Libanon

Dynastien bestimmen die Machtelite

Das Sama-Hochhaus in Beirut, der Hauptstadt des Libanons, im März 2016.
In Libanons Hauptstadt Beirut bleiben auch mit dem neuen Präsidenten große Veränderungen aus. © picture alliance/dpa/Wael Hamzeh
Bente Scheller im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 31.10.2016
Nach mehr als zwei Jahren ohne Präsidenten hat der Libanon wieder ein neues Staatsoberhaupt. Der Politiker Michel Aoun erreichte im zweiten Durchgang die nötige Mehrheit. Aber der Ex-General ist kein Hoffnungsträger, wie Nahost-Expertin Bente Scheller schildert.
"Michel Aoun gehört einer Familie an, die man aus Bürgerkriegszeiten schon kennt", sagt die Leiterin des Büros der Heinrich Böll Stiftung in Beirut im Deutschlandradio Kultur. Das sei für den Libanon nicht ungewöhnlich. "Eigentlich sind es Dynastien, die hier im politischen Leben unterwegs sind." Sie erinnerte an die umstrittene Rolle des Ex-Generals im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) und seine langen Jahre im Exil.
"Nun scheint er am Anfang und am Ende seiner Ambitionen wieder angekommen zu sein." Dass Aoun wieder in den Präsidentenpalast einzieht, wertete Scheller als Zeichen einer sehr alten und traditionellen Elite, die sich im wesentlichen mit sich selbst beschäftige. Das Parlament hatte in den letzten zwei Jahren 35 erfolglose Versuche unternommen, einen neuen Präsidenten zu wählen.

Jugend ohne politische Chancen

Im Libanon gehe es immer noch sehr stark darum, wer am meisten Erfahrung in ein Amt mitbringe, sagt Scheller zu Aouns Kandidatur. "Man erwartet eben, dass man dafür belohnt wird, sich nur lange genug um eine Sache verdient zu machen und deswegen fällt es so schwer, die junge Generation hier zu beteiligen."
Dabei gebe es im Libanon eine kreative Jugend und viele Leute mit hohen Ambitionen. "Aber meistens halten sie sich aus dem politischen Gefüge fern, weil sie wissen, dass sie wissen, dass es da noch viele Jahre dauern würde ehe sie eine Chance hätten."
Das Interview mit Bente Scheller wurde vor der Wahl des aussichtsreichsten Kandidaten Aoun geführt.

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Heute kommt das libanesische Parlament zusammen, um einen neuen Präsidenten zu wählen. Zweieinhalb Jahre lang war das Land ja ohne. Man hatte sich offenbar an Belgien ein Beispiel genommen. Jetzt ist es sehr wahrscheinlich, dass der 83-jährige Michel Aoun zum neuen Präsidenten gewählt wird. Wie schwer es ist, einen geeigneten Mann oder eine geeignete Frau zu finden, das erleben wir gerade in Deutschland. Wie schwer das ist, in einem Land wie dem Libanon, das wollen wir nun wissen von Bente Scheller, sie leitet in der Heinrich-Böll-Stiftung das Büro für den Nahen Osten und ist jetzt aus Beirut zugeschaltet. Schönen guten Morgen!
Bente Scheller: Guten Morgen!
Billerbeck: Zweieinhalb Jahre ohne Präsident, 45 erfolglose Anläufe, einen neuen zu wählen. Nehmen die Libanesen das Ganze mit Humor oder doch mit Fatalismus?
Scheller: Es wäre nicht der Libanon, wenn man hier nicht auch sehr viel Selbstkritik im Spott unterbringen würde, deswegen ist es natürlich eine Sache, die das Land hier in jeder Art beschäftigt, aber heute sieht es tatsächlich so aus, als werde es ernst. Die Schulen sind geschlossen, alles ist geschlossen, weil angenommen wird, dass es heute tatsächlich zum Erfolg führen wird, eine neue Runde in den Präsidentschaftswahlen abzuhalten.
Billerbeck: Dann beschreiben Sie uns doch mal diesen Mann, der das werden könnte, diesen Michel Aoun. Wer ist das?
Scheller: Michel Aoun gehört einer Familie an, die man auch aus Bürgerkriegszeiten schon kennt. Das ist hier für die politischen Parteien nicht unüblich, eigentlich sind es Dynastien, die hier im politischen Leben unterwegs sind, und er hat schon einmal versucht, die Macht hier im Libanon zu haben und vor allen Dingen zu halten, und zwar am Ende des Bürgerkriegs, als er sie auch versucht hat gegen die Syrer zu verteidigen, die ihn aus dem Präsidentenpalast verbannen wollten. Das Ganze wurde gekrönt von 15 Jahren Exil, und nun scheint er am Anfang und Ende seiner Ambitionen wieder angekommen zu sein. Jetzt wird er wieder den Präsidentenpalast nehmen, und das ist natürlich Zeichen einer sehr alten und tradierten politischen Elite, die hier im Wesentlichen sich mit sich selbst beschäftigt.

Keine Aufarbeitung des Bürgerkrieges

Billerbeck: Klingt auch nicht besonders kreativ, wenn man nach so langer Anlaufzeit dann auf die Idee kommt, einen 83-Jährigen zu wählen, der auch schon, wie Sie sagten, im Bürgerkrieg aktiv war. Das heißt ja, äußerst unheilvoll agiert hat, oder?
Scheller: Ja, da ist er aber aus dem ganzen politischen Gefüge der Elite nicht der einzige. Also wir brauchen uns wirklich nur umzuschauen: Es ist sehr, sehr mühsam, jemanden zu finden, der damals nicht involviert war oder dessen Familie da nicht involviert war und eben auch als Kämpfer, als kriegerische Partei, und deswegen zählt es hier zu den Dingen, die leider immer noch an der Tagesordnung sind. Es hat ja nie eine Aufarbeitung des Bürgerkriegs gegeben.
Billerbeck: Hat das Land nicht besseres oder neueres zu bieten, vielleicht eine Frau?
Scheller: Ich denke, dass ist hier schon an anderen Orten schwierig, aber hier geht es wirklich immer noch sehr danach, wer hat die meiste Erfahrung, wer hat am längsten gewartet auf ein Amt. Man erwartet, dass man eben dafür belohnt wird, sich nur lange genug um eine Sache verdient zu machen, und deswegen fällt es so schwer, die junge Generation hier zu beteiligen. Das ist überhaupt nicht offensichtlich: Wenn man sich den Libanon an sich anschaut, da gibt es eine sehr, sehr kreative Jugend und sehr viele Leute, die hohe Ambitionen haben, aber meistens halten sie sich aus dem politischen Gefüge fern, weil sie wissen, dass es da noch viele Jahre dauern würde, ehe sie eine Chance hätten.
Billerbeck: Wie wahrscheinlich ist es denn, dass das Land seine Probleme mit einem neuen Präsidenten, der ja auch ein alter Politiker ist, in den Griff bekommt, und das meint nicht nur die ganz großen, sondern auch die ganz alltäglichen?
Scheller: Das ist natürlich eine Sache, die nicht nur beim Präsidenten liegt. Die Wahl jetzt ist erst ein erster Schritt, danach wird es wahrscheinlich noch ein ebenfalls sehr zähes Ringen um die Besetzung des Kabinettes geben, und deswegen wird es dauern, bis wir überhaupt sehen, dass aktuelle Probleme in Angriff genommen werden. Also die Müllkrise, unter der das Land seit über einem Jahr leidet, wird dadurch leider sicherlich nicht schnell gelöst werden, aber es ist ein Anfang gemacht. Bis jetzt war es so, dass alle immer auf die vakante Position verwiesen haben und gesagt, wir würden ja etwas tun, aber wir können ja nicht, seht mal, wir haben doch noch nicht mal einen Präsidenten, und diese Ausrede zumindest wird jetzt wegfallen.
(gem)

Bürgerbewegung braucht langen Atem

Billerbeck: Gibt es in der Bevölkerung keinen Aufruhr, kein Aufbegehren gegen so ein ja doch, wie Sie es schildern, sehr verkrustetes politisches System?
Scheller: Das gibt es, das haben wir gerade bei den vergangenen Kommunalwahlen gesehen, dass dort eben gerade in Beirut eine Liste aus dem Stand 40 Prozent aller Stimmen bekommen hat, die eine wahre Bürgerbewegung war, aber es gehört auch zum politischen System hier, dass sich das nicht automatisch in Macht umsetzt. Es ist ein Mehrheitswahlsystem, und deswegen sind diese 40 Prozent eigentlich dann auch direkt wieder unter den Tisch gefallen. Die Stimmung ist da. Es gibt Leute, die etwas verändern wollen, aber der Weg dahin ist so lang, dass den meisten wahrscheinlich da der Atem ausgehen wird.
Billerbeck: Nun spricht man ja vom Libanon oft in der Region von einem Vorbild, einem Modell, das wird gar nicht so selten gesagt. Könnte der Libanon, wenn ich Sie höre, denn tatsächlich so ein Vorbild sein für die Lösung anderer Konflikte, wie zum Beispiel dem in Syrien?
Scheller: Das System, wie es hier eingerichtet wurde nach dem Bürgerkrieg, ist ja eigentlich ein Provisorium. Das sollte ja auch schon längst anders aussehen. Es ist eine sehr, sehr heikle Austarierung der Macht zwischen den einzelnen konfessionellen Gruppen, und es ist gut daran, dass niemand sich über die anderen hinwegsetzen kann – man kann keine Gruppe wirklich außen vor lassen –, aber diese Machtverschränkung führt dazu, dass jede Gruppe auch gleichzeitig die Macht hat, alle anderen zu blockieren, und deswegen dauert es unter Umständen so lange, bis irgendetwas erreicht werden kann. Als Vorbild würden, glaube ich, auch viele Libanesen das nicht sehen, und deswegen glaube ich, dass es bei Syrien, wo die konfessionelle Aufteilung in der Bevölkerung ja noch einmal eine ganz andere ist, auch sehr schwierig wäre, hier zu erkennen, was genau das Modell sein soll.
Billerbeck: Einschätzungen waren das von Bente Scheller, Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung für Nahost mit Sitz in Beirut – wie findet man einen neuen Präsidenten für den Libanon. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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