand, für den Europa das eigentliche Thema ist und der eigentliche Wunsch ist. Wie weit sind denn Ihre Mitschweizer da jetzt inzwischen schon gegangen?

Muschg: Mehrheitlich nicht, und eigentlich immer weniger, denn der sogenannte bilaterale Weg, wo also der Schwanz glaubt, er könne mit dem Dackel wedeln, der erweist sich bisher als ganz profitabel. Und die Schweiz, das darf man ja nicht vergessen, ist zwar ein Kleinstaat, aber ist eine finanzielle Mittel- bis Großmacht. Und jetzt muss die Schweiz sich langsam wieder auf eine politische Neuorientierung besinnen. Wir müssen dieses wild gewordene Gewerbe einholen, politisch einbinden. Das geht nur mit Europa.

Heise: Wie wird denn diese Diskussion geführt im Moment? Ich meine, jetzt sind sowieso alle irgendwie aufgeschreckt durch das, was passiert in Amerika.

Muschg: Aber das werden nur Vorspiele sein dessen, was kommt. Also für mich ist ja Europa nicht ein selbstgenügsames Projekt, sondern eines, das im Grunde einen Modellcharakter hat für die eben nicht globale, sondern ich sage lieber die kosmopolitische Vereinigung des Planeten. Und das wäre das erste Mal in der Geschichte, dass Nationalstaaten mit allem, was sie mitschleppen an Geschichte, sich darauf verständigen, dass sie nicht nur friedlich zusammenleben, sondern dass sie das friedliche Zusammenleben auch nach außen ausstrahlen und verbreiten wollen. Und für mich ist Europa ein Vorspiel für etwas viel Größeres.

Heise: Da sind wir jetzt quasi wieder am Ausgangspunkt, denn das, was Sie mitschleppen an Geschichte, müssen Sie erst mal aufgearbeitet haben.

Muschg: Ja, das stimmt.

Heise: Da sind wir wieder beim Appell.

Muschg: Wobei die Aufarbeitung etwas sehr Schwieriges ist. Man darf sie nicht nur moralisch behandeln, denn sonst bleiben die Leute endlos fasziniert von dem, was ihnen verboten ist. Warum hat sich im deutschen Geschichtsbild, auch für Schüler und für junge Leute, eigentlich die ganze deutsche Geschichte auf das Dritte Reich konzentriert? Weil man sich da besonders schämen muss. Das heißt, es ist besonders faszinierend, das ist das Verrückte. Das steht alles schon in der Genesis. Wenn sie einen Baum verbieten im ganzen Garten, wird das der Baum sein, an dem man sich vergreift, sonst wäre man gar nicht auf den Gedanken gekommen.

Heise: Sagt Adolf Muschg, Schweizer Autor. Sein neuestes Werk "Kinderhochzeit" ist gerade im Suhrkamp-Verlag erschienen. Herr Muschg, ich danke Ihnen, dass Sie zu uns gekommen sind. Vielen Dank für dieses Gespräch.

Muschg: Ich bedanke mich, Frau Heise!