Liebe in Loge acht
30-mal derselbe "Freischütz", 40-mal "La Traviata", 60-mal Mozarts "Figaro". Wolfgang Staerk liebt die Oper. Erster Rang links, Reihe eins, Platz Nummer drei - jeden Abend sitzt er pünktlich in der Komischen Oper Berlin, immer in derselben Loge.
"Hat sich irgendwie so ergeben", sagt der pensionierte Lehrer, der bis zu 160 Aufführungen pro Spielzeit besucht, im Jahr rund 3000 Euro allein für Tickets ausgibt. Staerk kennt jedes Detail jeder Inszenierung, führt darüber zu Hause Buch. Ihn kennen inzwischen alle Angestellten, der eine oder andere Musiker grüßt schon mal aus dem Orchestergraben.
Sonntagabend, Komische Oper Berlin: Noch 15 Minuten bis zum "Freischütz". Das Orchester probt Carl Maria von Weber. Die meisten Zuschauer stehen noch im Foyer, zupfen an ihrer Abendgarderobe. Alles dabei - vom Abendkleid bis zur Röhrenjeans, vom Smoking bis zum lässigen Cordanzug.
Die, die ein bisschen eher gekommen sind, stehen schon oben, im zweiten Rang, im verspiegelten Appollo-Saal, der Theater-Lounge. Die Damen trinken Rotkäppchen-Sekt, die Herren ein Pils. Allmählich füllt sich der neobarocke Saal, den Bomben 1943 wie durch ein Wunder nicht zerstörten: die 21 mit rotem Samt bezogenen Sitzreihen im Parkett, die acht Logen mit den beige-gold gestrichenen Säulen im Rang.
Im ersten Rang, in Loge acht, Reihe eins, Platz Nummer drei sitzt ein älterer Herr mit Hornbrille: grauer Anzug, graue Weste, weißes Hemd, roter Schlips. Kerzengerade sitzt er da, blickt hinunter in den Orchestergraben. Vor ihm, auf der mit rotem Samtteppich ausgelegten Brüstung, liegt ein Programmheft, schon etwas abgegriffen. Darin steckt ein Karteikärtchen und ein kleiner Bleistift.
"Im Fagott zum Beispiel, der stellvertretende, heute ist Herr Bastian. Flöte ist Matthieu, ein Franzose, daneben der Nigel Shaw, der kommt aus England. Wir haben ja zwölf verschiedene Nationalitäten."
Wolfgang Staerk kennt fast jeden Musiker mit Namen, notiert kurz eine Umbesetzung auf seinem Kärtchen, blickt dann auf seine Uhr. Noch zwei Minuten bis zum "Freischütz". Staerk lehnt sich weit zurück, greift in seine rechte Jackettasche, steckt sich zwei kleine Hörgeräte ein, lächelt. Das Orchester, sagt er, ja, das kennt er wirklich ganz gut.
"Ich hab ja einige, die winken schon mal rauf vorher. Die kenn ich, die sind ja ganz reizend die Orchestermitglieder. Für manche gehört sich das nicht. Die machen ihren Job, die müssen seriös sein."
Aber auch sie kennen ihn, sprechen ihn manchmal nach der Vorstellung auf der Straße an. Denn: Wolfgang Staerk sitzt fast jeden Abend in der Komischen Oper. 160 Aufführungen pro Spielzeit, mindestens. "Hat sich irgendwie so ergeben", sagt der pensionierte Lehrer nur, zeigt dann stumm in den Orchestergraben. Markus Poschner, der Dirigent, ist da. Staerk sieht ihn mit als Erster, klatscht auch mit als Erster - laut und rhythmisch.
Erster Akt: Jäger Max verliert das Sternschießen, wird vom Volk ausgelacht, ist verzweifelt. Bis ihm der Jägerbursche Kaspar verspricht, teuflische Kugeln für ihn zu schmieden, die immer treffen. Um Mitternacht in der Wolfsschlucht: Was Max nicht ahnt - in Wahrheit will Kaspar Max opfern, damit sein Leben verlängert wird.
Wolfgang Staerk kennt die Geschichte in und auswendig, hat den "Freischütz" in der Komischen Oper schon 29-mal gesehen. "Damit bin ich durch", sagt er. "Den genieß ich nur noch." Doch selbst beim 30. Mal wirkt er wach, konzentriert, sitzt aufrecht da: Rechter Ellenbogen auf die Lehne gestützt, liegt sein Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand; sein Blick immer abwechselnd auf Bühne und Orchestergraben gerichtet.
Die Aussicht dorthin: fantastisch - vielleicht acht, neun Meter Luftlinie zu Markus Poschner, dem jungen Dirigenten, vielleicht fünfzehn bis zum Bühnenrand, auf dem jetzt ein trostlos-fröhliches Landvolk durch das Stück torkelt: Schönheiten in zu groß karierter oder zu klein geblümter Garderobe, traurige Kampftrinker, tumbe Eckensteher. Alte Weiber öffnen lüstern die Kittelschürze. Bierflaschenverschlüsse klicken, Frauen kreischen und Knallfrösche platzen. Während Kaspar in einem Verschlag hockt, die teuflischen Kugeln gießt.
Die Neuinszenierung der romantischen Oper: mutig, radikal. Anfangs beschäftigt das Staerk. Er ärgert sich über einzelne Szenen, amüsiert sich über andere. Beim dreißigsten Mal nicht mehr. In der Pause macht er sich nur eine kleine Notiz. Die Rolle des Ännchen ist heute neu besetzt.
"Die wunderbare Moitza Erdmann: schlanke Gestalt, absolutes Gehör, sehr helle, hohe Stimme. Die hat das Ännchen gesungen. Nun ist sie leider weg. Und nun, da hat man ein junge neue, Karen Rettinghaus, die also so der Typ ist. Na und da dachte ich mir, wie macht sie das, das hat sie sehr schön gemacht."
Pause: Wolfgang Staerk steht auf, streicht ein paar Falten aus seinem Jackett. Geht langsam, etwas gebückt Richtung Foyer - immer am Rand des vier Meter breiten Ganges, immer am Geländer entlang. Ab und zu nickt er dem einen oder anderen Besucher freundlich zu, vorbei an der Bar, entschuldigt er sich für einen Moment - nicht etwa, um sich ein Pils oder ein Glas Sekt zu gönnen. "Viel zu teuer", sagt er. Nein. Er will auf die Toilette, dann noch einmal kurz einen Blick auf den Besetzungsplan im Foyer werfen. Vorher begrüßt er noch schnell per Handschlag zwei Herren im dunklen Anzug: Uwe Bernd und Uwe Kusserow. Beide sind wie Staerk, Mitglieder im Förderkreis der Oper, kennen ihn schon lange. Beide gehen auch zwei-, dreimal hintereinander in dieselbe Vorstellung. 30-mal Webers "Freischütz" aber? Nein. Soweit geht ihre Liebe nicht.
"Wir finden, er verpasst auch Vieles. Wir gehen ins Deutsche Theater, in die Philharmonie. Wir haben das diskutiert, aber gut: Er braucht das glaube ich. Es gibt auch eine Dame hier, die macht ihm Konkurrenz, die ist auch fast jeden Abend hier. Ich find es auch toll. Besonders die Damen, die sind toll, die hier singen, aber jeden Abend?"
Zurück in Loge acht, wo Staerk - konfrontiert mit der Frage, ob er sich denn nie langweilt - keine Sekunde lang nachdenkt.
"Nein. Die eigene Stimmung ist natürlich unterschiedlich, es kommt also vor, dass man ein bisschen lustlos ist, sich nicht so wohl fühlt, aber das vergeht dann. Was rein Gesundheitliches: Ich neige ein bisschen zu niedrigem Blutdruck und hier ist man dann immer so ein bisschen angeregt, also hier fühle ich mich wohl."
Warum aber diese Dosis Komische Oper? Was ist das, was ihn jeden Abend hierher treibt? Immer derselbe Ort, derselbe Platz, an dem er fast mehr Zeit verbringt, als zu Hause, in seinem Wohnzimmer?
"Alles, die Musik, das Haus, die Menschen, die ich kenne, vor allen Dingen natürlich Mozart, Carl Maria von Weber. Die Tatsache, dass es jedes Mal ein bisschen anders ist. Und das kann man natürlich nur feststellen, wenn man öfter hierher geht. Was da alles auf der Bühne passiert und auch im Orchestergraben. Wenn man das einmal sieht, dann kriegt man das alles gar nicht mit. Mir tun immer die Leute leid, die einmal hierher gehen und dann haben sie alles schon verstanden - das stimmt gar nicht."
Drittes Bild: Max und Kaspar auf der Jagd. Staerks rechte Hand tippt leise im Takt der Musik auf die Brüstung, plötzlich hebt er sie an. genau wie in der nächsten Sekunde der Dirigent: Ein Einsatz, den er liebt, verinnerlicht hat, bei dem die Musik Regie über seine sonst so kontrollierten Bewegungen übernimmt.
Kurz vor dem Finale steht eine Horde bewaffneter Jäger auf der Bühne: alle mit Gehörschutz wie Waldarbeiter an der Kettensäge. Sie entsichern die Gewehre, das Publikum hält sich die Ohren zu, nicht Staerk. Er weiß längst, dass es erst nach dem zweiten Entsichern knallt - und wie. Staerk beißt sich vor Freude kurz auf die Finger. So sehr amüsiert ihn der gespielte Witz - immer noch, immer wieder. Und: Auch die Musik, der hauseigene und der Senff-Chor, gefällt ihm an der Stelle ganz besonders. Ja, sagt er, Weber, den hört er auch schon mal zu Hause. Auf CD. In seinem richtigen Wohnzimmer.
Das liegt in einem zweistöckigen 70er-Jahre-Flachbau im grünen Berliner Stadtteil Dahlem, mit Raufasertapete, Schrankwand und Spitzengardinen, Mozarts Flötenkonzert über dem Sofa, Sammeltassen und Stoffsets auf einem runden Tisch am Fenster. Auf demselben Tisch liegen auch ein großes italienisch-deutsches Wörterbuch, zwei Fernbedienungen, zwei Mozartbiografien. Daneben: eine Kaffeemaschine, durch die gerade frischer Kaffee läuft.
Wolfgang Staerk trägt leger: eine Breitcordhose, ein weißes Oberhemd, Puschen. Auf der Heizung im Wohnzimmer hängen drei Paar Wollsocken zum Trocknen. Staerk stellt jetzt die Musik leiser, mit der anderen Hand richtet er gleichzeitig einen Band seiner Opern-Enzyklopädie an den anderen elf aus. Da hat er gestern noch was nachgeschlagen, sagt er, vor dem Schlafengehen, denn Oper beschäftigt ihn, lässt ihn nicht los - nach der Vorstellung nicht, und auch nicht davor. Wolfgang Staerk erarbeitet sich Oper - Stück um Stück, holt sich beim Turandot noch einmal Schillers Drama aus dem Bücherschrank und liest es auch oder fährt in die Staatsbibliothek, leiht sich Eugen Onegin aus: Puschkins Roman in Versform, der der Oper als Vorlage dient. Genauso Prokofjews "Liebe zu den drei Orangen".
"Ich habe unendlich viel gelernt. Oper ist eine Welt, eine ganze Welt","
sagt der 80-Jährige. Erschlossen hat sich diese dem Liebhaber spät - erst, als er wirklich Zeit und Muße hat. Jahrgang 1926, verlässt er mit 17 die Schule, wird Luftwaffenhelfer, mit 19 muss er an die Front, gerät in Kriegsgefangenschaft, kehrt erst 1948 zurück in die Heimat, nach Erfurt. Dort macht er sein Abitur nach. Im Herbst 1949 dann geht er nach Berlin, studieren. Opernbesuche waren damals nicht drin, sagt er und lacht. Seine Eltern schicken ihn mit dem Fahrrad durch halb Berlin, um möglichst billig Brot und Zucker einzukaufen.
Staerk schenkt Kaffee nach, setzt sich dann in seinem großen Fernseh- und Lesesessel. Auf dessen Lehne liegt ein Bestseller aus dem Mozartjahr: Eric Emmanuel Schmitts "Mein Leben mit Mozart". "Bisschen oberflächlich", sagt der Kenner, "aber enthusiastisch". "Vor allem die Auswahl auf der CD steckt an.""Das fängt also an mit 'Figaros Hochzeit'. Die Arie der Gräfin. Dann so eine Kleinigkeit, die Arie der Barbarina.""
Plötzlich: wieder Stille. Für einen Augenblick wirkt Staerk abwesend. Kehrt in Gedanken noch einmal in seine Jugend zurück. Den Traum, selbst mal in einem virtuosen Orchester zu spielen, begräbt er früh, erzählt er. Mit zehn. "Mir fehlt die Begabung", sagt er nur und versucht ein Lächeln. Er wird Lehrer, unterrichtet Latein und Griechisch, fast dreißig Jahre lang. Geheiratet hat er nie. "Hat sich irgendwie nicht ergeben", sagt er. Kurz nach der Wende entdeckt er dann seine späte Liebe: die Oper.
"Dann wollt ich Ihnen zeigen, wo hab ich das mal schnell - so ein Kärtchen, wo ich mir Notizen mache."
Über seine Theater- und Opernbesuche - seit 1989.
"Da habe ich tatsächlich mal zusammengestellt, wie ging das eigentlich bei mir los. Und 1990 war ich eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Mal im Theater, davon nur fünf Mal in der Komischen Oper."
Richtig los geht es 1994.
"1995, dann bin ich bei 97. Dann werden die Listen immer länger und immer länger. Jetzt hab ich also kurz und gut rausgekriegt: Am Ende der Spielzeit 2005/2006 hab ich an 1733 Veranstaltungen der Komischen Oper teilgenommen. Nun schreibe ich das einfach fort. Das steht dann in meinem Notizbuch. Da wird also eingetragen. Am 1. Januar 1291 Opern, am Ende der Woche sind es 1294, jetzt bin ich bei 1296, komme also bald auf 1300."
Bevor die Spielzeit beginnt, malt sich Staerk jedes Mal mit Bleistift eine Tabelle auf eine DIN-A5 Karteikarte, listet darin sämtliche Opern im Spielplan auf: chronologisch geordnet nach der Uraufführung - von "Orest", 1739, bis "Pinocchio" 2001. Dahinter steht, wie oft er die jeweilige Inszenierung gesehen hat.
"Also 'Orest' habe ich siebenmal gesehen, 'Don Giovanni' habe ich 42-mal gesehen, 'La TraviataÄ 52-mal gesehen. Dann habe ich sämtliche frühere Produktionen. Seit wann und wie oft hab ich sie gesehen. Also, den Rekord bildet die 'Zauberflöte', 71-mal, 'Fidelio' 50-mal, 'Falstaff' 31-mal."
1300 Aufführungen - das ist natürlich Rekord. Auch wenn eine ältere Dame aus Frankfurt an der Oder ihm eine zeitlang ganz schön Konkurrenz macht. Bis sie krank wird, seit dem ist Staerk nicht mehr einzuholen. Rund 250 Euro gibt er im Monat für Eintrittskarten aus, rund zehn Prozent seiner Rente. "Da bleibt immer noch genug übrig", sagt er. Sogar soviel, dass er von seinem Ersparten auch schon mal für das Orchester spendet; Verwendungszweck: Instrumente, die Summe: fünfstellig.
So viel Liebe, so viel Geld - und immer nur für die Komische Oper? Warum nicht für ein anderes Haus? Staerk denkt nach, denkt zurück und nickt. Er glaubt, dass vor allem frühere Inszenierungen ihn so an das Haus binden.
"Es war der Geist von Felsenstein, dieses intensive Spiel. Felsenstein war wichtig: Oper ist kein kostümiertes Konzert, sondern ist Theater, Musiktheater - und das habe ich verwirklicht gesehen eben in der Komischen Oper."
Selbst größere, weltberühmte Häuser, so Staerk, kommen da oft nicht mit. Nicht mal die Semperoper in Dresden.
"Dresden, 'Don Carlos'. Akustisch besser, wir haben eine bisschen dumpfe Akustik. Dann kamen die Sänger, kommen beide auf die Bühne: einer dorthin, einer dahin und singen beide ins Publikum. Dann kommt Action, dann geht der eine da hin, und der geht dahin. Dann drehen sie sich wieder zum Publikum und singen. Das ist eben, wie Oper nicht sein darf."
Rezensionen lesen, ausschneiden, sammeln: Das alles hält den Pensionär fit. Der Spielplan bringt Abwechslung in sein Leben, strukturiert seine Tage. Bis in den Nachmittag verlaufen die ganz normal, sagt er: aufstehen, frühstücken, abwaschen, Blumen gießen. Dann die Vorbereitungen fürs Mittagessen. Einmal in der Woche kocht Staerk einen großen Topf Pellkartoffeln, dazu gibt es abwechselnd einmal Fisch, einmal Gemüse, einmal Fleisch. Danach ein Mittagsschläfchen.
"Um fünf gucke ich im ersten Programm die Tagesschau. Dann wird ausgemacht, meistens habe ich mich schon rasiert und umgezogen. Dann geht es so halb, dreiviertel sechs los."
Wie jetzt, zu Mozart: "Cosi fan tutte" - zum 22. Mal. Wolfgang Staerk hat sich umgezogen, trägt jetzt wieder grauen Flanell, darüber seinen blauen, langen Trenchcoat, den er ganz weit oben zuknotet - ein bisschen altmodisch, wie ein Lateinlehrer eben. Ganz zum Schluss greift er seinen kleinen, roten Stoffbeutel, da sind ein Regenschirm und seine Hörgeräte drin. Und geht zu Fuß zur S-Bahn. Heute ausnahmsweise drei Stunden früher als sonst. Es trifft sich noch der Orchesterstammtisch.
In der S-Bahn und in Gedanken schon wieder bei Mozart: der neuen "Zauberflöten"-Inszenierung. Hier kann er noch lange nicht abschalten, einfach nur genießen. Dafür stehen noch viel zu viele Fragen auf seinem Karteikärtchen.
"Wieso geht da der Vorhang da auf und wieder zu und die Beleuchtung wechselt, das weiß ich bis heute nicht. Papageno, wieso wird er geschlagen am Anfang? Die Bildnis-Arie, da heißt es, da sagt die Marie-Luise, da brauch ich ein romantisches Bild und dann zieht sie ein popeliges kleines Boot mit einem kleinen Segel rein. Das ist auch ein Witz. Oder das Hierarchische wird demontiert. Das ist im Grunde genommen die Konsequenz der abgeschlagenen Köpfe in Idomeneo. Es gibt keinen Gott. Selbstverständlich beschäftige ich mich oft den ganzen Tag oder immer wieder neu damit. Mit der Zauberflöte bin ich längst nicht fertig."
Rund 20 Minuten später: Haltestelle Unter den Linden, zwei Treppen rauf, vorbei an der russischen Botschaft, dem Gebäude der Aeroflot bis zur Ampel Ecke Glinkastraße.
"Hier zähle ich immer. 21, 22, 23, 24. Zisch, da ist grün. Da kann ich als erster loslaufen."
Komische Oper: 150 Meter, steht auf einem kleinen blauen Wegweiser. Ein paar Minuten später, im Foyer: Wolfgang Staerk steuert direkt auf die Garderobe zu. Vorne rechts, am Fenster, ist sein Haken, an dem er jeden Tag seinen Mantel aufhängt, den roten Beutel daneben. "Hängt der mal nicht da, macht man sich Sorgen", sagt eine Frau vom Förderkreis, die jetzt neben ihm steht.
Oben, im ersten Stock, ist es dunkel. Rund 80 Liebhaber des Hauses sind gekommen. Die meisten, wie Staerk, Pensionäre. "Viele sind nur hier, weil es Kaffee und Kuchen gibt", sagt er leise und grinst. In den Vorstellungen jedenfalls sieht er sie fast nie. Staerk dagegen kommt immer. Die Frau von eben nennt ihn ein "Faktotum". Sagt: Er gehört einfach dazu. Staerk winkt ab, würde jetzt gern zuhören, denn heute verspricht er sich vom Stammtisch eine kleine Sternstunde. Der neue Kapellmeister hat sich angekündigt, genauso ein weit gereister Trompeter. Bisher aber: nur Dunkel und Chaos.
"Ich gebe Ihnen hier einen Stuhl. So, ich weiß jetzt nicht, wo vorne ist. Aha, da kommen noch neue Stühle. Das ging ja heute mächtig durcheinander."
Dann geht es plötzlich Schlag auf Schlag.
"Meine Damen und Herren, ich möchte sie recht herzlich begrüßen."
Der Vorstand ist da. Hinter ihm steht ein großer, sympathischer junger Mann mit Locken.
"Da kommt Herr Poschner, das ist unser erster Kapellmeister."
Staerk sieht ihn als Erster - wie so oft abends, in seiner Loge. Poschner plaudert ein bisschen, übergibt dann an Matthias Kamps an der Trompete.
"Das geht dann so los. Man kann natürlich sehr viel lauter spielen auch."
Tut es und erklärt dann, warum laut nicht immer schön sein muss. Auf einem Tisch hinter ihm liegen allerlei exotische Instrumente. Muscheln aus Mittelamerika, Tierhörner aus Schweden. Als Staerk die sieht, greift er reflexartig in seine rechte Jackett-Tasche - höchste Zeit für die Hörgeräte.
"So, ich werde mich mal bewaffnen mit den Dingern."
Gerade rechtzeitig für Mozart, die Fanfare aus der Zauberflöte - ab und zu macht sich Staerk eine Notiz, die meiste Zeit aber sitzt er nur da und lächelt, genießt den Vortrag in vollen Zügen: die intime Atmosphäre, so nah am Künstler, an der Musik. Und alles: im Kreis der "Familie", in der er, zumindest am Applaus, immer zu erkennen ist. Egal, ob 80 Zuhörer im Foyer sitzen oder 800 im Zuschauerraum. Wie jetzt, nach noch einmal drei Stunden Mozart.
Der 80-Jährige sitzt immer noch aufrecht da: Erster Rang, Reihe eins, Platz Nummer drei. In Loge acht, sein zweites Wohnzimmer - wischt sich jetzt mit den Fingerspitzen unter dem Brillengestell die Augen. Gähnt - nur ganz kurz, steckt dann die Hörgeräte in seine Jackettasche und wirft einen Blick auf seine Uhr.
"Ich gestatte mir erst nach dem letzten Ton auf die Uhr zu gucken, dann guck ich und dann sage ich, wenn du dich beeilst, dann schaffst du noch die und die S-Bahn, oder sie ist weg, dann kannst du bis zuletzt klatschen."
Wie jetzt - so viel Zeit muss sein, für das Orchester, das ganze Ensemble, für Mozart und überhaupt: für die Oper.
Sonntagabend, Komische Oper Berlin: Noch 15 Minuten bis zum "Freischütz". Das Orchester probt Carl Maria von Weber. Die meisten Zuschauer stehen noch im Foyer, zupfen an ihrer Abendgarderobe. Alles dabei - vom Abendkleid bis zur Röhrenjeans, vom Smoking bis zum lässigen Cordanzug.
Die, die ein bisschen eher gekommen sind, stehen schon oben, im zweiten Rang, im verspiegelten Appollo-Saal, der Theater-Lounge. Die Damen trinken Rotkäppchen-Sekt, die Herren ein Pils. Allmählich füllt sich der neobarocke Saal, den Bomben 1943 wie durch ein Wunder nicht zerstörten: die 21 mit rotem Samt bezogenen Sitzreihen im Parkett, die acht Logen mit den beige-gold gestrichenen Säulen im Rang.
Im ersten Rang, in Loge acht, Reihe eins, Platz Nummer drei sitzt ein älterer Herr mit Hornbrille: grauer Anzug, graue Weste, weißes Hemd, roter Schlips. Kerzengerade sitzt er da, blickt hinunter in den Orchestergraben. Vor ihm, auf der mit rotem Samtteppich ausgelegten Brüstung, liegt ein Programmheft, schon etwas abgegriffen. Darin steckt ein Karteikärtchen und ein kleiner Bleistift.
"Im Fagott zum Beispiel, der stellvertretende, heute ist Herr Bastian. Flöte ist Matthieu, ein Franzose, daneben der Nigel Shaw, der kommt aus England. Wir haben ja zwölf verschiedene Nationalitäten."
Wolfgang Staerk kennt fast jeden Musiker mit Namen, notiert kurz eine Umbesetzung auf seinem Kärtchen, blickt dann auf seine Uhr. Noch zwei Minuten bis zum "Freischütz". Staerk lehnt sich weit zurück, greift in seine rechte Jackettasche, steckt sich zwei kleine Hörgeräte ein, lächelt. Das Orchester, sagt er, ja, das kennt er wirklich ganz gut.
"Ich hab ja einige, die winken schon mal rauf vorher. Die kenn ich, die sind ja ganz reizend die Orchestermitglieder. Für manche gehört sich das nicht. Die machen ihren Job, die müssen seriös sein."
Aber auch sie kennen ihn, sprechen ihn manchmal nach der Vorstellung auf der Straße an. Denn: Wolfgang Staerk sitzt fast jeden Abend in der Komischen Oper. 160 Aufführungen pro Spielzeit, mindestens. "Hat sich irgendwie so ergeben", sagt der pensionierte Lehrer nur, zeigt dann stumm in den Orchestergraben. Markus Poschner, der Dirigent, ist da. Staerk sieht ihn mit als Erster, klatscht auch mit als Erster - laut und rhythmisch.
Erster Akt: Jäger Max verliert das Sternschießen, wird vom Volk ausgelacht, ist verzweifelt. Bis ihm der Jägerbursche Kaspar verspricht, teuflische Kugeln für ihn zu schmieden, die immer treffen. Um Mitternacht in der Wolfsschlucht: Was Max nicht ahnt - in Wahrheit will Kaspar Max opfern, damit sein Leben verlängert wird.
Wolfgang Staerk kennt die Geschichte in und auswendig, hat den "Freischütz" in der Komischen Oper schon 29-mal gesehen. "Damit bin ich durch", sagt er. "Den genieß ich nur noch." Doch selbst beim 30. Mal wirkt er wach, konzentriert, sitzt aufrecht da: Rechter Ellenbogen auf die Lehne gestützt, liegt sein Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand; sein Blick immer abwechselnd auf Bühne und Orchestergraben gerichtet.
Die Aussicht dorthin: fantastisch - vielleicht acht, neun Meter Luftlinie zu Markus Poschner, dem jungen Dirigenten, vielleicht fünfzehn bis zum Bühnenrand, auf dem jetzt ein trostlos-fröhliches Landvolk durch das Stück torkelt: Schönheiten in zu groß karierter oder zu klein geblümter Garderobe, traurige Kampftrinker, tumbe Eckensteher. Alte Weiber öffnen lüstern die Kittelschürze. Bierflaschenverschlüsse klicken, Frauen kreischen und Knallfrösche platzen. Während Kaspar in einem Verschlag hockt, die teuflischen Kugeln gießt.
Die Neuinszenierung der romantischen Oper: mutig, radikal. Anfangs beschäftigt das Staerk. Er ärgert sich über einzelne Szenen, amüsiert sich über andere. Beim dreißigsten Mal nicht mehr. In der Pause macht er sich nur eine kleine Notiz. Die Rolle des Ännchen ist heute neu besetzt.
"Die wunderbare Moitza Erdmann: schlanke Gestalt, absolutes Gehör, sehr helle, hohe Stimme. Die hat das Ännchen gesungen. Nun ist sie leider weg. Und nun, da hat man ein junge neue, Karen Rettinghaus, die also so der Typ ist. Na und da dachte ich mir, wie macht sie das, das hat sie sehr schön gemacht."
Pause: Wolfgang Staerk steht auf, streicht ein paar Falten aus seinem Jackett. Geht langsam, etwas gebückt Richtung Foyer - immer am Rand des vier Meter breiten Ganges, immer am Geländer entlang. Ab und zu nickt er dem einen oder anderen Besucher freundlich zu, vorbei an der Bar, entschuldigt er sich für einen Moment - nicht etwa, um sich ein Pils oder ein Glas Sekt zu gönnen. "Viel zu teuer", sagt er. Nein. Er will auf die Toilette, dann noch einmal kurz einen Blick auf den Besetzungsplan im Foyer werfen. Vorher begrüßt er noch schnell per Handschlag zwei Herren im dunklen Anzug: Uwe Bernd und Uwe Kusserow. Beide sind wie Staerk, Mitglieder im Förderkreis der Oper, kennen ihn schon lange. Beide gehen auch zwei-, dreimal hintereinander in dieselbe Vorstellung. 30-mal Webers "Freischütz" aber? Nein. Soweit geht ihre Liebe nicht.
"Wir finden, er verpasst auch Vieles. Wir gehen ins Deutsche Theater, in die Philharmonie. Wir haben das diskutiert, aber gut: Er braucht das glaube ich. Es gibt auch eine Dame hier, die macht ihm Konkurrenz, die ist auch fast jeden Abend hier. Ich find es auch toll. Besonders die Damen, die sind toll, die hier singen, aber jeden Abend?"
Zurück in Loge acht, wo Staerk - konfrontiert mit der Frage, ob er sich denn nie langweilt - keine Sekunde lang nachdenkt.
"Nein. Die eigene Stimmung ist natürlich unterschiedlich, es kommt also vor, dass man ein bisschen lustlos ist, sich nicht so wohl fühlt, aber das vergeht dann. Was rein Gesundheitliches: Ich neige ein bisschen zu niedrigem Blutdruck und hier ist man dann immer so ein bisschen angeregt, also hier fühle ich mich wohl."
Warum aber diese Dosis Komische Oper? Was ist das, was ihn jeden Abend hierher treibt? Immer derselbe Ort, derselbe Platz, an dem er fast mehr Zeit verbringt, als zu Hause, in seinem Wohnzimmer?
"Alles, die Musik, das Haus, die Menschen, die ich kenne, vor allen Dingen natürlich Mozart, Carl Maria von Weber. Die Tatsache, dass es jedes Mal ein bisschen anders ist. Und das kann man natürlich nur feststellen, wenn man öfter hierher geht. Was da alles auf der Bühne passiert und auch im Orchestergraben. Wenn man das einmal sieht, dann kriegt man das alles gar nicht mit. Mir tun immer die Leute leid, die einmal hierher gehen und dann haben sie alles schon verstanden - das stimmt gar nicht."
Drittes Bild: Max und Kaspar auf der Jagd. Staerks rechte Hand tippt leise im Takt der Musik auf die Brüstung, plötzlich hebt er sie an. genau wie in der nächsten Sekunde der Dirigent: Ein Einsatz, den er liebt, verinnerlicht hat, bei dem die Musik Regie über seine sonst so kontrollierten Bewegungen übernimmt.
Kurz vor dem Finale steht eine Horde bewaffneter Jäger auf der Bühne: alle mit Gehörschutz wie Waldarbeiter an der Kettensäge. Sie entsichern die Gewehre, das Publikum hält sich die Ohren zu, nicht Staerk. Er weiß längst, dass es erst nach dem zweiten Entsichern knallt - und wie. Staerk beißt sich vor Freude kurz auf die Finger. So sehr amüsiert ihn der gespielte Witz - immer noch, immer wieder. Und: Auch die Musik, der hauseigene und der Senff-Chor, gefällt ihm an der Stelle ganz besonders. Ja, sagt er, Weber, den hört er auch schon mal zu Hause. Auf CD. In seinem richtigen Wohnzimmer.
Das liegt in einem zweistöckigen 70er-Jahre-Flachbau im grünen Berliner Stadtteil Dahlem, mit Raufasertapete, Schrankwand und Spitzengardinen, Mozarts Flötenkonzert über dem Sofa, Sammeltassen und Stoffsets auf einem runden Tisch am Fenster. Auf demselben Tisch liegen auch ein großes italienisch-deutsches Wörterbuch, zwei Fernbedienungen, zwei Mozartbiografien. Daneben: eine Kaffeemaschine, durch die gerade frischer Kaffee läuft.
Wolfgang Staerk trägt leger: eine Breitcordhose, ein weißes Oberhemd, Puschen. Auf der Heizung im Wohnzimmer hängen drei Paar Wollsocken zum Trocknen. Staerk stellt jetzt die Musik leiser, mit der anderen Hand richtet er gleichzeitig einen Band seiner Opern-Enzyklopädie an den anderen elf aus. Da hat er gestern noch was nachgeschlagen, sagt er, vor dem Schlafengehen, denn Oper beschäftigt ihn, lässt ihn nicht los - nach der Vorstellung nicht, und auch nicht davor. Wolfgang Staerk erarbeitet sich Oper - Stück um Stück, holt sich beim Turandot noch einmal Schillers Drama aus dem Bücherschrank und liest es auch oder fährt in die Staatsbibliothek, leiht sich Eugen Onegin aus: Puschkins Roman in Versform, der der Oper als Vorlage dient. Genauso Prokofjews "Liebe zu den drei Orangen".
"Ich habe unendlich viel gelernt. Oper ist eine Welt, eine ganze Welt","
sagt der 80-Jährige. Erschlossen hat sich diese dem Liebhaber spät - erst, als er wirklich Zeit und Muße hat. Jahrgang 1926, verlässt er mit 17 die Schule, wird Luftwaffenhelfer, mit 19 muss er an die Front, gerät in Kriegsgefangenschaft, kehrt erst 1948 zurück in die Heimat, nach Erfurt. Dort macht er sein Abitur nach. Im Herbst 1949 dann geht er nach Berlin, studieren. Opernbesuche waren damals nicht drin, sagt er und lacht. Seine Eltern schicken ihn mit dem Fahrrad durch halb Berlin, um möglichst billig Brot und Zucker einzukaufen.
Staerk schenkt Kaffee nach, setzt sich dann in seinem großen Fernseh- und Lesesessel. Auf dessen Lehne liegt ein Bestseller aus dem Mozartjahr: Eric Emmanuel Schmitts "Mein Leben mit Mozart". "Bisschen oberflächlich", sagt der Kenner, "aber enthusiastisch". "Vor allem die Auswahl auf der CD steckt an.""Das fängt also an mit 'Figaros Hochzeit'. Die Arie der Gräfin. Dann so eine Kleinigkeit, die Arie der Barbarina.""
Plötzlich: wieder Stille. Für einen Augenblick wirkt Staerk abwesend. Kehrt in Gedanken noch einmal in seine Jugend zurück. Den Traum, selbst mal in einem virtuosen Orchester zu spielen, begräbt er früh, erzählt er. Mit zehn. "Mir fehlt die Begabung", sagt er nur und versucht ein Lächeln. Er wird Lehrer, unterrichtet Latein und Griechisch, fast dreißig Jahre lang. Geheiratet hat er nie. "Hat sich irgendwie nicht ergeben", sagt er. Kurz nach der Wende entdeckt er dann seine späte Liebe: die Oper.
"Dann wollt ich Ihnen zeigen, wo hab ich das mal schnell - so ein Kärtchen, wo ich mir Notizen mache."
Über seine Theater- und Opernbesuche - seit 1989.
"Da habe ich tatsächlich mal zusammengestellt, wie ging das eigentlich bei mir los. Und 1990 war ich eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Mal im Theater, davon nur fünf Mal in der Komischen Oper."
Richtig los geht es 1994.
"1995, dann bin ich bei 97. Dann werden die Listen immer länger und immer länger. Jetzt hab ich also kurz und gut rausgekriegt: Am Ende der Spielzeit 2005/2006 hab ich an 1733 Veranstaltungen der Komischen Oper teilgenommen. Nun schreibe ich das einfach fort. Das steht dann in meinem Notizbuch. Da wird also eingetragen. Am 1. Januar 1291 Opern, am Ende der Woche sind es 1294, jetzt bin ich bei 1296, komme also bald auf 1300."
Bevor die Spielzeit beginnt, malt sich Staerk jedes Mal mit Bleistift eine Tabelle auf eine DIN-A5 Karteikarte, listet darin sämtliche Opern im Spielplan auf: chronologisch geordnet nach der Uraufführung - von "Orest", 1739, bis "Pinocchio" 2001. Dahinter steht, wie oft er die jeweilige Inszenierung gesehen hat.
"Also 'Orest' habe ich siebenmal gesehen, 'Don Giovanni' habe ich 42-mal gesehen, 'La TraviataÄ 52-mal gesehen. Dann habe ich sämtliche frühere Produktionen. Seit wann und wie oft hab ich sie gesehen. Also, den Rekord bildet die 'Zauberflöte', 71-mal, 'Fidelio' 50-mal, 'Falstaff' 31-mal."
1300 Aufführungen - das ist natürlich Rekord. Auch wenn eine ältere Dame aus Frankfurt an der Oder ihm eine zeitlang ganz schön Konkurrenz macht. Bis sie krank wird, seit dem ist Staerk nicht mehr einzuholen. Rund 250 Euro gibt er im Monat für Eintrittskarten aus, rund zehn Prozent seiner Rente. "Da bleibt immer noch genug übrig", sagt er. Sogar soviel, dass er von seinem Ersparten auch schon mal für das Orchester spendet; Verwendungszweck: Instrumente, die Summe: fünfstellig.
So viel Liebe, so viel Geld - und immer nur für die Komische Oper? Warum nicht für ein anderes Haus? Staerk denkt nach, denkt zurück und nickt. Er glaubt, dass vor allem frühere Inszenierungen ihn so an das Haus binden.
"Es war der Geist von Felsenstein, dieses intensive Spiel. Felsenstein war wichtig: Oper ist kein kostümiertes Konzert, sondern ist Theater, Musiktheater - und das habe ich verwirklicht gesehen eben in der Komischen Oper."
Selbst größere, weltberühmte Häuser, so Staerk, kommen da oft nicht mit. Nicht mal die Semperoper in Dresden.
"Dresden, 'Don Carlos'. Akustisch besser, wir haben eine bisschen dumpfe Akustik. Dann kamen die Sänger, kommen beide auf die Bühne: einer dorthin, einer dahin und singen beide ins Publikum. Dann kommt Action, dann geht der eine da hin, und der geht dahin. Dann drehen sie sich wieder zum Publikum und singen. Das ist eben, wie Oper nicht sein darf."
Rezensionen lesen, ausschneiden, sammeln: Das alles hält den Pensionär fit. Der Spielplan bringt Abwechslung in sein Leben, strukturiert seine Tage. Bis in den Nachmittag verlaufen die ganz normal, sagt er: aufstehen, frühstücken, abwaschen, Blumen gießen. Dann die Vorbereitungen fürs Mittagessen. Einmal in der Woche kocht Staerk einen großen Topf Pellkartoffeln, dazu gibt es abwechselnd einmal Fisch, einmal Gemüse, einmal Fleisch. Danach ein Mittagsschläfchen.
"Um fünf gucke ich im ersten Programm die Tagesschau. Dann wird ausgemacht, meistens habe ich mich schon rasiert und umgezogen. Dann geht es so halb, dreiviertel sechs los."
Wie jetzt, zu Mozart: "Cosi fan tutte" - zum 22. Mal. Wolfgang Staerk hat sich umgezogen, trägt jetzt wieder grauen Flanell, darüber seinen blauen, langen Trenchcoat, den er ganz weit oben zuknotet - ein bisschen altmodisch, wie ein Lateinlehrer eben. Ganz zum Schluss greift er seinen kleinen, roten Stoffbeutel, da sind ein Regenschirm und seine Hörgeräte drin. Und geht zu Fuß zur S-Bahn. Heute ausnahmsweise drei Stunden früher als sonst. Es trifft sich noch der Orchesterstammtisch.
In der S-Bahn und in Gedanken schon wieder bei Mozart: der neuen "Zauberflöten"-Inszenierung. Hier kann er noch lange nicht abschalten, einfach nur genießen. Dafür stehen noch viel zu viele Fragen auf seinem Karteikärtchen.
"Wieso geht da der Vorhang da auf und wieder zu und die Beleuchtung wechselt, das weiß ich bis heute nicht. Papageno, wieso wird er geschlagen am Anfang? Die Bildnis-Arie, da heißt es, da sagt die Marie-Luise, da brauch ich ein romantisches Bild und dann zieht sie ein popeliges kleines Boot mit einem kleinen Segel rein. Das ist auch ein Witz. Oder das Hierarchische wird demontiert. Das ist im Grunde genommen die Konsequenz der abgeschlagenen Köpfe in Idomeneo. Es gibt keinen Gott. Selbstverständlich beschäftige ich mich oft den ganzen Tag oder immer wieder neu damit. Mit der Zauberflöte bin ich längst nicht fertig."
Rund 20 Minuten später: Haltestelle Unter den Linden, zwei Treppen rauf, vorbei an der russischen Botschaft, dem Gebäude der Aeroflot bis zur Ampel Ecke Glinkastraße.
"Hier zähle ich immer. 21, 22, 23, 24. Zisch, da ist grün. Da kann ich als erster loslaufen."
Komische Oper: 150 Meter, steht auf einem kleinen blauen Wegweiser. Ein paar Minuten später, im Foyer: Wolfgang Staerk steuert direkt auf die Garderobe zu. Vorne rechts, am Fenster, ist sein Haken, an dem er jeden Tag seinen Mantel aufhängt, den roten Beutel daneben. "Hängt der mal nicht da, macht man sich Sorgen", sagt eine Frau vom Förderkreis, die jetzt neben ihm steht.
Oben, im ersten Stock, ist es dunkel. Rund 80 Liebhaber des Hauses sind gekommen. Die meisten, wie Staerk, Pensionäre. "Viele sind nur hier, weil es Kaffee und Kuchen gibt", sagt er leise und grinst. In den Vorstellungen jedenfalls sieht er sie fast nie. Staerk dagegen kommt immer. Die Frau von eben nennt ihn ein "Faktotum". Sagt: Er gehört einfach dazu. Staerk winkt ab, würde jetzt gern zuhören, denn heute verspricht er sich vom Stammtisch eine kleine Sternstunde. Der neue Kapellmeister hat sich angekündigt, genauso ein weit gereister Trompeter. Bisher aber: nur Dunkel und Chaos.
"Ich gebe Ihnen hier einen Stuhl. So, ich weiß jetzt nicht, wo vorne ist. Aha, da kommen noch neue Stühle. Das ging ja heute mächtig durcheinander."
Dann geht es plötzlich Schlag auf Schlag.
"Meine Damen und Herren, ich möchte sie recht herzlich begrüßen."
Der Vorstand ist da. Hinter ihm steht ein großer, sympathischer junger Mann mit Locken.
"Da kommt Herr Poschner, das ist unser erster Kapellmeister."
Staerk sieht ihn als Erster - wie so oft abends, in seiner Loge. Poschner plaudert ein bisschen, übergibt dann an Matthias Kamps an der Trompete.
"Das geht dann so los. Man kann natürlich sehr viel lauter spielen auch."
Tut es und erklärt dann, warum laut nicht immer schön sein muss. Auf einem Tisch hinter ihm liegen allerlei exotische Instrumente. Muscheln aus Mittelamerika, Tierhörner aus Schweden. Als Staerk die sieht, greift er reflexartig in seine rechte Jackett-Tasche - höchste Zeit für die Hörgeräte.
"So, ich werde mich mal bewaffnen mit den Dingern."
Gerade rechtzeitig für Mozart, die Fanfare aus der Zauberflöte - ab und zu macht sich Staerk eine Notiz, die meiste Zeit aber sitzt er nur da und lächelt, genießt den Vortrag in vollen Zügen: die intime Atmosphäre, so nah am Künstler, an der Musik. Und alles: im Kreis der "Familie", in der er, zumindest am Applaus, immer zu erkennen ist. Egal, ob 80 Zuhörer im Foyer sitzen oder 800 im Zuschauerraum. Wie jetzt, nach noch einmal drei Stunden Mozart.
Der 80-Jährige sitzt immer noch aufrecht da: Erster Rang, Reihe eins, Platz Nummer drei. In Loge acht, sein zweites Wohnzimmer - wischt sich jetzt mit den Fingerspitzen unter dem Brillengestell die Augen. Gähnt - nur ganz kurz, steckt dann die Hörgeräte in seine Jackettasche und wirft einen Blick auf seine Uhr.
"Ich gestatte mir erst nach dem letzten Ton auf die Uhr zu gucken, dann guck ich und dann sage ich, wenn du dich beeilst, dann schaffst du noch die und die S-Bahn, oder sie ist weg, dann kannst du bis zuletzt klatschen."
Wie jetzt - so viel Zeit muss sein, für das Orchester, das ganze Ensemble, für Mozart und überhaupt: für die Oper.