Lieber ganz als bessere Hälfte
Einen Roman zur Vermittlung paartherapeutischer Empfehlungen hat der Argentinier Jorge Bucay geschrieben. Die enorme Resonanz auf "Liebe mit offenen Augen" ist weniger der schriftstellerischen Originalität als dem Aufwerfen einer viele interessierenden Frage zu sehen: Wie in einer Beziehung autonomes Individuum bleiben und nicht zur Hälfte werden?
Als Roman muss man diesen Text nicht wirklich ernst nehmen: Roberto, ein junger Mann aus der Werbebranche, erhält regelmäßig E-Mails, die offenbar nicht für ihn bestimmt sind. Zunächst löscht er sie ungelesen, irgendwann einmal aber überwältigt ihn die Neugier. Und er gerät durch das Öffnen dieser Mails in Überlegungen, die Laura, eine Paartherapeutin, an ihren Kollegen Fredy richtet, um diesen zur Weiterarbeit an einem - beiläufig auf einem Psychologenkongress konzipierten - gemeinsamen Buchprojekt zu ermuntern.
Diese Mails handeln von Paarbeziehungen und Liebe, von Erwartungen und notwendigen Enttäuschungen, von den Unterschieden, die zwischen Verliebtsein und Liebe bestehen könnten.
Roberto, der selbst in einer etwas komplizierten Paarbeziehung steckt, fühlt sich aus genau diesem Grund von den Laura-Mails angesprochen. Zunächst zögernd, dann immer entschlossener, beantwortet er diese Mails und tut dabei so, als sei er jener Fredy, der eigentliche Adressat der Reflexionen Lauras.
Diese bemerkt davon nichts, und natürlich bewegen sich die beiden Romanfiguren aufeinander zu, verlassen irgendwann den virtuellen Raum und geraten sogar in eine "analoge" Nähe zueinander, die eine Paarbeziehung möglich erscheinen lässt.
Dieses Romankonstrukt wird kaum in die Annalen der Literaturgeschichte eingehen, ist aber als Phänomen überaus interessant. Der Text hat seit seinem Erscheinen im Jahr 2000 (in der argentinischen Originalausgabe) eine enorme Resonanz gefunden, nicht zuletzt im Internet, wo sich ein geräumiges Forum mit seinen Problemstellungen und Thesen auseinandersetzt (in deutscher Sprache: www.liebemitoffenenaugen.com). Auch der Umstand, dass dieser Roman in 18 Sprachen übersetzt wurde, bezeugt seine Strahlkraft. Worauf könnte ein solcher Erfolg zurückzuführen sein?
Blickt man strukturell auf den Büchermarkt und dessen gut gesättigte Sachbuch-Ratgeberabteilung, in der in atemberaubendem Tempo die Erfolgsrezepte für jedermann/frau in jedweder Lage auf sich aufmerksam zu machen versuchen, scheint es keine törichte Idee gewesen zu sein, einen paartherapeutischen Ratgeber in einem Romankleid zu präsentieren. Das Kalkül, dass sich auf diese erzählende Weise die Leserschaft erweitern ließe, ist hier offenbar voll aufgegangen.
Wesentlicher für den Erfolg ist freilich der paartherapeutische Ansatz dieses Romans: "Weshalb sollten wir nicht versuchen, einem anderen Ganzen zu begegnen, statt immer auf der Suche nach der besseren Hälfte zu sein?" In diesem Kernsatz steckt die Botschaft des Romans beziehungsweise der Paartherapie, die Bucay zum Roman formt.
Basierend auf den Grundsätzen der Humanistischen Psychologie, ist damit jene Provokation formuliert, die diese "dritte Kraft" der Psychologie seit fast 50 Jahren zwischen tiefenpsychologischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen auszeichnet: Ein autonomes und selbstverantwortliches Individuum, das sehr wohl in der Lage ist, seine Handlungen (und seine zwischenmenschlichen Beziehungen) ohne Bevormundungen oder Determinierungen zu reflektieren, zu beeinflussen, ja zu gestalten. Dies ist es, wovon sich derart viele Leser angesprochen fühlen.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Jorge Bucay: Liebe mit offenen Augen
Roman. Aus dem Spanischen von Petra Willim
Ammann Verlag, Zürich 2008
270 Seiten, 19,90 Euro
Diese Mails handeln von Paarbeziehungen und Liebe, von Erwartungen und notwendigen Enttäuschungen, von den Unterschieden, die zwischen Verliebtsein und Liebe bestehen könnten.
Roberto, der selbst in einer etwas komplizierten Paarbeziehung steckt, fühlt sich aus genau diesem Grund von den Laura-Mails angesprochen. Zunächst zögernd, dann immer entschlossener, beantwortet er diese Mails und tut dabei so, als sei er jener Fredy, der eigentliche Adressat der Reflexionen Lauras.
Diese bemerkt davon nichts, und natürlich bewegen sich die beiden Romanfiguren aufeinander zu, verlassen irgendwann den virtuellen Raum und geraten sogar in eine "analoge" Nähe zueinander, die eine Paarbeziehung möglich erscheinen lässt.
Dieses Romankonstrukt wird kaum in die Annalen der Literaturgeschichte eingehen, ist aber als Phänomen überaus interessant. Der Text hat seit seinem Erscheinen im Jahr 2000 (in der argentinischen Originalausgabe) eine enorme Resonanz gefunden, nicht zuletzt im Internet, wo sich ein geräumiges Forum mit seinen Problemstellungen und Thesen auseinandersetzt (in deutscher Sprache: www.liebemitoffenenaugen.com). Auch der Umstand, dass dieser Roman in 18 Sprachen übersetzt wurde, bezeugt seine Strahlkraft. Worauf könnte ein solcher Erfolg zurückzuführen sein?
Blickt man strukturell auf den Büchermarkt und dessen gut gesättigte Sachbuch-Ratgeberabteilung, in der in atemberaubendem Tempo die Erfolgsrezepte für jedermann/frau in jedweder Lage auf sich aufmerksam zu machen versuchen, scheint es keine törichte Idee gewesen zu sein, einen paartherapeutischen Ratgeber in einem Romankleid zu präsentieren. Das Kalkül, dass sich auf diese erzählende Weise die Leserschaft erweitern ließe, ist hier offenbar voll aufgegangen.
Wesentlicher für den Erfolg ist freilich der paartherapeutische Ansatz dieses Romans: "Weshalb sollten wir nicht versuchen, einem anderen Ganzen zu begegnen, statt immer auf der Suche nach der besseren Hälfte zu sein?" In diesem Kernsatz steckt die Botschaft des Romans beziehungsweise der Paartherapie, die Bucay zum Roman formt.
Basierend auf den Grundsätzen der Humanistischen Psychologie, ist damit jene Provokation formuliert, die diese "dritte Kraft" der Psychologie seit fast 50 Jahren zwischen tiefenpsychologischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen auszeichnet: Ein autonomes und selbstverantwortliches Individuum, das sehr wohl in der Lage ist, seine Handlungen (und seine zwischenmenschlichen Beziehungen) ohne Bevormundungen oder Determinierungen zu reflektieren, zu beeinflussen, ja zu gestalten. Dies ist es, wovon sich derart viele Leser angesprochen fühlen.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Jorge Bucay: Liebe mit offenen Augen
Roman. Aus dem Spanischen von Petra Willim
Ammann Verlag, Zürich 2008
270 Seiten, 19,90 Euro