Libyens Übergangsrat hat "Legitimationsproblem"

Wolfram Lacher im Gespräch mit Christopher Ricken · 10.01.2012
Weil ihn die revolutionären Brigaden in Libyen als "Altherrenverein" ansähen, der sich selbst ernannt habe, sei die Handlungsfähigkeit des Übergangsrates stark eingeschränkt, sagt Wolfram Lacher von Stiftung Wissenschaft und Politik.
Christopher Ricke: Algerien, Libyen, Tunesien – die Nordafrikareise des deutschen Außenministers hat in den letzten Tagen durch drei Staaten geführt, deren Demokratisierung ganz unterschiedlich verläuft: Tunesien vergleichsweise stabil, in Algerien die alten Eliten noch im Amt, und in Libyen, hier hat der Westen mitgekämpft, hier hat sich Deutschland rausgehalten, hier wollen jetzt viele Geld verdienen mit Gas und Öl. Ich spreche jetzt mit Wolfram Lacher, Libyen ist sein Thema in der Forschungsgruppe Naher und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Morgen, Herr Lacher!

Wolfram Lacher: Guten Morgen!

Ricke: Auf der Landkarte ist Libyen ja ein Staat. Aber wie viel Staat und staatliche Strukturen sind in Libyen selbst zu finden?

Lacher: Na ja, momentan sind die Institutionen des alten Regimes natürlich fast völlig zusammengebrochen. Das heißt, die alte Ordnung ist weg, die neue Ordnung muss erst aufgebaut werden. Und in dieser Situation, wo es keine wirklichen nationalen Institutionen mehr gibt, sind lokale Machtzentren entstanden in Form von lokalen Räten, lokalen Militärräten, lokalen Brigaden, Milizen, die tatsächlich das Sagen haben.

Ricke: Die revolutionären Kräfte, auch diese lokalen Kräfte, standen ja gemeinsam gegen Gaddafi. Doch so ein gemeinsames Dagegen reicht ja nicht für einen gemeinsamen Neuanfang. Wie zersplittert sind denn diese Kräfte?

Lacher: Die sind vor allem auf der Basis von einzelnen Städten oder Stämmen, auch Stadtvierteln organisiert und sind gegenüber ihrer jeweiligen Stadt oder ihrem jeweiligen Stamm loyal. Mehr, als sie jetzt gegenüber oder unter der Kontrolle des nationalen Übergangsrates oder der Übergangsregierung stehen würden. Das heißt, wir haben es tatsächlich mit Rivalitäten zwischen lokalen Akteuren zu tun, die jetzt das politische Geschehen weitgehend bestimmen.

Ricke: Aber es gibt dennoch so eine überwölbende Ebene, diesen Übergangsrat? Hat der denn wirklich auch Durchgriffsmöglichkeiten?

Lacher: Also, seine Handlungsmöglichkeiten sind natürlich sehr stark eingeschränkt aufgrund dieser zahlreichen lokalen Akteure, lokalen Machtzentren. Aber auch, weil die Verwaltung durch die Revolution sehr stark erschüttert wurde, um nicht zu sagen, weitgehend lahmgelegt wurde. Und hinzu kommt, dass der Übergangsrat ein Legitimitätsproblem hat, denn er wird von vielen, unter anderem auch von den revolutionären Brigaden, als ein Altherrenverein angesehen, der sich selbst ernannt hat, der nicht transparent agiert und der niemandem gegenüber Rechenschaft ablegt.

Das heißt, die revolutionären Brigaden und andere revolutionäre Aktivisten hegen großes Misstrauen gegen den Rat, in dem ja auch keine Vertreter der revolutionären Brigaden sitzen, obgleich diese Kluft zwischen Übergangsrat und Revolutionären sich durch die Ernennung der Regierung im November, in der einige Vertreter der revolutionären Kräfte sitzen, etwas verringert hat.

Ricke: Übergangsrat, Revolutionäre, regionale Strukturen, Stämme, Familien ... Was eint denn die Libyer, gibt es eine gemeinsame Ebene, auf der man aufbauen kann, und sei es die Religion?

Lacher: Also, ich glaube, dass es einen großen Konsens gibt, darüber, dass jetzt ein Übergangsprozess hin zu Wahlen, der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung stattfinden soll. Und da gibt es auch vonseiten der revolutionären Brigaden, vonseiten des Übergangsrates einen großen Konsens. Natürlich tauchen aber gleichzeitig auch Streitfragen auf wie beispielsweise, welche Rolle Funktionäre oder Vertreter des alten Regimes haben können in diesem Übergangsprozess. Oder auch Streitpunkte, die eben das politische Gewicht einzelner Städte im Übergangsprozess und in der Generalversammlung, die im Juni gewählt werden soll, haben können, haben sollen.

Ricke: Jetzt hat Europa natürlich ein sehr großes Interesse daran, dass auf der anderen Seite des Mittelmeers ein Staat entsteht, der den Namen auch verdient, möglichst ein demokratischer, möglichst ein friedlicher. Was sind denn die Aufgaben der Europäer in diesem Prozess?

Lacher: Also, ich denke, dass die Europäer beim Verwaltungsaufbau beispielsweise oder in anderen Bereichen beratend zur Seite stehen können, ihre Expertise bereitstellen können oder auch zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützen können. Sie können auch die UN-Mission in Libyen unterstützen, die ja eine wichtige beratende Rolle beim Wahlprozess etwa oder bei der Entwaffnung und Demobilisierung der bewaffneten Gruppen, der Brigaden, der revolutionären Brigaden spielen soll.

Vor allem aber ist es wichtig und richtig, dass es sich bei der externen Rolle eben um eine beratende Funktion handelt und die volle Verantwortung bei den Libyern liegt. Und das ist momentan der Fall.

Ricke: Erkennen Sie innerhalb der EU Interessenskonflikte? Also, wenn ich zum Beispiel auf die Briten, die Franzosen, Italiener und die Deutschen schaue, so agieren die doch durchaus unterschiedlich?

Lacher: Natürlich befindet man sich da in einem Konkurrenzverhältnis, denn man hat natürlich auch wirtschaftliche Interessen und konkurriert daher, um die möglichst privilegierte Beziehung mit der neuen Regierung zu unterhalten. Das könnte auch potenziell dazu führen, dass sich einzelne Staaten mit unterschiedlichen Akteuren also dieser doch recht gespaltenen neuen Regierung oder neuen Elite unterstützen, und das könnte natürlich Probleme hervorrufen. Aber momentan sehe ich das nicht.

Ricke: Wolfram Lacher von der Forschungsgruppe Naher und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik, vielen Dank, Herr Lacher!

Lacher: Danke auch!

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