Letzte Meldungen aus Sumpfstadt

Von Claus Stephan Rehfeld |
Wir müssen uns neu orientieren. Die alte Landkarte hier können wir in den Papierkorb werfen. Die alten Feldstudien auch. Berlin hat sich stark verändert, sehr stark. Als wir die …. Straße entlangfuhren, kam sie uns wenig großstädtisch vor.
Da will einer nach Berlin reisen, greift zur Karte und findet dort einen Ort Namens Sumpfstadt. Er dreht und wendet den „Atlas der wahren Namen“ (1), doch Sumpfstadt rückt nicht vom Fleck, jedenfalls nicht auf der „Etymologischen Karte Deutschland“ (2). Veraltet ist sie nicht, weil ganz neu auf dem Markt. Der auswärtige Feldforscher deutscher Stämme und Sprachen ist kurz verwirrt. Die Lage und die Umrisse von Sumpfstadt entsprechen seinem ursprünglichen Reiseziel. Dann schwant dem Etymologen, warum aus Hellersdorf nun das Dorf des schützenden Kämpfers (3) wurde, aus Reinickendorf ein Dorf des harten Schicksals (4), weshalb die Spree nun Sprühwasser (5) heißt und der Nikolassee zum See des Volkssieges (6) geworden ist. Eine etwas überraschende Poesie für die dort Wohnenden, die gemeinhin für ihre Schnauze mit Herz (7) bekannt sind.
Hier nun der Bericht des auswärtigen Ethnologen.



Kurzes Vorspiel

Wir waren in Sumpfstadt! Auf dem Kontinent. Am Potsdamer Platz! Als wir vom Westteil der Stadt kommend ein Visum für den Ostteil erbaten, da versagte uns ein Herr in DDR-Grenzuniform selbiges. Sein freundliches Gesicht hatte uns die Auskunft entlockt, wir betrieben so unsere Feldstudien am Orte. Da zeigte er uns, wo der Stempel hängt. Nein, kein Einreisevisum. Dies verstanden wir nicht. Also schickten wir eine hübsche Sumpfstädterin vor. Sie übergab uns dann ihr Visum (8) und wir stapften los. Hier, sehen Sie: Deutsche Demokratische Republik.

DDR-Visum

Für Sumpfstadt-Ost.

Stempel der Alliierten und Senat Sumpfstadt-West.

Einreisedatum 31. Oktober 2008.

„Wat hier jelacht wird, det lache ick (9). Ja, ja, Sumpfstadt.“


Kapitel 1: Poesie der Vergangenheit

Hormes: „Waren Sie mit der Karte unterwegs?“

Herr Hormes. Er hat den „Atlas der wahren Namen“ verfasst. Ihm verdanken wir die Feldstudien in Sumpfstadt.

Hormes: „Das ist doch schön hier, ne. Drachendorf.“

Drachendorf (10) in Sumpfstadt. Herr Hormes hat mal in Sumpfstadt studiert, genauer im Ortsteil Thalheim. (11)

Hormes: „Ja, war schön. Wir sind dann nach Niedersumpfwiesen (12) umgezogen …“

16 Jahre Sumpfstadt. Studium, Arbeit, Frau.

Hormes: „Dann sind wir gleich nach Untereichen (13) weitergezogen.“

Immer noch in Sumpfstadt. Hauptstadt von Germany.

Hormes: „Na, das ist das Volksland, also ‚Tiuti‘ althochdt. das Volk, das Volksland.“

Könnte man auch mit Wurfspießmänner (14) übersetzen.

Hormes: „Also Sprachforschung, Etymologie, was jetzt Ortsnamen angeht, ist eine der schwierigsten Disziplinen innerhalb der Sprachforschung überhaupt, weil man muss letztendlich schauen, was hat es für … wie hieß der Ort früher?“

Sumpfstadt. Altpolabisch brl-, also: Sumpf. (15) Und die Sumpfstädter?

Hormes: „Die Ickes und det-is? Naja, klar, die echten und die wahren, die gibt es noch immer. Die lassen sich auch nicht erschüttern.“

Ja, ja, der Sumpfstädter … Lebenslauf, ick erwarte Dir. (16)


1. Merkzettel

Während wir uns auf die etymologische Karte von Sumpfstadt konzentrieren, repetieren wir schnell noch einige Merkzettel über diese ungewöhnliche Dorfansammlung. (17)

Nun, als die Stadt das erste mal geteilt wurde, lebten noch viele Spree-Athener (18) dort. Das war im Mittelalter. Nach der zweiten Teilung waren sie im Westteil eine Minderheit. Vorbei war auch die Zeit Frontstadt, Inselstadt, Halb- und Doppelstadt. Dann wuchs in Sumpfstadt zusammen, was es dort halt so gab.

Der Flecken war immer schon ein Grenzgebiet. (19) Plattdeutsche Maulfaulheit trat gegen die Obersächsische Gusche an, die Märkische Zunge tauschte sich regelmäßig mit der Sumpfstädter Schnauze (20) aus. Die zweite deutsche Lautverschiebung blieb hier folgenlos.

Der Sumpfstädter parliert gerne und gekonnt. Er ist nich uff ’t Maul jefallen (21). Neben Altpolabisch spricht er fließend Slawisch, siehe Kietz (22), nimmt Latein einen Schluck aus die Pulle (23), hilft anderen gerne Französisch aus die Bredullje (24), beißt in die obersächsische Stulle (25), mag hebräisch keene feinen Pinkel (26) nich. Die Beispiele müssen reichen, die Sendezeit ist begrenzt.
Seine Sprachgewandtheit ist legendär, er ist eher bescheiden zu nennen. Der echte Sumpfstädter liebt partout keen Jetue nich (27).


Kapitel 2: Ein ungewöhnlicher Saund

Biskupek: „Es hat irgendetwas mit dem Saund zu tun, dem Saund, den mir draufhaben, der ist immer … kannste machen, was de willst.“

Auf dem Berg der Überlegung und des Ruhmes (28), hierorts auch Prenzlberg oder Brezlberg (29) genannt. Früher eine Hochburg des Sumpfstädter Dialektes, heute in der Hand von Außerhalbschen (30), also Schwaben, Rheinländern, Sachsen …

Biskupek: „Wenn er nach Sumpfstadt kommt, ist es völlig klar, da muss er sich erste Mal orientieren, weil das ja ne große Stadt ist, die Sumpfstadt. Und deswegen, er selber kommt aus einem Dorf, und das ist völlig klar, dass er da in der großen Stadt erste Mal denkt: Oh, die sind ja alle viel klüger! Viel witziger! Haben ja oben auf der Kirsche mehr als er.“

Also den Sumpfstädter Dialekt haben wir uns irgendwie anders vorgestellt …

Biskupek: „Das hat was damit zu tun, dass die Sumpfstädter fürchterlich … sie sind schnell fertig mit dem Wort und kanzeln jemanden ab. Und so was gloobt der Sachse eijentlich gar nicht und denkt sich immer: Nee, so meent der das gar nich.“

Wir nicken.

Biskupek: „Nee, der meent das nich, das kann gar nich sein. Da sagt er: Männiken, ick hau dir gleich eene! Da sagt er: Nee, so meinst du das nich, ne. Und das hat natürlich was damit zutun, dass der Sachse sofort versöhnen will. Er ist ja ein Versöhnler.“

Gut, gut. Und der Sumpfstädter lässt Angeber lässig auflaufen. So mit Fragen wie Und mitte Ohrn könnse nischt? (31)

Biskupek: „Nee, mir tun das nich machen.“

Wir sind überrascht zu nennen.

Biskupek: „Also wenn ich in meiner Heimat mal etwas Sumpfstädtisches benutze und sare ‚Icke gloob det nich‘ oder sowas, dann wirkt das sehr weltläufig und die sind ganz erstaunt und sagen: „Du bist wohl, schätze ich, gar nich mehr von hier?“

Äh, wir sind doch hier in Sumpfstadt, im Rayon … Moment … die Karte … hier … auf dem Berg der Überlegung und des Ruhmes? Gerühmt als Hochburg des hiesigen Dialekts.

Biskupek: „Also mir kommt es sehr komisch vor, wie hier die Leute reden. Die reden entweder hochdeutsch oder sie reden schwäbisch oder türkisch oder englisch. Englisch wird viel gesprochen.“
So a lá i’m speaking Germany?

Biskupek: „Wirklich Sumpfstädtern kann keener mehr.“


2. Merkzettel

Lange behauptete sich der Ost-Sumpfstädter in seinem Distrikt gegen die sächsische Zunge. Dann fiel die Stadtmauer und er wunderte sich, dass im Westteil von Sumpfstadt keen Aas (32) mehr berlinerte. Da wurde geschwäbelt, gebayert und getürkt, echte Sumpfstädter gab es nur noch in einigen zugewiesenen Reservaten.

Und kaum war die Stadtmauer ein einziges openes dor, da wurde Ost-Sumpfstadt von der Mitte der Gesellschaft im Sturm besetzt, von der Einkoofsjesellschaft. Geldmäßig, mental, zungenmäßig. Der Sonnahmd wurde abgeschafft, der Samstag hielt Einzug. Plötzlich war es nicht mehr dreiviertel ölw (33) , sondern Viertel vor Elf und der Frisör schnippelte jetzt in der Hair-Factory. Viele Ureinwohner packten ihre Sachen und zogen in Trecks wegwärts.

Ach ja, beim Fall der Stadtmauer sollen kaum echte Sumpfstädter anwesend gewesen seien, aber viele anjelernte (34), Rucksackberliner (35) genannt. Identifiziert wurden sie am Gebrauch des Wortes „Wahnsinn“. Das hätte ein Sumpfstädter nie gesagt! Und gerufen schon gar nicht! Er hätte höchstens Na kiek mal an (36) jesacht.


Kapitel 3: Klare Auskünfte


Die Rennpappe, also der Trabi, verschwand mit dem Mauerfall. Und mit ihr step by step der heimische Dialekt … in Ost-Sumpfstadt. Er steht dort mittlerweile auf der Liste der bedrohten Sprachen. In West-Sumpfstadt finden sie ihn schon lange nur noch auf die Liste der aussterbenden Sprachen.

Mann: „Hörn se mir bloß uff mit den Verein. Ick hab die Schnauze voll davon. Schön’ Tach noch.“

Dieser einmalige ach-Laut! Wunderschön. Ein Ureinwohner! Unsere Botanisiertrommel für heimisches Sprachgut füllt sich etwas.

Mann: „Ach Gott, wie wat det? Wir haben eijentlich jenauso gesprochen wie alle anderen auch.“

Wirklich?

Mann: „Ja, nehm ick an.“

Danke, der Herr, und Schön’ Tach noch. Nun, der Austausch zwischen eingeborener Zunge und fremdwärtiger Kiemenstellung ist beschränkt zu nennen.

Mann: „Ick kenn nur Vokabeln, mit denen ick mich beschäftige.“

Auf dem Kreuzberg (37), an der Waterloobrücke, brachte ein hiesiger Zungenträger die neuere Entwicklung auf den Punkt.

" (1) „Ob det ein Berliner ist, der Ausländer, weeß ick nich, ob der die deutsche Staatsangehörigkeit hat, weiß ick nich."“

Ja, es gibt der Beispiele mehrere, da sich der Eingeborene „als Berliner da irgendwie fremd“ (38) fühlt.


3. Merkzettel


Verloren sitzen wir in der Linie 1, blättern einsam in einem Dokument eines untergehenden Dialektes – Sumpfstädtisch. Hier, sehen Sie? „Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch“ (39). Eine Rarität – das Buch, die Sprachträger, lebende Sprachträger. Restexemplare sozusagen – wie der Teil des Wörterbuches, den wir von einer freundlichen Germanistin zugespielt bekamen. Sie künden dem Ethnologen von großer Vergangenheit. Sprachlich, menschlich, kulturell.

Der „komplizierte linguistische Regelapparat“ (40) perlte am Ureinwohner ab. „Feine Verästelungen und Differenzierungen der sprachlichen Variation“ (41) konnten nicht nur Sprachforscher, sondern auch hiesige Sprachträger „nicht immer berücksichtigen“ (42).

Für Sie daheim zum Mitschreiben: Aus dat und det wurden dit und das feinere dis. Folgenreich war der Austausch des Verschlusslautes g jejen den Reibelaut j. Mutich wechselte er die Endung ig- gegen –ich aus. Uff Diphtonge steht er ooch. Und beim Einsatz von ick und icke hält er sich nahe an den französischen Gebrauch von je und moi. (43)

Das „Brandenburg-Berlinische Wörterbuch“ und andere Literatur, die wir in Sumpfstadt zwischen die Finger bekamen, lassen sich wie folgt bündeln:
Das Alphabet beginnt mit Icke und endet mit Mir kann Keener (44).
Den Überlieferungen zufolge hatte der Sumpfstädter grundsätzlich das erste Rederecht und das letzte Wort. (45)
Herzensgüte verpackt er sehr sorgfältig und gekonnt in netten Bildern.


Kapitel 4: Meister des Wortduells

Wiese: „Ich nehme mal so aus dem Bereich der Drohungen, die sind im alten Berlinischen noch immer so recht verbindlich, sehr derb, sehr bildlich, aber man merkt, dass sie eigentlich nicht so grob gemeint ist, nich.“

Herr Doktor Wiese, ein anjelernter Sumpfstädter.

Wiese: „Der droht: Krist eens uff’n Deez, detste durch de Rippen kiekst wie der Affe durch ’t Jitter. (46) Das ist sehr weitschweifig, sehr umständlich.“

So um 1920. Viel Tamtam (47), aber nicht ganz ernst gemeint. Herr Wiese arbeitete am Brandenburg-Berlinischen Wörterbuch mit.

Wiese: „Oder auch: Een Hieb, und du stehst in’t Hemde da, der zweete Hieb is Leichenschändung.“ (48)“

Sumpfstädtisch – eine bildhafte Sprache. Damals.

Wiese: „"Oder: Dir hau ick eene, dette in keen’ Sarch rinpaßt. (49) Dir stech ick mit ’n jefrornen Waschlappen dot.“ (50)“

Macht heute keiner mehr, also so reden. In Sumpfsiedeln (51), vormals Marzahn, und andernorts wird jetzt mehr gehandelt.

Wiese: " „Das sind so nette Drohungen, aber von denen man eigentlich merkt, es passiert nichts. Heute passiert gleich was! Da wird gar nicht mehr gedroht, ja.“


4. Merkzettel


Der Deutsche hat gemeinhin so um die 500 Sprüche auf der Pfanne, der Sumpfstädter mag darüber inwendich nur milde lächeln. Er ist nicht mit’n Klammerbeutel jepudert (52), ammesiert sich wie Bolle (53) über Fannkuchen mit Beene (54), und wer ihm kommt, den bittet er freundlich: Spuck mal hin, wo de liejen willst! (55)

Die Sprache der Großstadt, Ausdruck von Identität und Selbstbehauptungswillen. In der Zeit des Vormärz war der Dialekt die Sprache des Protestes, zu DDR-Zeiten pflegten noch Intellektuelle in Ost-Sumpfstadt den Zungenschlag. Sozusagen linguistischer Protest. Der lokale Typus ist nicht mit de Fresse uff die Schnauze jefall’n (56), mag partout nicht wie gedruckt reden … wie Politiker und Zeitungen und so.

Ihm wird nich imponiert (57). Auch nicht sprachlich, er ist sein eigener Souverän. Dies definiert schon Verhaltensregel Nummer 1: Der Sumpfstädter „sacht immer mir, ooch wenn’t richtig is“ (58). Und nur er weiß seinen Akkudativ elegant zu händeln. (59)

Wiewohl, mir müssen kurz innehalten und seiner gedenken, selten nur stießen wir auf echtes Exemplar der Gattung. Dabei ist es leicht ausmachen. Es fasst sich an die Plotze (60), so sich jemand in seiner Umgebung „an“ Weihnachten oder „in“ 2008 oder „unter“ der Woche aufhält. Und bei Spasss hört beim ihm der Spaß auf. Ooch keen Berlina, wa. (61)

Das Wanderungsproblem wurde uns mental-akustisch vorgeführt. Weniger geographisch, die Stadtlage wanderte in den letzten 556 Millionen Jahren aus dem Gebiet der heutigen Ost-Antarktis zu dem Punkt, an dem wir uns jetzt befinden. Nein, es war immer schon ein Ort der Zuzügler, Durchwanderer, Abreisenden – dazwischen die Hierbleiber. (62)

Letztere pflegen ausgiebig den Gedanken der Toleranz und der Hilfsbereitschaft. Eine feine Dame aus dem Dorf des schützenden Kämpfers (63), auf veralteten Karten Hellersdorf genannt, gab uns da viele Onkel-Fritz-Sprüche kund, die das bezeugen. Fiel jemand hin, dann sagte der Herr teilnehmend: Komm her, ick heb dir uff. (64)

Intoleranz kennt der gebürtige Sumpfstädter nicht, da bekommt sogar seine Tapete Jänsehaut (65). Das Türksprech schätzt er wegen dessen enormen „lyrischen Potentials“. Beim Schwaben hat er es noch nicht entdeckt. Jedenfalls entnahmen wir dies diversen Aushängen auf dem Berg der Überlegung und des Ruhmes.


Kapitel 5:

Klein: „Det jefällt mir ooch.“

Und nu ran an’n Sarch un mitjeweent (66) hatten wir unseren Sumpfstädter Informanten mittleren Jahrganges gebeten.

Klein: „Die armen Schwaben.“

Wir haben bei Bemme (67) und Muckefuck (68) von den Zetteln erzählt, die den Nachfahren der Sueben (69) nahelegten, doch wieder in ihre Niederlassung zu reisen.

Klein: „Dann wäre in meinem Bekanntenkreis keiner mehr da, der mit bei Umzügen hilft. Und der einzige Dialekt war Schwäbisch uff de Trepp.“

Die Sueben siedelten zu Cäsars Zeiten auf Sumpfstädter Areal, zogen dann aber weiter und besiedelten, was heute Schwaben heißt. Nun sind sie wieder da.

Klein: „Na, so ist det aba: Erst haun se ab und denn kommt die dicke Tante zurück. Wer willn dit?“

Früher bezeichnete der Sumpfstädter derlei als pucklige Verwandtschaft (70).

Klein: „Am lustigsten, die größte Schweinerei in Berlin ist, dass der Pfannkuchen jetzt in Berlin schon als Berliner verkooft wird.“

Und Herr Klein erzählt dann jene Geschichte, der er auf dem Berg der Überlegung und des Ruhmes teilhaftig wurde.

Klein: „Sonnahmds steht da ’ne Schlange wie zu Ostzeiten beim Bäcker. Und denn kamen irgendwelche Typen rein, kamen wirklich aus allen Bezirken, und hatten sich da angestellt. Und dann meinte der eene zu der Bäckersfrau: Hätt’ gern zehn Schrippen und zwei Berliner. Und da dreht sich die Frau um und meint: Denn suchen se sich eenen aus, hier stehn jenuch rum.“

Im vormaligen Richardsdorp (71), es geriet als Rixdorf in Verruf und wurde in Neukölln getauft, fiel ihm auf, dass es nur noch marginale Unterschiede gebe zwischen Antalya und dem Berg der Überlegung und des Ruhmes.

Klein: „Berliner Dialekt haste da ooch nich doll jehört, det war eher Antalya. Dort sitzen alte Leute am Tach und trinken Kaffee, im Prenzlauer Berg sitzen am Tag junge Leute und trinken Kaffee.“

Aus den neuen Bezirken (72), wie der Ost-Sumpfstädter Westzuzügler sprachlich markiert.

Klein: „Im Westteil ist vielleicht Sumpf, wir sind auf Sand gebaut.“


Kurzes Nachspiel

Sumpfstadt ist die Ballung von 95 Ortschaften. Einige suchten wir auf, der etymologische „Atlas der wahren Namen“ führte uns dorthin. Zum Beispiel nach Klagedorf (73), wahrscheinlich von althochdeutsch kara „Klage, Kummer, Trauer“ abgeleitet, aber als Karow bekannter. Am Männerdorf (74), möglicherweise vom altnordischen gautar = „Männer“, fuhren wir vorbei, also an Gatow. Das Dorf des harten Schicksals (75) mieden wir, die Reinickendorfer werden es uns nachsehen. Und Nebelheim (76) sowie Geliebtenfelde (77) haben wir nicht mehr geschafft, leider.

Wir nahmen den „Atlas der wahren Namen“ beim Wort und die Ortsnamen wie -befindlichkeiten bei der Wurzel, bei der Wortwurzel.

Dort, in Sumpfstadt: Hier is keen Himmel, hier is nur Wetter. (78) Da, über der Sprachinsel, auf der sich immer mehr Auswärtsche niederlassen.

Klein: „Eine Jeschichte fällt mir noch ein. Und zwar war es zu Ost-Zeiten am Müggelsee. Da war ein Riesencampingplatz. Und samstags früh war der Konsum auf, und da stand nun das gesamte Campervolk. Eine ätzend lange Schlange. Und plötzlich steht ein Ehepaar in der Schlange und da sagt die Frau zu ihrem Mann: ‚Du, mir Berliner mir kriegen nachher gar nischt mehr.‘ Tosendes Gelächter, die Schlange wäre bald zusammengebrochen. ‚Du, mir Berliner kriegen gar nischt mehr.“


Literatur- und Quellenverzeichnis

Atlas der wahren Namen
Deutschland & Berlin
KALIMEDIA, Lübeck, 2008

Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch
Akademie Verlag, Berlin 1968 – 2001

Lasch, Agathe
„Berlinisch“
Berlinische Forschungen. Texte und Untersuchungen. 2.Band
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Lilliput Berlinerisch
Bearbeitet von Jens Runkehl
Landgenscheidt, Berlin und München, 2003

Schildt / Schmidt (Hrg.)
Berlinisch
Akademie-Verlag, Berlin, 1986

Schlobinski, Peter
Berlinisch für Berliner
arani-Verlag, Berlin, 1988

Wiese, Joachim
Berliner Wörter & Wendungen
Akademie-Verlag Berlin, 1987

Gebhardt, Heinz
Berlinisches
Reihe „Miniaturen zur Geschichte, Kultur und Denkmalpflege Berlins“, Nr. 2
Hrg.: Kulturbund der DDR, Berlin, 1979

Binder, Helmut
Ein schwäbisches Wörterbuch
Theiss Verlag, Stuttgart, 2005

Drexel, Gerhard
Das Ländle in Berlin
be.bra verlag, Berlin, 2000

Glaßbrenner, Adolf
Altes gemütliches Berlin
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Ostwald, Hans
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München 1932

Heinrich, Prof. Dr. Gert
Kulturatlas Berlin
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Mühr, Alfred
Berliner Witz ABC
NON STOP-BÜCHEREI, Berlin 1957

Benjamin, Walter
„Wat hier jelacht wird, det lache ick“
in: Beroliniana, Berlin, 1987

Tucholsky, Kurt
Ausgewählte Werke
Verlag Volk und Welt, Berlin

Eckardt, Fritz
Labyrinth Frohnau
in: Berlin von oben und ganz vorn
Schutzverband deutscher Schriftsteller, Landesverband Berlin

Mayer, Dr. Hans
Der Richtige Berliner in Wörtern und Redensarten
hier: 9. Auflage von Dr. Siegfried Mauermann
Verlag von H.G. Hermann & Co, Berlin 1925

Visum „Deutsche Demokratische Republik / Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten / Anlage zum Westberliner Personalausweis für Personen mit ständigem Wohnsitz in Berlin (West)“

Günter Neumann
die Insulaner
Blanvalet, Berlin 1957 (uraufgeführt am 25.12.1948 – RIAS-Berlin)

Heinrich Bolten-Baeckers
„Das macht die Berliner Luft“
Lied aus Operette „Frau Luna“, Komp. Paul Lincke
in: APOLLO-Textheft Nr. 1
APOLLO-VERLAG PAUL LINCKE, Berlin 1929

HINWEIS Detailliertes Quellenverzeichnis auf Nachfrage mögliche


weitere Literatur

Peesch, Reinhard
Der Wortschatz der Fischer im Kietz von Berlin-Köpenick
Akademie-Verlag, Berlin, 1955

Eik, Jan
Der Berliner Jargon
Jaron Verlag, Berlin, 2008

Heinrich, Prof. Dr. Gert
Kulturatlas Brandenburg
Scantinental, Berlin 2006

Fischer, Reinhard E.
Die Ortsnamen der Länder Brandenburg und Berlin
be.bra wissenschaft verlag, 2005

Oschilewski, Walter G.
Gedichte auf Berlin
arani, Berlin 1958

Prochownik, Edda
Berlinisch – eine Sprache mit Humor
Reihe „Berlinische Reminiszenzen – Band 4“
Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1965

Sichelschmidt, Gustav
Die Berliner und ihr Witz
Rembrandt Verlag, Berlin 1978

Laverrenz, Victor
Die Denkmäler Berlins und der Volkswitz
Hofmann & Comp., Berlin, 1900

Opprower / Cürlis
Im Spitznamen des Volkes
arani, Berlin 1982

Seyfried, Gerhard
Wo soll das alles enden (1)
Rotbuch Verlag, Berlin, 1982