Letzte Verse

Rezensiert von Rainer Moritz · 20.07.2006
Wie bespricht man einen postum erscheinenden Gedichtband? Wie einem Buch gerecht werden, das auf den Markt kommt, noch ehe die Trauer über den Tod des Autors abgeklungen ist? Robert Gernhardt starb am 30. Juni, und diese Nachricht schockierte selbst diejenigen, die wussten, dass die ihm verbleibenden Lebensmonate gezählt waren.
2002 wurde Gernhardt mit einer Krebsdiagnose konfrontiert, und er tat danach, was er bereits nach seiner Herzerkrankung in den 1990er Jahren getan hatte: Er schrieb unbeirrt weiter, versuchte, der Krankheit zu trotzen und die Komik, das Markenzeichen seiner Gedichte, nicht auszusparen. "Allem auch eine komische Seite abzugewinnen und lachen zu können, war und ist für mich immer wichtig. Aber das kann man nicht erzwingen", so hat Gernhardt dieses Ringen beschrieben, und der Band "Später Spagat" legt davon auf bewegende und beeindruckende Weise Zeugnis ab.

In zwei Sektionen - "Standbein" und "Spielbein" - sind diese Gedichte aufgeteilt, und sie zeigen alle Qualitäten, die Robert Gernhardt zu einem intelligenten, gewitzten und liebenswürdigen Autor machten. Die Krankheit, wie gesagt, wird offen thematisiert - und damit auch die quälenden Therapien, denen sich Gernhardt aussetzen musste. Das "Krebsfahrerlied" kommt im fröhlichen Volksliedton einher und berichtet doch von der wenig erfreulichen Chemotherapie:

"Hügel locken,
Berge blauen,
schon kann ich das Gifthaus schauen.
Durch die Flure,
durch die Weiten,
sieht man mich zum Giftraum schreiten.
Um dort über
viele Stunden
an dem Gifte zu gesunden."

Ganz ist das Gedicht damit freilich nicht zu Ende: Die letzte, einzeilige Strophe schließt mit einem lapidaren "Oder auch nicht", mit der unumstößlichen und nicht unwahrscheinlichen Einsicht, dass alle Therapie vielleicht nichts nützen wird.

"Später Spagat" ist ein todtrauriges Buch, das zu Tränen rührt, wiewohl Robert Gernhardt klug genug war, seinen Lesern kein eilfertiges Mitleid abzuverlangen. Das gewohnt kesse und einfallsreiche Spiel mit Reimen und Rhythmen will dem nahenden Tod keine völlige Macht über das Denken und Fühlen einräumen; solange die verbalen Pfeile abgefeuert werden, ist Hoffnung - und sei es nur kurzfristig wie in dem schnippischen "Dialog":

"Gut schaust du aus!
- Danke! Werds meinem
Krebs weitersagen.
Wird ihn ärgern."

Das Thema Tod ist nicht nur dort zu finden, wo Gernhardt das eigene Krebsleiden bespricht. Es taucht schon eingangs in den Toskana-Gedichten auf, die "blattlose" Bäume, "saftlose" Trauben und "farblose" Hänge präsentieren, und es ist natürlich allgegenwärtig in "Gedenken", einem Nachruf auf den Freund F. K. Waechter, das mit dem Vers "Nie werd ich den sterbenden Fritz vergessen" einsetzt.

Angesichts der Publikationsumstände dieser Sammlung nimmt es nicht wunder, dass die unter "Spielbein" zusammengestellten Gedichte weniger ins Gewicht fallen. Überlesen sollte man sie indes nicht, denn sie zeigen den erfahrenen Nonsense-Reimer Gernhardt, der Sonette und Akrostichen kunstvoll formt, der Fußballweltmeisterschaften ball- und taktsicher elegante Flankenläufe abtrotzt und im zur Egozentrik neigenden Gedicht "Ich Ich Ich" zum Stolz der Deutschen Wichtiges zu sagen hat:

"Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.
Die Deutschen sind stolz auf mich.
Wie? Der zweite Satz trifft nicht zu?
Dann stimmt auch der erste nicht!"

Keine Sorge, lieber Robert Gernhardt, dort oben im Dichterhimmel, zumindest alle lesenden Deutschen sind sehr stolz darauf, solche Verse lesen zu dürfen.

Robert Gernhardt: Später Spagat. Gedichte
S. Fischer Verlag, 2006
128 S., 14 € 90