Liebe gibt es gratis

20.05.2013
In Israel hat Dror Burstein längst einen Namen als Erzähler und Herausgeber. Vier renommierte Literaturpreise hat der 43 Jahre alte Schriftsteller für seine Bücher schon erhalten. Bursteins jüngster Roman ist eine Familiengeschichte, die sich um eine Adoption rankt: ein melancholisches Buch.
Ein jugendliches Paar gibt sein Baby zur Adoption frei. In der Windel steckt ein Zettel mit dem Namen, den das Kind von seinen Adoptiveltern erhalten soll: Emil. In fragmentarischen Rückblenden und Gegenwartsskizzen verschränkt Dror Burstein die Sehnsüchte, Zweifel, Schuldgefühle und Kränkungen von fünf Personen, die sich davor fürchten, Entscheidungen offen in Zweifel zu ziehen und zu revidieren.

"Ja, den nehmen wir, hatte Joel zu Lea gesagt. Sie entschieden sich für das Kind in weniger Zeit, als sie später brauchen würden, um sich für den Peugeot und die neue Wohnung im achten Stock zu entscheiden". Emil wurde im Jahr 1970 adoptiert. Seine Hautfarbe hat einen dunklen Schimmer. Der weißhäutige Joel färbte sich die Haare schwarz, um bei Fremden schnell aufkommende Zweifel an seiner Vaterschaft zu zerstreuen. Gerade mal fünf Jahre alt, zeichnete Emil ein Bild für "den richtigen".

Scham und Schmach sind Grundsäulen im Leben des zeugungsunfähigen Mannes Joel. Vielleicht galt dies auch für seine Frau, die bei einem vermutlich von ihr selbst provozierten Unfall starb. Der Roman spielt im Jahr 2008. Joel hat Krebs und will letzte Dinge regeln. Er macht Emils leibliche Eltern ausfindig, weil er die fixe Idee hat, sie als Erben für seine Wohnung einzusetzen. Das Paar soll darin leben und den Jungen "zurücknehmen".

Treibt Joel ein tiefes Gefühl väterlicher Fürsorge zu diesem offensiven Schritt oder ist die Eigentumsüberschreibung nur ein Schachzug, weil er fürchtet, Emil könne ihn nach seinem Tod all zu schnell vergessen? Emils biologische Eltern lehnen Joels Angebot kategorisch ab. Der fünfstimmige, in viele kurze Kapitel gefasste Roman kreist um die nicht zu beantwortende Frage, ob eine späte Familienzusammenführung sinnvoll ist. Der hebräische Originaltitel "Karov" stellt das Verwandtsein, das einander nah sein, heraus.

Knappgehaltene Fantasien
Burstein, der in Jerusalem und Tel Aviv Literaturwissenschaft lehrt und für seine Prosabücher schon bedeutende Preise erhalten hat, erzählt in betont schlichter Weise. Gespräche stehen neben Monologen, Rückblenden und Träumen. Manche sinnträchtige Episode umfasst gerade mal drei Sätze. Handlungen, deren Gemeinheit Emil erst retrospektiv erfasst, umreißt Burstein nur knapp. Was die Demütigungen auslösten, beschreibt er nicht. Er verlässt sich auf unser empathisches Vorstellungsvermögen.

Wie erratische Blöcke wirken acht Einschübe, die der Autor mit den immer gleichen Worten "Die Stadt" überschreibt. Er entwirft darin ein postapokalyptisches Zukunftsszenario, in dem die Kontinente zu einem einzigen "Klumpen" zusammengepresst sind und "Schwärme von Blauwalen" sich zwischen überfluteten Wolkenkratzern tummeln. Die knappgehaltenen Fantasien eines menschenlosen Lebens sind sinnfreie, traumhafte Unterbrechungen - Ausdruck des experimentellen Anspruchs, den Burstein offenkundig vertritt.

"Emil" ist ein melancholisches, mit mehreren Kinderzeichnungen versehenes Buch. Dror Burstein beschließt es mit dem kopierten Abdruck einer Rechnung in Kinderschrift. Aufgelistet wird der Konsum von einem Glas Wasser und noch einem. Kosten: Null + Null Schekel. Wasser gibt es gratis. Liebe im Prinzip auch. Man kann das Ende dieses stilistisch ambitionierten und anrührenden Romans lesen als Hinweis darauf, dass Emil, früher als man dachte, quitt war mit den Seinen.

Besprochen von Sigrid Brinkmann

Dror Burstein: Emil
Aus dem Hebräischen von Liliane Meilinger
Wallstein Verlag, Göttingen März 2013
240 Seiten, 19,90 Euro