Lesereise in die Buchwelt Tucholskys

11.06.2009
Giwi Margwelaschwili taucht in "Der Kantakt - Aus den Lese-Lebenserfahrungen eines Stadtschreibers" in die Welt von Kurt Tucholskys Buch "Rheinsberg" ein. Die Buchwelt mischt sich mit den Eindrücken des deutsch-georgischen Autors, der einmal Stadtschreiber in Rheinsberg war. Er besucht die Schauplätze der Vorlage und erweckt die Figuren zu neuem Leben.
Die Buchwelt als der realen nachgeordnete Gegenwelt, in die sich bisweilen gestaltend wechseln lässt - diese Idee zieht sich durch das gesamte Werk von Giwi Margwelaschwili. Sein jüngster Roman, stark autobiografisch durchsetzt, widmet sich dem Thema ausführlich.

Der in Deutschland geborene, nach dem Krieg von den Sowjets in die Heimat seines Vaters, nach Georgien, verschleppte Autor, heute 81 Jahre alt, war 1995 Stadtschreiber von Rheinsberg. Dort entstand das voluminöse Werk "Der Kantakt".

Das Wort stellt eine russifizierte Form von "Kontakt" dar. Um einen solchen Kontakt kreist das Thema des Romans: Margwelaschwili liest als Stadtschreiber das Buch "Rheinsberg – Ein Bilderbuch für Verliebte" von Kurt Tucholsky. Wie auch in anderen seiner Bücher beschreibt der Autor dabei das Einsteigen des Lesers in den Inhalt des Buches, in die Realität der Buchwelt. Erst begleitet er die beiden Hauptpersonen, das Liebespaar Wolfgang und Claire, auf ihren Spaziergängen durch die Stadt. Alsbald genügt ihm das Verweilen auf dem "Leserplatz" nicht mehr, er will zu beiden einen Kontakt herstellen. Durch intellektuelle Anstrengung gelingt ihm die "Verlesestofflichung" seiner Person, er kommt Wölfchen und Clairchen näher, kann aber noch nicht mit ihnen kommunizieren.

Auf seiner Lesereise im Buch kommt der Autor auch mit "thematischen Hintergrundpersonen" zusammen, befragt sie über deren Selbstverständnis und das Leben als "Buchperson". Schließlich gelingt es ihm doch, dem Liebespaar ein in die Buchwelt mitgebrachtes Geschenk zu überreichen. Das aber schafft er nicht ohne gewaltige Strapazen und komplizierte Überlegungen. Zumal es immer wieder Hürden zu überwinden gibt, die vom Autor, mitunter nicht ganz logisch konstruiert, eingezogen werden.
Zwischendurch zitiert Margwelaschwili aus eigenen Werken und reflektiert seine Lebenszeit in der Sowjetunion, sowie seine Arbeit dort als Wissenschaftler der Philosophie. Dabei stellt sich heraus, dass seinen phantastischen Entwürfen des Eindringens in die Buchwelt die Phänomenologie Husserls und das Denken Heideggers zugrunde liegen.

"Der Kantakt" ist ein Buch, das sich nicht leicht liest, schon aufgrund seines beachtlichen Volumens. Margwelaschwili verwendet konsequent pseudofachliche Ausdrücke für seine Fantasiewelt: Von "Buchweltbezirksgeschichtsräumen" ist da andauernd die Rede und von "Metathematizitäten", von der "Bibliobiosphäre" und "Lesespiegeltexten". Schon bald ist man versucht, das Buch wegen allzu trockener Wissenschaftsdiktion mit der Frage "Was will der Autor eigentlich?" zur Seite zu legen.

Denn für ein wissenschaftliches Werk ist es zu fantastisch und irreal, für deren Parodie zu ernsthaft, für einen Roman über weite Strecken zu ereignislos, für eine Autobiografie großteils zu sehr Dichtung. Hat man sich aber – gleichermaßen als Leser des Lesers - über mehr als die Hälfte des Werks durchgearbeitet, erscheint die erdachte Buchwelt mit den hartnäckig verwendeten, vom Autor eigens ersonnenen, umständlichen Fachtermini nicht mehr gar so unlogisch, ihr Regelwerk sogar folgerichtig.

Faszinierend ist die Tatsache, den schmalen Band Tucholskys mit seinen 73 Seiten vom ersten bis zum letzten Satz als Grundlage für ein 800 Seiten starkes "Meta-Buch" zu verwenden und dabei eine neue Welt zu schaffen, in die man bald selbst hineinrutscht, ohne diesen Prozess zu bemerken.

Besprochen von Stefan May

Giwi Margwelaschwili: Der Kantakt – Aus den Lese-Lebenserfahrungen eines Stadtschreibers
Verbrecher Verlag, Berlin 2009
800 Seiten, 36,00 Euro