Lethargisches Deutschland

Die Wohlfühljahre sind vorbei

04:07 Minuten
Helmut und Hannelore Kohl im Jahr 1990 bei einer Bootsfahrt.
Es gibt keinen Weg zurück ins nationale Paradies der 90er-Jahre, auch wenn die gegenwärtige Politik mitunter so tue, meint der Ökonom und Publizist Andreas Barthelmess. © picture-alliance / Sven Simon
Gedanken von Andreas Barthelmess · 23.07.2020
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Digitalisierung, Hate Speech, ein Scharfmacher als US-Präsident: Die Welt ist aus den Fugen, nur in Deutschland will man es nicht wahrhaben, meint Andreas Barthelmess. Sondern wähnt sich in einem Wohlfühlparadies - wie damals, als Kohl Kanzler war.
Deutschland in den 1990er-Jahren: Die Sommer-Aufreger sind Guildo Horn mit seinem "Piep-piep-piep"-Schlager-Ulk, Christos Reichstagsverhüllung und Sammy, der Kaiman im Badesee von Ückerath. Er hält ganz Deutschland in Atem, die Polizei schickt sogar Taucher. Selige Zeiten! Die Bezugsrahmen sind klein, meist lokal, allenfalls national. "Digital" ist in den 90ern das Wort für den Unterschied zwischen CD und Langspielplatte. Alles bleibt sich ewig gleich, nur "Wetten, dass ...?" läuft schon länger als Helmut Kohl.
Die Mitte der Gesellschaft ist in den 90er-Jahren breit und langweilig. Alles scheint eindeutig, und wenn etwas mal kompliziert ist, dann ist es binär: Mann und Frau zum Beispiel. Alles ist Reihenhaus-mäßig, Nutella-versüßt und US-beschützt. Keine Disruption in Sicht im Wirtschaftswunderland der Deutschland AG, nirgends. Selbst das Megaprojekt Wiedervereinigung hebt nur kurz den Puls. Allerdings: Die blühenden Landschaften bleiben aus, stattdessen Arbeitslosigkeit. Stillstand überall. Noch ist keine Rede von der "Wohlstandsschere". Noch heißt das Versprechen: Aufstieg für alle.

Deutschland fehlen Erfindungen, die die Welt verändern

Technologisch sind die Veränderungen bis in die Nullerjahre hinein inkrementell. Das heißt: Alles geht Schritt für Schritt, das ist die Logik des industriellen Zeitalters. Die Vorkriegserfindungen werden immer ein bisschen besser: der Staubsauger bei Miele, der Röhrenfernseher bei Blaupunkt, der "Volkswagen" bei VW – nur dass er jetzt nicht mehr "Käfer", sondern "Golf" heißt.
Die deutschen Ingenieure fummeln am Feintuning unterm Karosserieblech, an Airbag und ABS. Sprunginnovationen, also Erfindungen, die die Welt verändern, gibt es nicht in Deutschland, dafür sind die Amerikaner zuständig, und auch für die großen Visionen. Bei uns in Deutschland hatte Helmut Schmidt geschnoddert: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen", und diese Losung hängt schwer über der Republik.
Und heute? Ist alles anders, auch bei den Amerikanern. Ein Präsident wie Donald Trump war selbst in den schlimmsten politischen Albträumen überhaupt nicht denkbar. Es gab keine Sozialen Medien und kein Hate Speech, keine Echokammern und keine Polarisierung.
Heute scheinen bürgerkriegsähnliche Zustände vor der US-Präsidentenwahl nicht ausgeschlossen. Tragen die Menschen weltweit Masken, weil alter Oberhemdenstoff derzeit das beste Mittel gegen die globale Pandemie ist: Vermummungsgebot für alle, Chaostage jeden Tag! Die Welt ist aus den Fugen: Wir wissen nicht einmal, ob nach den Sommerferien Kitas und Schulen tatsächlich wie geplant öffnen.

Deutschland muss seine Lethargie überwinden

Und was tut die Politik? Tut so, als wäre bald die schöne alte Vergangenheit wiederhergestellt, an der wir alle so nostalgisch hängen. Das ist falsch. Wir können nicht die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit den Werkzeugen des 20. angehen. Es gibt keinen Weg zurück ins nationale Paradies der 90er. Plötzlich merken wir: Die deutsche Automobilindustrie, einst unser großer Stolz, ist bedroht. Mit Elektroantrieb, Brennstoffzelle und Digitalem kennen wir uns nicht gut aus. Die US-Firma Tesla, erst in den Nuller-Jahren gegründet, ist heute mehr wert als alle deutschen Autohersteller zusammen. Im Handel dasselbe: Karstadt ist pleite, Amazon die drittwertvollste Firma der Welt. Das ist die neue Digitalökonomie.
Heute sehen wir: Digitalisierung ist kein Prozess, sondern ein radikaler Bruch. Er ist global und betrifft alle unsere Lebensbereiche. Nur wenn wir jetzt unsere Lethargie überwinden, wird Deutschland endlich bereit sein für das disruptive 21. Jahrhundert, in dem wir längst leben.


Andreas Barthelmess, geboren 1979, ist Ökonom, Start-up-Unternehmer und Publizist. Er lebt in Berlin. Berufliche Anfänge bei Roland Berger, den Vereinten Nationen in New York und bei Gruner + Jahr. Neben eigenen Start-ups baute er führende europäische Tech-Unternehmen mit auf, heute ist er Berater. Noch als Student gründete er den "Think Tank 30" unter dem Dach des Club of Rome Deutschland. Barthelmess kommentiert das Zeitgeschehen regelmäßig für DIE ZEIT, Die Welt, NZZ, Handelsblatt, Wirtschaftswoche und Spiegel. 2020 erschienen: "Die große Zerstörung - Was der digitale Bruch mit unserem Leben macht" / Dudenverlag.

© Oliver Betke
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