"Letzte wirkliche Diktatur in Europa“

Moderation: Jörg Degenhardt · 20.03.2006
Nach den Worten von EU-Kommissionsmitglied Günter Verheugen kann Weißrussland derzeit kein Partner für die Europäische Union sein. Das Land sei "die letzte wirkliche Diktatur in Europa", sagte Verheugen einen Tag nach den Präsidentenwahlen. Von dem offiziellen Wahlergebnis, wonach Präsident Alexander Lukaschenko mit deutlicher Mehrheit im Amt bestätigt wurde, werde sich niemand täuschen lassen.
Degenhardt: Am Telefon begrüße ich Günter Verheugen, er ist der Vize-Präsident der EU-Kommission, außerdem in diesem Gremium für die Industriepolitik zuständig. Guten Morgen, Herr Verheugen.

Verheugen: Guten Morgen.

Degenhardt: Bevor wir aber über die Brüsseler Runde reden, zunächst zu einem Ereignis von gestern, der sogenannten Wahl in Weißrussland. Lukaschenko bleibt wie erwartet im Amt. Rückt damit ein EU-Beitritt des Landes, auch wenn Sie dafür nicht mehr zuständig sind, erst recht in weite Ferne?

Verheugen: Naja, der EU-Beitritt Weißrusslands steht ja sowieso nicht auf der Tagesordnung. Das Land ist so weit entfernt, dass man auch nur daran denken könnte, über Aufnahmeverhandlungen zu sprechen. Dass diese Diskussion sich wirklich nicht lohnt, von diesem Wahlergebnis wie von dieser ganzen Wahl wird sich niemand täuschen lassen. Dieses Land ist die letzte wirkliche Diktatur in Europa. Und solange das so ist, kann es kein Partner für die Europäische Union sein.

Degenhardt: Nun aber zum Gipfel in Brüssel. Wie gesagt, am Donnerstag beginnt er, und es geht um mehr Wachstum und Beschäftigung und um die Energiesicherheit. Welche konkreten Taten, Herr Verheugen, möchten Sie denn gerne festgeschrieben wissen, damit zum Beispiel mehr Arbeitsplätze auf dem Kontinent entstehen und nicht etwa in China?

Verheugen: Es geht vor allen Dingen darum, die im vergangenen Jahr beschlossene Wachstums- und Beschäftigungsstrategie jetzt schrittweise umzusetzen. Und ich hoffe, dass der Gipfel in zwei Punkten Fortschritte bringen wird. Einmal beim Umsteuern der Mitgliedsländer und des Gemeinschaftshaushaltes auf mehr Ausgaben für Forschung, für Bildung, für technologische Entwicklung, weil das der Kern unserer Wettbewerbsfähigkeit ist. Und zum anderen hoffe ich, dass wir klare Aussagen bekommen werden hinsichtlich besserer politischer und wirtschaftlicher Bedingungen für die kleinen und mittleren Unternehmen, also was man in Deutschland den Mittelstand nennt, diejenigen also, die in Wirklichkeit das Wachstum und die Arbeitsplätze schaffen.

Degenhardt: Und den Herausforderungen der Globalisierung muss durch mehr Europa begegnet werden, nicht durch weniger. Das hat Kommissionspräsident Barroso gefordert. Haben diese Botschaft demnach noch nicht alle Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union verinnerlicht?

Verheugen: Na, verinnerlicht haben sie es schon. Aber ob sie sich alle immer daran halten, ist die Frage. Mir scheint, dass wir in einigen Mitgliedsländern im Augenblick eine gewisse Neigung haben, anti-europäischen oder jedenfalls gemeinschaftsfeindlichen Tendenzen nachzugeben und den Eindruck zu erwecken, als könne man den einzelnen Staat, die einzelne Volkswirtschaft vor dem internationalen Wettbewerb schützen. Das kann man nicht. Diese Zeiten sind längst vorbei. Das beste Instrument, das wir haben, um angesichts eines sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs leistungsfähig zu bleiben und unseren hohen Lebensstandard zu bewahren, das beste Instrument ist, das Potenzial der europäischen Integration vollständig auszuschöpfen. Da bin ich völlig einer Meinung mit dem Kommissionspräsidenten.

Degenhardt: In der Energiebranche beispielsweise, so hat man ein wenig den Eindruck, sucht jedes Land den eigenen Vorteil. Könnte der Streit um Brüsseler Befugnisse in der Energiepolitik diesen Gipfel überschatten?

Verheugen: Nein, das glaube ich nicht. Bis es um wirkliche Befugnisse geht, ist ja noch ein weiter Weg. Es gibt keine wirkliche energiepolitische Kompetenz im Vertrag für die Gemeinschaftsebene. Das heißt, wir müssen uns sowieso den Weg der Verständigung und der Kooperation suchen. Das will die Kommission auch. Der Streit geht ja im Augenblick um etwas anderes. Er geht darum, ob und wie die vollständige Öffnung der Energiemärkte, insbesondere Strom und Gas, in Europa vorangetrieben wird. Die Kommission ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass ab nächstes Jahr wir einen gemeinsamen europäischen Markt für Strom und Gas haben, weil wir auch zu der Überzeugung gekommen sind, dass die Preisentwicklung, insbesondere bei der Elektrizität, inzwischen doch schwere Nachteile für stromverbrauchende Industrien aber auch für den Verbraucher mit sich bringt.

Degenhardt: Erlauben Sie noch eine Frage zur Energiepolitik, Herr Verheugen. Sollte Europa wieder stärker auf die Kernenergie setzen?

Verheugen: Das ist eine Diskussion, die wird in dem einen oder anderen Mitgliedsland geführt, aber auf der Ebene der Europäischen Union fast überhaupt nicht. Die Politik der EU ist ja vollkommen klar, jedes Land ist frei, seinen Energiemix zu wählen, ob es Kernenergie benutzen will oder nicht. Deshalb kann es eine europäische Kernenergiepolitik in dem Sinne nicht geben, dass wir überall Kernenergie hätten oder überall keine Kernenergie.

Degenhardt: Lange und zähe Gipfelveranstaltungen mit Abschlusserklärungen voller Kompromissformeln, die nicht wirklich helfen und die viele Bürger in Europa überhaupt nicht verstehen. Wird das Frühjahrstreffen in dieser Woche vielleicht ein bisschen anders verlaufen?

Verheugen: Ja, ich hoffe es doch sehr. Also die österreichische Präsidentschaft hat sich sehr um Konkretisierung bemüht. Das ist ja auch das, um was es im Augenblick geht. Wir brauchen nun wahrlich nicht bei jedem Gipfeltreffen eine neue Strategie, einen neuen Prozess, ein neues Konzept. Sondern es kommt wirklich darauf an, dass wir das einmal abarbeiten, was wir schon gemeinsam beschlossen haben. Und insoweit sind die Vorschläge, die vorbereitet sind, sehr konkret. Und wenn sie so angenommen werden, wären wir ein Stück weiter.

Degenhardt: Der EU-Industriekommissar Günter Verheugen war am Telefon. Schönen Dank für das Gespräch hier im Deutschlandradio Kultur.