Lesen mit Kopf und Herz
Mit ihrem Buch "Das lesende Gehirn" entschlüsselt Maryanne Wolf das Mysterium der schriftlichen Verständigung. Ihre Botschaft: Bücher wälzen bringt nicht nur intellektuellen, sondern auch emotionalen Reichtum - den man sich bewahren sollte.
Mit ihrem Buch "Das lesende Gehirn" entschlüsselt Maryanne Wolf das Mysterium des Lesens. Sie erklärt, wie der Mensch zum Lesen kam - die Menschen in der Menschheitsgeschichte und jeder einzelne aufs Neue. Rund 2000 Jahre brauchten unsere Urahnen, um - seit vor 6000 Jahren sie Münzen zu zählen anfingen - einen alphabetischen Code zu entwickeln. Die gleiche Leistung müssen Kinder heute innerhalb von 2000 Tagen vollbringen. Denn jedes Mal, wenn ein ABC-Schütze sich vor seine Fibel setzt, beginnen sich bisher unverbundene Gehirnareale, die eigentlich dem Sehen oder Hören dienen, vollkommen neu zu vernetzen.
Dadurch entsteht im Kopf eines Lesers eine ganz eigene Hirnarchitektur – übrigens auch ganz verschiedene, je nach dem ob man deutsche oder englische Buchstaben, japanische oder chinesische Zeichen entziffert. Dabei nehmen wir beim Lesen nicht einfach Informationen auf. Wir bilden uns eine eigene gedankliche Welt. Die Fähigkeit dazu ist nicht in den Genen angelegt, wie das Sehen oder Hören. Lesen muss gelernt werden und ist eine einzigartige, vielleicht auch bedrohte Kulturleistung.
Der Titel "Das lesende Gehirn" führt etwas in die Irre. Der englische Originaltitel "Proust and the Squid. The Story and the Science of the Reading Brain” verrät viel mehr von der umfassenden, ja transzendenten Sicht der Autorin. Denn auf den 350 Seiten ihres fundierten und engagierten Sach- und Fachbuches würdigt sie das Lesen als schöpferischen Akt aus sehr verschiedenen Perspektiven. Maryanne Wolf ist Professorin, Entwicklungspsychologin und Neurowissenschaftlerin an der Tufts University in Boston und gilt als eine international angesehene Expertin für die Zusammenhänge zwischen Lesen und Gehirn. Als diese erläutert sie detailliert auch anhand von zahlreichen hilfreichen Abbildungen, in welcher Phase des Lesenlernens sowie des Leseaktes welche Hirnareale aktiv sind – und auch, wie sich diese verändert haben, wenn wir ein und denselben Text Jahre später noch einmal lesen.
Doch – und gerade darin ist die Dringlichkeit des Anliegens der Autorin spürbar – Lesen lernt das Hirn in einer entsprechenden sozialen Umgebung. Es bedarf der liebevollen Zuwendung und der Anregung durch Laute, Reime und das Vorlesen bereits in der frühen Kindheit, um ein wortreicher Leser zu werden. Dabei hat Maryanne Wolf in ihrer Familie erfahren, was es bedeutet, nicht oder nicht so flüssig wie andere lesen zu können. Ihr ältester Sohn ist Legastheniker und auch von ihm kennt sie die Demütigungen, als dumm und unfähig bewertet zu werden.
Die eigenen Beobachtungen sowie diverse Studien der Fachliteratur veranlassen die Wissenschaftlerin zu der noch nicht endgültig bestätigten Vermutung, dass das Hirn mit der Leseschwäche andere Stärken kompensiert. Voller Mitgefühl für die Traumatisierung von Legasthenikerin zeigt sie Wege, wie diese früher erkannt und überbrückt werden kann. Denn in ihrem mit Zitaten reich gespickten Buch offenbart sich Maryanne Wolf als eine faszinierte, leidenschaftliche Leserin. An sich selbst entdeckt sie, wie die Lektüre sie und ihr Denken verändert und gerade das vertiefte Lesen es ihr ermöglicht, sich in andere Gedanken und Welten zu versetzen. In diesem Sinne ist die Leseentwicklung für Maryanne Wolf auch eine unendliche Geschichte. Und an diesem Punkt wird sie auch zu einer Mahnerin. Angesichts der Medienflut im Informationszeitalter sieht sie das vertiefte, assoziationsreiche Lesen bedroht.
Wie werden sich die Hirne der Mediengeneration verändern, wenn sie sich nicht mehr lesend in ein Buch vertiefen? Berauben wir uns damit einer Möglichkeit, der Bewusstseinserweiterung und über uns selbst hinaus zu wachsen? Manchmal etwas langatmig und zu viele Studien bemühend, hat Maryanne Wolf doch ein sehr feinfühliges und fundiertes Fach- und Sachbuch geschrieben.
Lesen - so ihre Botschaft - bringt nicht nur intellektuellen, sondern auch emotionalen Reichtum und den zu bewahren, dafür setzt sie sich ein. Es lohnt sich dieses Buch zu lesen und sich dabei selbst zu beobachten, ob man den Text einfach nur scannt, durch die Seiten blättert, sie studiert oder sich tatsächlich denkend vertieft und damit über den Text hinaus wächst.
Besprochen von Barbara Leitner
Maryanne Wolf: Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es unseren Köpfen bewirkt
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2009
350 Seiten, 26,95 Euro
Dadurch entsteht im Kopf eines Lesers eine ganz eigene Hirnarchitektur – übrigens auch ganz verschiedene, je nach dem ob man deutsche oder englische Buchstaben, japanische oder chinesische Zeichen entziffert. Dabei nehmen wir beim Lesen nicht einfach Informationen auf. Wir bilden uns eine eigene gedankliche Welt. Die Fähigkeit dazu ist nicht in den Genen angelegt, wie das Sehen oder Hören. Lesen muss gelernt werden und ist eine einzigartige, vielleicht auch bedrohte Kulturleistung.
Der Titel "Das lesende Gehirn" führt etwas in die Irre. Der englische Originaltitel "Proust and the Squid. The Story and the Science of the Reading Brain” verrät viel mehr von der umfassenden, ja transzendenten Sicht der Autorin. Denn auf den 350 Seiten ihres fundierten und engagierten Sach- und Fachbuches würdigt sie das Lesen als schöpferischen Akt aus sehr verschiedenen Perspektiven. Maryanne Wolf ist Professorin, Entwicklungspsychologin und Neurowissenschaftlerin an der Tufts University in Boston und gilt als eine international angesehene Expertin für die Zusammenhänge zwischen Lesen und Gehirn. Als diese erläutert sie detailliert auch anhand von zahlreichen hilfreichen Abbildungen, in welcher Phase des Lesenlernens sowie des Leseaktes welche Hirnareale aktiv sind – und auch, wie sich diese verändert haben, wenn wir ein und denselben Text Jahre später noch einmal lesen.
Doch – und gerade darin ist die Dringlichkeit des Anliegens der Autorin spürbar – Lesen lernt das Hirn in einer entsprechenden sozialen Umgebung. Es bedarf der liebevollen Zuwendung und der Anregung durch Laute, Reime und das Vorlesen bereits in der frühen Kindheit, um ein wortreicher Leser zu werden. Dabei hat Maryanne Wolf in ihrer Familie erfahren, was es bedeutet, nicht oder nicht so flüssig wie andere lesen zu können. Ihr ältester Sohn ist Legastheniker und auch von ihm kennt sie die Demütigungen, als dumm und unfähig bewertet zu werden.
Die eigenen Beobachtungen sowie diverse Studien der Fachliteratur veranlassen die Wissenschaftlerin zu der noch nicht endgültig bestätigten Vermutung, dass das Hirn mit der Leseschwäche andere Stärken kompensiert. Voller Mitgefühl für die Traumatisierung von Legasthenikerin zeigt sie Wege, wie diese früher erkannt und überbrückt werden kann. Denn in ihrem mit Zitaten reich gespickten Buch offenbart sich Maryanne Wolf als eine faszinierte, leidenschaftliche Leserin. An sich selbst entdeckt sie, wie die Lektüre sie und ihr Denken verändert und gerade das vertiefte Lesen es ihr ermöglicht, sich in andere Gedanken und Welten zu versetzen. In diesem Sinne ist die Leseentwicklung für Maryanne Wolf auch eine unendliche Geschichte. Und an diesem Punkt wird sie auch zu einer Mahnerin. Angesichts der Medienflut im Informationszeitalter sieht sie das vertiefte, assoziationsreiche Lesen bedroht.
Wie werden sich die Hirne der Mediengeneration verändern, wenn sie sich nicht mehr lesend in ein Buch vertiefen? Berauben wir uns damit einer Möglichkeit, der Bewusstseinserweiterung und über uns selbst hinaus zu wachsen? Manchmal etwas langatmig und zu viele Studien bemühend, hat Maryanne Wolf doch ein sehr feinfühliges und fundiertes Fach- und Sachbuch geschrieben.
Lesen - so ihre Botschaft - bringt nicht nur intellektuellen, sondern auch emotionalen Reichtum und den zu bewahren, dafür setzt sie sich ein. Es lohnt sich dieses Buch zu lesen und sich dabei selbst zu beobachten, ob man den Text einfach nur scannt, durch die Seiten blättert, sie studiert oder sich tatsächlich denkend vertieft und damit über den Text hinaus wächst.
Besprochen von Barbara Leitner
Maryanne Wolf: Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es unseren Köpfen bewirkt
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2009
350 Seiten, 26,95 Euro