Libyen

Von Milizen und Munitionsresten

Von Peter Steffe |
Hischam heißt der junge Mann, der sich 2011 die Insignien der Macht Muammar al-Gaddafis sicherte: Militärmütze, Zepter, Goldkette. Zwei Jahre später erzählt er, warum Libyen bis heute ein gespaltenes Land ist. Auch die Sicherheitslage bleibt schwierig.
Ein Szenelokal mitten in Tripolis. Im Hintergrund läuft leise Jazzmusik. Die Gäste sitzen auf modernen Ledersesseln, tippen auf ihren Tablet-Computern oder Smartphones herum, trinken Latte Macchiato. Hier trifft sich die Jugend des Landes. Junge Leute, die an das neue Libyen glauben. Einer von ihnen: Hisham Alwindi.
Niemand in dem Café beachtet den 26-Jährigen. Dabei ist er wohl einer der berühmtesten Libyer. Zusammen mit anderen Revolutionären hat er im August 2011, nach zuvor blutigen Kämpfen, die Militär-Basis von Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi im Zentrum der Hauptstadt gestürmt. Als Erster stand er damals in den Privaträumen des libyschen Diktators:
"Es war Gottes Wille, als erster dort zu sein. Das Betreten des Hauses war für mich ein Traum. Ich bin da rein gegangen und habe mich dort umgeschaut und mich auf seinen Stuhl gesetzt. Ich habe alles erkundet in dem Haus, sogar die unterirdischen Gänge, dann habe ich die Militärmütze, das Zepter und die Kette gefunden. Danach bin ich zu den andern rausgegangen und habe gesagt, schaut mal, hier ist das Symbol vom Muammar al-Gaddafi, König der afrikanischen Könige, es war ein unbeschreibliches Gefühl."
Das Bild ging um die Welt: ein junger Mann in olivgrünem T-Shirt und Kampfhose, der vor Gaddafis Privathaus steht. Auf dem Kopf die Militärmütze des Diktators, um den Hals die Goldkette, in der Hand das Zepter Gaddafis.
Die Kriegsreporterin Alex Crawford schrieb ein Buch über die libysche Revolution, mit dem Titel "Gaddafis Mütze“. Auf dem Cover ist Hisham Alwindi zu sehen, mit Gaddafis Insignien der Macht. Der Aufstand gegen den Despoten von Libyen hat so ein Gesicht bekommen. Wie viele Interviews Hisham damals nach dem Sturz des Regimes gegeben hat weiß er nicht mehr:
"Besonders nach der Befreiung, oh je, das waren viele Anfragen, viele Interviews, ich glaube eine Zeit lang drei oder vier pro Tag. Dann wurde es mir zu viel und ich habe nein gesagt. Heute gibt’s nur noch vereinzelt mal Fragen nach damals, ich rede viel lieber über das neue Libyen, nicht mehr über den Krieg."
Heute trägt Hisham kariertes Hemd und Lederjacke. Aber Militärmütze, Goldkette und Zepter sind immer noch in seinem Besitz. Verwahrt an einem sicheren Ort. Nur er und sein Vater, wissen wo, sagt der 26-Jährige:
"Ich wollte die Mütze meinem Vater schenken, quasi als Symbol der Revolution, hab mich dann aber anders entschieden. Ich werde alle diese drei Sachen dem Nationalmuseum geben, später. Es kamen immer Leute zu mir und wollten mich fotografieren. Ich habe die Sachen in Sicherheit gebracht, dort bleiben sie, bis ich sie übergebe."
Gaddafi beobachtet eine Militärparade auf dem Grünen Platz in Tripolis hinter kugelsicherem Glas
Hier trug Gaddafi seine Militärmütze noch selbst zur Schau.© AP
Das werde aber erst dann geschehen, wenn Libyen sicher und innenpolitisch stabil ist, erklärt er. Doch davon sei das Land noch sehr weit entfernt. Dies brauche Zeit, sagt Hisham. Zeit, die Libyen und seine Bevölkerung eigentlich nicht hat. Statt Versöhnung gebe es eine tiefe Spaltung innerhalb der Gesellschaft, die bislang nicht überwunden werden konnte, erklärt Hisham Alwindi, der inzwischen als Dozent an der Universität Tripolis arbeitet.
"Damals hatten alle politischen Kräfte Libyens ein gemeinsames Ziel: den Sturz des Regimes, was gelang, Gaddafi ist gefallen. Aber leider hat der gewählte Nationalkongress nicht darauf hingewirkt, dass es einen Rahmen gibt, der alle politischen Richtungen mit unterschiedlichen Ideologien vereint und das Blutvergießen in Libyen verbietet. Wir waren am Anfang sehr zuversichtlich und verträumt.
Zu bedauern ist, dass die Revolution in Libyen nicht überall im Land und bei den verschiedenen Volksgruppen richtig verstanden worden ist. Denn es gab Stämme, die für und Stämme, die gegen die Revolution waren. Die Folge ist die gesellschaftliche Spaltung und die Uneinigkeit. Die Gründung von Parteien ohne klares Gesetz und Ordnung brachte uns weiteres Chaos."
Dieses Chaos ist in Libyen allgegenwärtig: ein Nationalkongress, der im Juli vergangenen Jahres gewählt wurde, aber bislang keine Richtlinien setzen konnte, um der Übergangsphase geordnete Strukturen zu verleihen. Eine Übergangsregierung, die überwiegend mit Politikern besetzt ist, die während der Revolution außer Landes im Exil waren. Auch Premierminister Ali Zeidan zählt dazu. Und Sicherheitsstrukturen, Polizei und Militär, die immer noch im Aufbau sind.
Das Chaos, wie Hisham Alwindi es beschreibt, wurde von den zahlreichen Milizen und deren Kommandeuren genutzt. Sie wussten das entstandene Machtvakuum auszufüllen. Tripolis und andere Städte des Landes wurden von diesen ehemaligen Rebellenkampfgruppen kontrolliert - und werden es teilweise noch heute. Der Versuch, die Milizen zu entwaffnen scheiterte bislang. Erst der Tod von knapp 50 Demonstranten und vielen Verletzten Anfang November in der libyschen Hauptstadt führte dazu, dass sich unter dem Protest der Bevölkerung einige der Milizen zurückzogen. An ihre Stelle rückten erste Armeeeinheiten in Tripolis ein.
Militärpräsenz an wichtigen Verkehrsknotenpunkten
Ihre Aufgabe: Präsenz zu zeigen und an wichtigen Verkehrsknotenpunkten gemeinsam mit der Polizei stichprobenartige Kontrollen vorzunehmen. Wie hier, an einem frühen Dezembernachmittag, an einer der vielen Einfallstraßen, die nach Tripolis führen. Nach einer kurzen, aber freundlichen Begrüßung, will der Soldat, der den Wagen gestoppt hat von dem Fahrer die Ausweispapiere sehen. Während einer kontrolliert, sichert ein anderer Soldat die Kontrolle ab. Die Kalaschnikow-Maschinenpistole schussbereit in den Händen.
Nach der Überprüfung des Fahrzeugscheins und einer knappen Bemerkung, dass alles in Ordnung sei, erhält der Autofahrer seine Papiere zurück und kann weiter fahren. Fadhayad bin Nur ist Chef an diesem Kontrollpunkt, er beobachtet seine Männer, greift nur selten ein. Der 51-Jährige gehört mit seiner Kontrolltruppe der libyschen Armee Infanterieeinheit 155 an, die nach dem Abzug der Milizen Mitte November in die Hauptstadt eingerückt ist. Unser Befehl lautet die Stadt zu schützen, erklärt er. Derzeit sei alles ruhig, aber man wisse ja nie:
"Wir wissen, dass der Großteil der Milizen abgezogen ist aus der Stadt, jetzt sind wir als Militärs vor Ort, um gemeinsam mit der Polizei für Ordnung zu sorgen. Sollten sich tatsächlich noch einige Revolutionseinheiten hier in der Stadt oder in den Außenbezirken aufhalten, ist das nicht unsere Sache, darum muss sich die Regierung kümmern. Unsere Aufgabe ist es Präsenz zu zeigen, mehr nicht."
Unterdessen wird ein weiteres Fahrzeug angehalten, mit abgedunkelten Scheiben, tiefer gelegt. Drin sitzt ein junger Libyer, schätzungsweise Anfang 20. Besonders begeistert ist er nicht von der Kontrolle, lässt sie aber über sich ergehen. Was bleibt ihm auch anderes übrig. Mit einem gequälten Lächeln meint er danach nur.
"Ich bin zufrieden und glücklich, dass es hier in der Stadt solche Kontrollpunkte gibt, dass es in meinem Land ruhiger und vor allem friedlicher wird. Manchmal muss ich nur meine Papiere zeigen, aber sie haben auch schon den ganzen Wagen auf den Kopf gestellt."
Diesmal wurde sein Wagen nicht komplett durchsucht, dafür muss er jedoch innen an der Frontscheibe einen dunklen Klebestreifen entfernen, eine Art Sonnenblende, die rund die Hälfte der Frontscheiben verdunkelt hat. Äußerlich scheinbar gelassen zieht er die Folie ab, knüllt sie zusammen und reicht sie einem der Soldaten. "Auf solche Autos achten wir besonders, weil wir nicht wissen, wer sich in dem Wagen befindet", erklärt Kommandant Fadhayad bin Nur.
"Obwohl viele Milizen, mit ihren schweren Waffen inzwischen aus Tripolis abgezogen sind, gibt es noch immer genügen Libyer, die Schusswaffen haben. Das ist das eigentliche Problem. Erst wenn die Leute alle ihre Waffen abgegeben haben, erst dann ist die Stadt völlig sicher."
Schusswaffen in Händen von Zivilisten, Munition und Blindgänger - alles Überreste des Aufstandes gegen Gaddafi. Während der Revolte 2011 gegen den Ex-Machthaber war Libyen Schauplatz heftigster Gefechte. Einer der Brennpunkte war Misrata, rund 150 Kilometer östlich der Hauptstadt. Mehrere Wochen lang wurde erbittert um das Handels- und Wirtschaftzentrum gekämpft, von Regierungstruppen belagert und unter Dauerfeuer genommen. Die Verluste waren groß. Aber die von Rebellen gehaltene die Stadt fiel nicht.
Die Folgen der Gefechte: Unmengen von Munitionsresten und Blindgängern. Bereits Ende vergangenen Jahres hat in der Umgebung von Misrata das Beseitigen der Überreste des Krieges begonnen. Das ist die Aufgabe von Handicap Internationale. Die Sprengstoffexperten der weltweit in Krisengebieten operierenden Hilfsorganisation versuchen den Kriegsschrott unschädlich zu machen. Das Größte Projekt: das Bergen von Bomben, Granaten und Minen aus ehemaligen Munitionsbunkern des Gaddafi-Regimes auf einem Militärareal bei Misrata. Auf dem 43 Hektar großen Gelände, unmittelbar neben dem Militärflughafen, hatte Libyens Langzeitherrscher oberirdisch über 40 Munitionsbunker anlegen lassen, die mit allem vollgestopft waren, was der internationale Waffenmarkt hergab. Raketen, Sprengköpfe, Granaten, Bomben, Minen und jede Menge Munition für Schusswaffen.
Bei dem Bombardement der Nato während der Revolutionstage 2011 wurden zwar große Teile der Waffendepots zerstört, Tonnen von Munition flogen so in die Luft, die Überreste verteilten sich allerdings in der Umgebung. Bis heute konnte Paul McCoullough, britischer Ex-Soldat und Bergungsleiter, zusammen mit seinen Mitarbeitern nur 15 der insgesamt 43 Bunker ausräumen und nicht detonierte Munition zerstören:
"Nach der Erfahrung, 15 Bunker ausgeräumt zu haben, fehlen uns nur noch 18 Monate um dort alles zu beseitigen. Wenn wir im Januar dort weiter machen sind wir Mitte 2015 fertig und haben alle Waffen entfernt und zerstört."
In ganz Libyen gibt es nach internationalen Schätzungen um die 400 Waffenlager. Das Munitionsdepot bei Misrata dürfte eines der kleineren sein. Aber alleine dort ist die Menge der angehäuften Waffen gigantisch, so Bergungsleiter McCoullough:
"Aus den 15 Bunkern haben wir über 50.000 Stück Munition rausgeholt. Wenn wir jedes einzelne Projektil für Maschinengewehre dazu zählen liegen wir bei über 12 Millionen. Mit dem Zeug könnte gehandelt werden. Wenn wir nur die 50.000 Stück Munition mit 400 multiplizieren, haben wir gerade einmal die Hälfte des Problems in Libyen erfasst. Der Misrata-Komplex, der von der Nato angegriffen wurde, hat nur 43 Bunker. Andere Munitionsdepots weit über hundert. Für Handicap International ist es ein Besorgnis erregendes Problem."
Libysche Regierung überfordert mit Munitionsresten und Blindgängern
Die libysche Regierung von Premierminister Ali Zeidan ist derzeit nicht in der Lage, sich konsequent um solche Probleme finanziell selbst zu kümmern. Sie steht vor anderen Herausforderungen, die möglicherweise mitentscheidend sind, wie der weitere Weg des Landes aussieht. Rund drei Millionen Euro wären nötig, um die Projekte von Handicap International in Libyen weiter zu finanzieren. Doch nachdem bereits im März in Tripolis die Betreuung von Verletzten durch Schusswunden eingestellt werden musste, steht jetzt auch das Räumen von Munitionsbunkern und die Zerstörung der gefährlichen Waffen vor dem Aus. Paul McCoullough und sein Team müssen die Arbeit vorläufig einstellen. Auf unabsehbare Zeit:
"Wir wurden bislang vom deutschen Außenministerium finanziert, die Niederlande waren Co-Sponsor. Die deutsche Unterstützung läuft Ende 2013 aus. Daher sind wir gezwungen, unsere Arbeit dort erst mal ruhen zu lassen, bis wir einen neuen Geldgeber für das außerordentlich wichtige Projekt gefunden haben."
Verzögert sich das Finden von Geldgebern weiter, verschiebt sich auch das Fortsetzen der Arbeiten. Mit unabsehbaren Folgen für die Bevölkerung, vor allem für Kinder, die Munitionsreste oder Blindgänger aufheben und das mit ihrem Leben bezahlen. Ein weiterer Aspekt ist der Handel mit Munition, erklärt Catty Smith, Missionsleiterin von Handicap International in Tripolis:
"Jede Nation, die Geld gibt, ist natürlich alarmiert, was den Handel mit Munition und Waffen angeht. Man will damit die Leute daran hindern, dass sie die Munitionsdepots plündern. Erst vergangene Wochen sind in Süd-Libyen über 40 Menschen bei einer Explosion in einem ehemaligen Gaddafi-Waffenlager ums Leben gekommen. Wir wissen nicht, ob Leute dort nach Altmetall gesucht haben, um damit Geld zu machen oder hinter den Waffen her waren. In den kommenden Wochen werden wir uns ein Bild verschaffen, dort, wo es für uns sicher ist, ob wir neben dem Misrata-Waffenlager ein zweites Projekt parallel beginnen."
Ein ambitioniertes Vorhaben, gibt die Operation-Managerin zu. Vor allem, wenn dafür Geldgeber fehlen. Die Arbeit ist gewaltig. Die Minenfelder von ehemaligen Gaddafi-Truppen bei Misrata und in anderen Gebieten, wo gekämpft wurde, nicht mit eingerechnet. Dennoch gibt es einen Hoffnungsschimmer, so die Handicap-Mission-Chefin für Libyen:
"Wir haben den stellvertretenden Botschafter Deutschlands in Libyen und vier seiner Kollegen vom deutschen Außenministerium in Misrata gehabt. Sie haben sich dort unsere Arbeit angesehen und waren sehr beeindruckt. Sie haben versprochen, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, damit die finanzielle Unterstützung weiter geht. Wir sind hoffnungsvoll, die Gespräche gehen weiter. Was man uns zu verstehen gegeben hat war, dass es derzeit kein genehmigtes Budget dafür in Deutschland gibt. Wir sind aber zuversichtlich, dass möglicherweise Deutschland für das zweite Halbjahr uns erneut unterstützt, damit wir unsere Arbeit in Misrata beenden können."
Dennoch dürfte es Jahre dauern, bis die militärischen Überreste des Aufstandes gegen Gaddafi beseitigt sind. Auch der Aufbau eines neuen Libyen wird sehr viel Zeit und Anstrengungen den Menschen abverlangen. Nach dem Ende der Revolte im Herbst 2011 sagte ein Politiker des damaligen Nationalen Übergangsrates, dass es 20 Jahre dauern werde, bis aus Libyen ein stabiler, demokratischer Staat mit einer funktionierenden Infrastruktur geworden ist. Die Kosten dafür: rund 200 Milliarden Dollar.
Fragt man Hisham Alwindi, den Mann mit Gaddafis Militärmütze, wie die Zukunft seines Landes aussieht, zuckt er mit den Schultern. Es wird darauf ankommen, ob die Libyer künftig an einem Strang ziehen, sagt er. Das gemeinsame Ziel haben, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Für den 26-Jährigen ist Versöhnung der Schlüssel dazu:
"Ich denke, es wird darauf ankommen, dass sich alle schnell beruhigen, miteinander reden und versuchen zusammen die Probleme des Landes zu lösen. Eine Einheit hinzubekommen und vor allem Versöhnung. Wenn wir das schaffen können wir Libyen in weniger als 20 Jahren aufbauen. Wenn wir auf dem jetzigen Weg bleiben, wird es nie gelingen."
Schon die kommenden Monate können entscheidend sein für die Zukunft des Landes. Wenn es gelingt im Februar eine Verfassungskommission zu bilden, die ein neues Grundgesetz schreibt, wäre ein struktureller Anfang gemacht. Rund drei Jahre nach Beginn der Revolution. Es wäre nur ein erster Schritt, auf einem noch sehr langen Weg.
Mehr zum Thema