Helmut Lethen zur Faszination des Bösen

Muss Politik unmoralisch sein?

36:32 Minuten
Der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen schaut in die Kamera. Er hat weiße, etwas über das rechte Auge fallende Haare, er träge eine randlose Brille.
Helmut Lethen ist Literaturwissenschaftler. Ausgehend von Dostojewskis "Legende vom Großinquisitor" nahm er "das Böse" unter die Lupe. © imago / Gerhard Leber
Helmut Lethen im Gespräch mit Wolfram Eilenberger · 06.11.2022
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Das Böse stößt ab, es fasziniert aber auch. Zudem hat es das politische Denken im 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt – bis heute. Ein Gespräch mit Literaturwissenschaftler Helmut Lethen über Attraktivität und Überzeugungskraft des Diabolischen.
Was, wenn Jesus Christus plötzlich leibhaftig auf die Erde zurückkehrte: Würde er willkommen geheißen und verehrt – oder geächtet und eingesperrt werden, weil seine radikale Nächstenliebe die weltliche Ordnung durcheinanderbringt? Und sogar von ebenjener Institution, die behauptet sein irdischer Stellvertreter zu sein, der Kirche?

Zu viel des Guten

Dieses Gedankenexperiment bildet das Zentrum eines der großen Romane der Literaturgeschichte, und zwar als „Legende vom Großinquisitor“ in Fjodor Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“. Der titelgebende Großinquisitor wirft dem gefangenen Jesus in einem langen Monolog vor, mit seiner gefühlsduseligen Gesinnungsethik all die Stabilität infrage zu stellen, die die Kirche mühsam hergestellt habe. Eine philosophische Parabel über Gut und Böse, Macht und Moral.
Um diese Legende kreist das neue Buch des Literaturwissenschaftlers und Autors Helmut Lethen: „Der Sommer des Großinquisitors – Über die Faszination des Bösen“. Darin zeichnet er die Rezeption dieser Legende im politischen Denken des 20. Jahrhunderts nach, bei so verschiedenen Autoren wie Carl Schmitt und Max Weber.

Die Vernunft des Bösen

In seinem Buch gehe es „um die Vernunft des Bösen“, sagt Lethen im Gespräch. Denn die „Klugheitslehre“, die der Großinquisitor in Dostojewskis Text gegen die Tugendethik Jesu in Anschlag bringt, habe eine unheimliche Überzeugungskraft:
„Man kann bei keinem seiner Sätze sagen, hier irrt der Großinquisitor. Nein, er sagt: Die Tugendlehre ist ein Störfaktor in jedem Machtapparat; realitätstüchtige Politik kann sich nur unter Zuhilfenahme diabolischer Mittel erhalten, also zum Beispiel durch Waffengewalt – das kennen wir ja heute hautnah. Und: Nicht Freiheit, Ordnung ist das Elementarbedürfnis der Massen. Leider muss man sagen, dass das alles Sätze sind, die eine fürchterliche Aktualität in der Gegenwart gewonnen haben.“
Porträt des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen: weißhaarig, mit Brille und schiefem Lächeln.
Der Germanist und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen ist fasziniert von der Überzeugungskraft des "bösen" Denkens.© Anna Weise
Ihn fasziniere, sagt Lethen, „dass diese kardinalrote Klugheitslehre so verdammt von der Wirklichkeit bestätigt wird“. Und tatsächlich seien die Argumente des Großinquisitors im 20. Jahrhundert vielfach wiederaufgegriffen worden – etwa in Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, wie sie derzeit auch in Debatten um den Ukrainekrieg eine Rolle spielt. Vor diesem Hintergrund stellt sich für Lethen die Frage, inwiefern Politik nicht de facto auf ein „böses“ Denken und diabolische Mittel angewiesen ist. Lethen wendet sich ausdrücklich dagegen, das „Böse“ als Zuschreibung im politischen Streit zu verwenden.

Gegen das Böse als politische Kategorie

Gefragt nach einem Rat für die heutigen Debatten und die nachkommenden Generationen, sagt er: „Hört auf, vom Bösen zu reden. Das Böse darf keine Kategorie in der politischen Analyse sein. Denn schon im Begriff des Bösen ist die Moralisierung eines Gegners eingeschrieben.“
Vielmehr müssten wir anerkennen, dass Aggression und Zerstörungslust keinen Gegenpol zum Menschlichen bilden, sondern dazu gehören: „Seht mal, was für destruktive Elemente im Humanen selbst sind und versucht, damit umzugehen.“
Außerdem erklärt Lethen – seinerseits bekannt geworden mit dem Buch „Verhaltenslehren der Kälte“ – warum Zynismus erkenntnisfördernd sein kann. Wir fragen ihn zudem nach seiner Einschätzung des Klima-Aktivismus.
(ch)

Helmut Lethen: „Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen“
Rowohlt Berlin, 2022
240 Seiten, 24 Euro

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