Liebe Erstklässler, keine Bange!

Hilmar Schneider im Gespräch mit Hanns Ostermann · 21.08.2012
Im Unterricht und im Studium bräuchten junge Menschen Zeit, sich selbst zu entdecken. Nur dann seien sie den immer verantwortungsvolleren Aufgaben in der Berufswelt später auch gewachsen, sagt Hilmar Schneider vom Institut zur Zukunft der Arbeit in Bonn.
Hanns Ostermann: Glauben Sie, dass es Ihre Kinder einmal besser haben werden als Sie? Falls Sie mit Nein antworten, gehören Sie zur absoluten Mehrheit. 87 Prozent der Eltern, so eine Studie, sorgen sich um die Zukunft ihrer Zöglinge – vielleicht gerade auch jetzt in Nordrhein-Westfalen am letzten Ferientag, morgen beginnt dort wieder der Ernst des Lebens. Entspannt euch, meint dagegen ein Mann, der es wissen muss: Hilmar Schneider ist Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit. Guten Morgen, Herr Schneider!

Hilmar Schneider: Guten Morgen, Herr Ostermann!

Ostermann: Was macht Sie so sicher, dass den heutigen Schulanfängern alle Türen offenstehen werden?

Schneider: Ja, weil der demografische Wandel dafür sorgen wird, dass die Chancen für Arbeitnehmer so gut sein werden, wie sie lange nicht mehr waren. Viele Menschen haben wahrscheinlich noch nicht wirklich begriffen, was da auf uns zukommt. Wir werden bis zum Jahr 2050 etwa ein Drittel der heutigen Erwerbsbevölkerung verlieren, also das sind ungefähr zwölf Millionen Menschen weniger, die für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, und das wird die Verhältnisse in Deutschland in einer Weise umkrempeln, die sich heute natürlich noch niemand vorstellen kann.

Wir messen immer die Zukunft an den Erfahrungen der Vergangenheit, und da gibt es ja kein Vorbild für, und deswegen reden wahrscheinlich zu Unrecht viele Eltern ihren Kindern ein, dass die Zukunft nicht so rosig ist, obwohl es überhaupt keinen Grund dafür gibt.

Ostermann: Wie kommen die Eltern zu ihrer pessimistischen Haltung?

Schneider: Es ist halt menschlich, dass man die Erfahrung der Vergangenheit heranzieht, um dann Aussagen über die Zukunft zu treffen, und das ist genau das, was im Augenblick halt ein bisschen in die Irre läuft.

Ostermann: Aber in Ihrer Rechnung für die 2020er-Jahre gibt es doch mindestens eine Unbekannte, nämlich die Konjunktur. Woher wollen Sie wissen, ob die brummt oder weiter schwächelt?

Schneider: Die Konjunktur ist da eine relativ vernachlässigbare Größe, denn ein konjunkturelles Auf und Ab wird es immer geben, und darüber kann ich auch nichts sagen. Es gibt niemanden, der eine vernünftige Konjunkturvoraussage für mehr als zwei oder drei Jahre machen kann. Was hier zugrunde liegt, ist eine Trendaussage, die können wir relativ verlässlich durchführen.

Es kann natürlich sein, dass im Jahr 2024, wenn die heutigen Erstklässler als Abiturienten auf den Markt kommen, dass da gerade eine Rezession ist, aber unabhängig davon werden trotzdem die Knappheitsverhältnisse sich so geändert haben, dass auch dann noch die Chancen sehr gut sein werden. Und ein konjunkturelles Ab, also eine Rezession, ist ohnehin in zwei Jahren spätestens vorbei, also das ist dann nicht entscheidend, sondern entscheidend ist, was sich an generellen Trends abspielt, und das ist wirklich etwas, was uns zu denken geben sollte.

Ostermann: Wie sieht die Arbeitswelt in zwölf Jahren aus, worin wird sie sich wesentlich von der heutigen unterscheiden?

Schneider: Sie wird sich nicht dramatisch von der heutigen Arbeitswelt unterscheiden, aber es gibt einen Megatrend, den ich mal bezeichnen möchte als Verlagerung unternehmerischer Risiken auf Arbeitnehmer. Das ist das, wo viele heute auch schon spüren, dass das bedeutet, sie kriegen plötzlich Verantwortung zugeschoben, die sie in dieser Form bis dahin nicht gewohnt waren. Wir werden alle in gewisser Weise kleine Projektleiter. Das sind mal kleinere Aufgaben, mal größere Aufgaben, aber plötzlich sind Arbeitnehmer mit unternehmerischer Verantwortung konfrontiert, und das macht der heutigen Generation von Arbeitnehmern sehr zu schaffen. Ich vermute mal, dass die jungen Leute, die in zehn oder 15 Jahren auf den Arbeitsmarkt kommen, da schon sehr viel besser mit umgehen können, weil wir im Augenblick mitten in einem Prozess sind, wo wir anfangen, uns damit auseinanderzusetzen und Strategien zu entwickeln, wie wir damit umgehen können.

Das bedeutet also insbesondere Stärkung von Selbstverantwortung. Unternehmerische Verantwortung, die ich da übertragen bekomme, bedeutet, dass ich damit nur dann gut umgehen kann, wenn ich für mich selbst auch Verantwortung übernehmen kann. Und das bedeutet, ich brauche so was wie ein gutes Körpergefühl. Ich muss wissen, wann die Belastung zu groß wird, damit ich meinem Umfeld signalisieren kann, jetzt ist gut. Wenn ich das nicht kann, wenn ich das nie gelernt habe, dann laufe ich Gefahr, überrollt zu werden. Und das ist der Grund dafür, warum wir heute viele Burn-out-Fälle haben und das Phänomen auch immer weiter zunimmt. Das ist ein Zeichen für einen Umbruch, und die junge Generation wird lernen, damit umzugehen.

Ostermann: Sie sagen den Eltern, entspannt euch, aber sind die Schulen auf das künftige Anforderungsprofil, dass Sie da eben beschrieben haben, sind die Schulen eigentlich vorbereitet?

Schneider: Nicht wirklich. Also auch da wird sich ein Umdenken durchsetzen müssen. Es gibt zum Teil – in den Berufsschulen beobachte ich das – ganz interessante Entwicklungen, dass man also so was wie selbstorganisiertes Lernen im Berufsschulunterricht umsetzt. Das bedeutet, dass junge Leute schon sehr früh lernen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Das sind sehr erfolgversprechende Ansätze, das ist aber noch sehr sporadisch in den Schulen verbreitet, das kann sehr viel stärker werden und muss auch sehr viel stärker werden. Was mir größere Sorgen bereitet, ist, dass an den Universitäten durch diesen Bologna-Prozess und das Bachelor-/Master-Studium eine sehr starke Verschulung in den Universitäten eingetreten ist. Und das ist etwas, was diametral gegen das läuft, was im Arbeitsleben gebraucht wird.

Ostermann: Da haben Sie die Universitäten angesprochen, ich möchte noch mal an die Schulanfänger denken: Bildungsforscher fordern vor allem Kreativität.

Schneider: Genau.

Ostermann: Die Realität in der Schule ist doch derzeit vielfach eine andere, auch vor dem Hintergrund, nach zwölf Jahren das Abitur zu machen, da gehen Fächer und Arbeitsgemeinschaften in Musik, Kunst, Theater den Bach runter.

Schneider: Ja, also überall da, wo der Druck so erhöht wird, dass ich eigentlich gar keine Zeit mehr habe, mich selbst zu entdecken, meine Stärken kennenzulernen und so, überall da läuft was schief. Wir brauchen Phasen, wo junge Menschen sich selbst ausprobieren können, wo sie etwas auch mal selber in die Hand, eigenverantwortlich in die Hand nehmen. Und wenn das kaputt gemacht wird – ich würde nicht behaupten, dass das in den Schulen generell der Fall ist, aber diese Verkürzung der Schulzeit ist in der Tat etwas, was an der Stelle wahrscheinlich nicht unbedingt die Dinge begünstigt. Man kann den Stoff sicherlich auch in einer verkürzten Schulzeit lernen, aber das erfordert, dass vom Lehrplan her, dass dann auch entsprechend so getacktet wird, dass immer noch Zeit für die Entwicklung der Persönlichkeit bleibt. Das wird leider zu oft vergessen.

Ostermann: Wann haben Sie Ihren nächsten Termin bei einem Bildungsminister?

Schneider: Ich habe im Augenblick gar keinen Bildungsministertermin, aber das Thema Bologna und Universitäten ist eigentlich ein Dauerbrenner. Wir haben das, glaube ich, noch gar nicht so richtig erkannt. Wir sind in Deutschland ja sehr stark, was die Vermittlung von fachlichen Qualifikationen anbelangt, und das ist auch etwas, was in der Zukunft wichtig bleiben wird, aber was wir noch nicht so richtig begriffen haben, ist, dass neben diesen fachlichen Qualifikationen die mentalen, persönlichen Stärken immer wichtiger werden, und darüber haben wir uns zu wenig Gedanken gemacht bis jetzt. Und das ist das, wo es unbedingt was zu tun gibt in der Zukunft.

Ostermann: Hilmar Schneider war das, Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit. Herr Schneider, danke für das Gespräch!

Schneider: Danke Ihnen, Herr Ostermann!


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